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Das Echo der Schuld - Charlotte Link

Das Echo der Schuld

Roman

(Autor)

Buch | Softcover
544 Seiten
2009
Goldmann Verlag
978-3-442-46853-9 (ISBN)
CHF 13,90 inkl. MwSt
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In tiefer Nacht sinkt ein Boot vor der Küste Schottlands. Nichts als ihr Leben können die deutschen Aussteiger Nathan und Livia Moor retten. Von der Engländerin Virginia Quentin und deren Mann werden sie mit dem Notwendigsten versorgt, doch dann folgt der undurchsichtige Nathan Virginia ungebeten in das Zuhause der Familie nach Norfolk. Virginia, die ihn anfangs nur aufdringlich findet, öffnet sich ihm bald mehr als je zuvor einem anderen Menschen. Dann geschieht das Unfassbare: Virginias siebenjährige Tochter verschwindet spurlos.

Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre psychologischen Spannungsromane sind internationale Bestseller, auch Im Tal des Fuchses eroberte wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 24 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Verfilmungen, zuletzt Das andere Kind, werden im Fernsehen mit enorm hohen Einschaltquoten ausgestrahlt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt/Main.

April 1995 Im Traum sah er den kleinen Jungen vor sich. Die blitzenden Augen. Das strahlende Lachen. Die Zahnlücken. Die Sommersprossen, die im Winter verblassten und im Frühjahr mit den ersten Sonnenstrahlen aufblühten. Die dichten dunklen Haare, die so eigenwillig in alle Himmelsrichtungen abstanden. Er konnte sogar seine Stimme hören. Sehr hell, sehr melodisch. Eine weiche, fröhliche Kinderstimme. Er konnte ihn riechen. Es war ein ganz besonderer Geruch, der nur zu dem Jungen gehörte. Es war ihm nie gelungen, diesen Geruch genau zu beschreiben, weil er so einzigartig war. Eine Mischung vielleicht aus dem Salz, das der Wind vom Meer her manchmal bis weit ins Landesinnere trug und das nur noch schwach, ganz zart wahrnehmbar war. Und aus dem würzigen Duft, den die Sonnenstrahlen der Baumrinde entlockten. Aus den Gräsern, die im Sommer am Wegrand wuchsen. Manchmal hatte er seine Nase in den Haaren des Jungen vergraben, um den Geruch tief einzuatmen. Im Traum nun tat er es wieder und empfand seine Liebe zu diesem Kind fast schmerzhaft. Dann begann das Bild des strahlenden Jungen zu verblassen, und andere Bilder schoben sich darüber. Der hellgraue Asphalt einer Straße. Ein lebloser Körper. Ein kalkweißes Gesicht. Sonne am blauen Himmel, blühende Narzissen, Frühling. Er setzte sich ruckartig im Bett auf, hellwach von einem Moment zum anderen, schweißnass. Sein Herz hämmerte laut und schnell. Es verwunderte ihn, dass die Frau, die neben ihm lag und schlief, nicht wach wurde von diesem Herzschlag. Aber es war in jeder Nacht so, in jeder Nacht seit dem Unglück: Er verstand nicht, dass sie schlafen konnte, während ihn die Bilder quälten und aus den Träumen rissen. Immer die gleichen Bilder von der Straße, dem Körper, dem blauen Himmel, den Narzissen. Irgendwie machte das alles noch schlimmer: dass es Frühling war. Er hegte den völlig irrationalen Gedanken, er würde die Bilder eher ertragen, wären sie von schmutzigen Schneerändern am Straßenrand begleitet. Aber vermutlich stimmte das nicht. Er würde sie so oder so nicht ertragen. Er stand leise auf, schlich an den Schrank, zog ein frisches T-Shirt heraus. Das völlig verschwitzte, das er trug, streifte er über den Kopf, ließ es auf den Boden fallen. Er musste sein Hemd jede Nacht wechseln. Nicht einmal das bekam sie mit. Vor dem Schlafzimmerfenster gab es keine Läden, und der Mond schien, so dass er sie recht gut sehen konnte. Ihr schmales, kluges Gesicht, die langen blonden Haare, die sich über das Kopfkissen ausbreiteten. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Er betrachtete sie voller Zärtlichkeit und stellte sich gleich darauf die Frage, die er sich in jeder seiner schlaflosen Nächte stellte: Liebte er den Jungen so sehr, weil er ihre Liebe nicht gewinnen konnte? Hatte er seinen Geruch so begierig eingesogen, weil sie ungeduldig wurde, wenn er mit geschlossenen Augen an ihren Haaren, an ihrer Haut zu riechen versuchte? Hatte er sich vom Lächeln des Kindes verzaubern lassen, weil sie ihm kaum mehr ein Lächeln schenkte? Vielleicht, dachte er, ist es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Denn der Junge würde sterben. In den Nächten wusste er dies mit glasklarer Gewissheit. Tagsüber schaltete er seinen Verstand ein und sagte sich, dass es nicht so kommen musste, dass er es zumindest nicht vorhersehen konnte. In den Nächten aber, kaum aus den Träumen erwacht, sprach nicht sein Kopf zu ihm, sondern eine Stimme aus seinem Unterbewusstsein, und die ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Der Junge wird sterben. Und es ist deine Schuld. Er begann leise zu weinen. Er weinte in jeder Nacht. Die schöne blonde Frau in seinem Bett vermochte er dadurch nicht zu wecken, sie bemerkte seine Tränen so wenig wie seinen Herzschlag und sein gehetztes Atmen. Sie hatte schon vor so langer Zeit aufgehört, sich für ihn zu interessieren, dass sie kaum in der Lage sein würde, nun damit anzufangen, nur weil eine Katastrophe in sein Leben getreten war. Irgendwann, ein paar Nächte zuvor, hatte er überlegt, wie es wäre, einfach fortzugehen. Sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen: das Haus, den Garten, seine Freunde, seine vielversprechende Karriere. Die Frau, die sich nicht mehr für ihn interessierte. Vielleicht sogar seinen Namen, seine Identität. Alles, was zu ihm gehörte. Am liebsten auch die Bilder, die ihn so quälten, aber da machte er sich nichts vor: Gerade sie würde er nicht loswerden. Wie sein eigener Schatten würden sie ihm folgen, immer dort sein, wo er gerade war. Aber vielleicht konnte er sie besser ertragen, wenn er stets in Bewegung blieb, sich nie zu lange an einem Ort aufhielt, nirgendwo verweilte, keine Wurzeln mehr schlug. Man konnte seiner eigenen Schuld nicht davonlaufen. Aber man konnte versuchen, so schnell zu laufen, dass man ihr nicht ständig in die verzerrten Züge blicken musste. Vielleicht war es ein richtiger Gedanke. Wenn der Junge starb, würde er gehen. Erster Teil Sonntag, 6. August 2006 Rachel Cunningham sah den Mann, als sie von der Hauptstraße in die kleine Sackgasse abbog, an deren Ende sich die Kirche und unweit davon das Gemeindehaus befanden. Er trug eine Zeitung unter dem Arm, hielt sich im Schatten eines Baumes und schaute sich ein wenig teilnahmslos in der Gegend um. Hätte er nicht am vergangenen Sonntag an genau derselben Stelle gestanden, er wäre Rachel wohl kaum aufgefallen. So aber dachte sie: Komisch. Schon wieder der! Aus der Kirche konnte sie das Dröhnen der Orgel und den Gesang der Gemeinde hören. Gut, dort war die Messe noch in vollem Gang. Ihr blieb also noch Zeit, bis der Kindergottesdienst anfing. Donald, ein netter junger Theologiestudent, war damit betraut. Rachel schwärmte ein bisschen für Don, wie die Kinder ihn nannten, deshalb war sie gern etwas zu früh dran, um einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Don hielt seine Gottesdienste im Gemeindehaus ab. Wenn man ganz vorne saß, kam man öfter dran, hatte Rachel herausgefunden, und man durfte mehr Aufgaben übernehmen: die Tafel sauberwischen zum Beispiel, oder helfen, den Diaprojektor zu bedienen. Angesichts ihrer Verliebtheit war Rachel ziemlich begierig auf derartige Bevorzugungen.

April 1995
Im Traum sah er den kleinen Jungen vor sich. Die blitzenden Augen. Das strahlende Lachen. Die Zahnlücken. Die Sommersprossen, die im Winter verblassten und im Frühjahr mit den ersten Sonnenstrahlen aufblühten. Die dichten dunklen Haare, die so eigenwillig in alle Himmelsrichtungen abstanden.
Er konnte sogar seine Stimme hören. Sehr hell, sehr melodisch. Eine weiche, fröhliche Kinderstimme.
Er konnte ihn riechen. Es war ein ganz besonderer Geruch, der nur zu dem Jungen gehörte. Es war ihm nie gelungen, diesen Geruch genau zu beschreiben, weil er so einzigartig war. Eine Mischung vielleicht aus dem Salz, das der Wind vom Meer her manchmal bis weit ins Landesinnere trug und das nur noch schwach, ganz zart wahrnehmbar war. Und aus dem würzigen Duft, den die Sonnenstrahlen der Baumrinde entlockten. Aus den Gräsern, die im Sommer am Wegrand wuchsen.
Manchmal hatte er seine Nase in den Haaren des Jungen vergraben, um den Geruch tief einzuatmen.
Im Traum nun tat er es wieder und empfand seine Liebe zu diesem Kind fast schmerzhaft.
Dann begann das Bild des strahlenden Jungen zu verblassen, und andere Bilder schoben sich darüber.
Der hellgraue Asphalt einer Straße. Ein lebloser Körper. Ein kalkweißes Gesicht. Sonne am blauen Himmel, blühende Narzissen, Frühling.
Er setzte sich ruckartig im Bett auf, hellwach von einem Moment zum anderen, schweißnass. Sein Herz hämmerte laut und schnell. Es verwunderte ihn, dass die Frau, die neben ihm lag und schlief, nicht wach wurde von diesem Herzschlag. Aber es war in jeder Nacht so, in jeder Nacht seit dem Unglück: Er verstand nicht, dass sie schlafen konnte, während ihn die Bilder quälten und aus den Träumen rissen. Immer die gleichen Bilder von der Straße, dem Körper, dem blauen Himmel, den Narzissen. Irgendwie machte das alles noch schlimmer: dass es Frühling war. Er hegte den völlig irrationalen Gedanken, er würde die Bilder eher ertragen, wären sie von schmutzigen Schneerändern am Straßenrand begleitet. Aber vermutlich stimmte das nicht. Er würde sie so oder so nicht ertragen.
Er stand leise auf, schlich an den Schrank, zog ein frisches T-Shirt heraus. Das völlig verschwitzte, das er trug, streifte er über den Kopf, ließ es auf den Boden fallen. Er musste sein Hemd jede Nacht wechseln. Nicht einmal das bekam sie mit.
Vor dem Schlafzimmerfenster gab es keine Läden, und der Mond schien, so dass er sie recht gut sehen konnte. Ihr schmales, kluges Gesicht, die langen blonden Haare, die sich über das Kopfkissen ausbreiteten. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Er betrachtete sie voller Zärtlichkeit und stellte sich gleich darauf die Frage, die er sich in jeder seiner schlaflosen Nächte stellte: Liebte er den Jungen so sehr, weil er ihre Liebe nicht gewinnen konnte? Hatte er seinen Geruch so begierig eingesogen, weil sie ungeduldig wurde, wenn er mit geschlossenen Augen an ihren Haaren, an ihrer Haut zu riechen versuchte? Hatte er sich vom Lächeln des Kindes verzaubern lassen, weil sie ihm kaum mehr ein Lächeln schenkte?
Vielleicht, dachte er, ist es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Denn der Junge würde sterben. In den Nächten wusste er dies mit glasklarer Gewissheit. Tagsüber schaltete er seinen Verstand ein und sagte sich, dass es nicht so kommen musste, dass er es zumindest nicht vorhersehen konnte. In den Nächten aber, kaum aus den Träumen erwacht, sprach nicht sein Kopf zu ihm, sondern eine Stimme aus seinem Unterbewusstsein, und die ließ sich nicht zum Schweigen bringen.
Der Junge wird sterben.
Und es ist deine Schuld.
Er begann leise zu weinen. Er weinte in jeder Nacht.
Die schöne blonde Frau in seinem Bett vermochte er dadurch nicht zu wecken, sie bemerkte seine Tränen so wenig wie seinen Herzschlag und sein gehetztes Atmen. Sie hatte schon vor so langer Zeit aufgehört, sich für ihn zu interessieren, dass sie kaum in der Lage sein würde, nun damit anzufangen, nur weil eine Katastrophe in sein Leben getr

Erscheint lt. Verlag 8.1.2009
Reihe/Serie Goldmann Taschenbücher
Platinum Edition
Sprache deutsch
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 441 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-442-46853-1 / 3442468531
ISBN-13 978-3-442-46853-9 / 9783442468539
Zustand Neuware
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