Das zynische Wörterbuch
Reclam, Philipp (Verlag)
978-3-15-020069-8 (ISBN)
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Jörg Drews (1938 - 2009) studierte Germanistik, Anglistik und Geschichte in Heidelberg, München und London und wurde 1966 mit einer Dissertation über Albert Ehrenstein promoviert. Er war Redakteur und Literaturkritiker bei der "Süddeutschen Zeitung". Seit 1973 Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jh. an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Arno Schmidt (Hg. des "Bargfelder Bote"); Johann Gottfried Seume (1995 Gründer der Johann-Gottfried-Seume-Gesellschaft zu Leipzig); seit 1977 Mithrsg. der "Frühen Texte der Moderne"; Mitbegründer des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie; seit 2002 Vorsitzender der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden.
Nachwort Der Übermut vor allem ist es, ein gehässig-heiterer, bösartiger Übermut, der eine solche Sammlung von Zynismen entstehen lässt; schadenfreudig und hämisch, naserümpfend und von einer ziemlichen Prise Sadismus befeuert, ist man am Werk und reibt sich die Hände dabei. Aber da gibt es noch einen anderen Antrieb, ein anderes Ingrediens: Verbitterung und Enttäuschung über den Weltzustand, eine Enttäuschung, die immer wieder aufs neue genährt wird von der Betrachtung der Weltläufte und über die man nicht hinwegkommt. Wäre man ein souveräner, früher hätte man (ohne sich zu genieren) gesagt: ein 'reifer' Mensch, im emphatischen Sinn ein Erwachsener, würde man nicht mit der Adoleszentenmentalität einer Übergangserkrankung auf dem Weg zum Erwachsensein Zynismen sammeln oder produzieren und auf ihrem Wahrheitsgehalt insistieren. Aber die Erbitterung bleibt und ist nicht als Entwicklungsstörung abzutun; wenn man nicht auf den Kopf gefallen ist oder sich nicht permanent selbst etwas vorlügt, weiß man genügend Gründe dafür, den Zustand der Welt grundsätzlich grauenvoll und die Schöpfung insgesamt misslungen zu finden, und die Erbitterung darüber steigt noch, wenn man bemerkt, dass die Mehrzahl unserer Mitmenschen fest entschlossen ist, dies nicht in ihr Bewusstsein dringen zu lassen - also vielmehr entschlossen, die Wahrheit zu sabotieren. Der Übermut des Zynikers und des Zynismensammlers aber kommt auch daher, dass man mit Lust die Heuchelei, die Dummheit und die sozial verhängte gedämpfte Korrektheit verletzt, und dazu gehört, dass man sich glattweg auch noch für intelligenter hält als andere Menschen - und das darf man ja eigentlich auch nicht. Das erleichterte Gelächter bei der Lektüre einzelner Zynismen, auf die man stößt, wie auch bei der Lektüre der geballten Zynismen, die das vorliegende vorzügliche Lexikon bietet, deutet darauf hin, dass viele von uns - um nicht zu sagen: wir alle - viel boshafter und schonungsloser über die Welt und den Menschen denken, als wir dies gemeinhin zuzugeben bereit sind. Das Gelächter stammt daher, dass man lesend, sich von Zynismen ertappt fühlend, mit ihnen sich identifizierend, ohne Schaden zu nehmen und ohne Rache und Sanktionen befürchten zu müssen, sich bei der eigenen Bosheit und - philosophischer - beim eigenen wohl fundierten Pessimismus erwischt und sich erwischt fühlt, und man lacht aus blitzartigem Einverständnis mit der 'unverantwortlichen' ("Huch!", würde Walter Serner an solcher Stelle hysterisch-sarkastisch einwerfen) Bosheit in Zynismen, und man genießt die erzählökonomische Kürze von Behauptung und Formulierung in Zynismen, ähnlich wie man Kürze und Pointiertheit von Witzen genießt, die ja auch einerseits Komplexität reduzieren und zugleich auf komprimierteste Weise differenziert sind. Doch Zynismen sind eben nicht einfach nur gekonnte Bosheiten. Man mache die Probe aufs Exempel: Erkennbar dumme und plumpe Zynismen wirken nicht, sind eher peinlich, fallen flach hin wie ein missratener Witz, wie eine missglückende Pointe. Und das heißt: Gute Zynismen sind nicht einfach l'art-pour-l'art-Produkte, sind nicht bloß leer-böse brillant, sondern haben etwas mit Erkenntnis zu tun, mit - gewissermaßen: - einseitiger, nicht 'ausgewogener' Erkenntnis, aber eben doch damit, dass etwas an der Wirklichkeit oder an einem Sachverhalt wirklich verstanden und auf den Punkt gebracht ist. Die meisten Zynismen sind nicht einfach 'geistreich', sondern sind harte Wahrheiten, sind der Ausdruck dessen, dass da einer sich kein X für ein U vormachen lassen will und da einen Spaten einen Spaten nennt, wo andere immer von einem Schäufelchen reden. Alle Idealisierung und Verharmlosung will der Zyniker verletzend schroff von sich abtun. Es mag ja sein, dass "political correctness" zur Zähmung und Dämpfung von Aggressivität eine vernünftige soziale Funktion hat oder hatte; vielleicht gibt es übertriebene und dennoch historisch notwendige Einübungen in zivilisierteres Verhalten. Zynismen aber sind dann die so freche wie kultivierte Kehrseite des Zwanges zu politisch-sprachlichem Wohlverhalten, kultiviert, weil die Aggressivität hier nicht plump und dumpfbackig ist, sondern geschliffen, und das heißt dann auch: ästhetisiert, in gewissem Maße sogar: ironisiert. Leugnet man die boshafte, die aggressive Komponente des Zynismus, so entschärft man ihn zu sehr. Das Gelingen eines Zynismus hängt davon ab, dass ein Stück böser Aggressivität erhalten bleibt und ungezähmt ins Amalgam von Erkenntnis, Ernst und Unernst eingeht; die intelligente Zurücknahme der Boshaftigkeit darf nicht zu früh erfolgen. Glaubt man aber nur an die Wahrheit der finsteren Härte und Bodenlosigkeit des Zynismus, so wird die Sache wieder zu monoton; Zynismen sind nur dosiert erträglich bzw. verlangen nach immer bizarrerer Steigerung, ähnlich wie die Sadosexismen des göttlichen Marquis de Sade. Es muss geschnitten und gestochen werden in den Zynismen, aber es darf keine Toten geben; der Witz in der Formulierung muss noch dem schärfsten Stoß etwas Spielerisches, eben: etwas Ästhetisierendes geben. Es dreht sich nicht ums Hacken mit einem Schwert, sondern ums verletzende, aber nicht tödliche Stechen und Schneiden mit einem Florett. Man sollte - das hat uns damals, vor 25 Jahren, Peter Sloterdijk in seiner Kritik der zynischen Vernunft gelehrt - Kynismus von Zynismus unterscheiden: Kynismus wäre jene Variante des ungescheuten Die-Wahrheit-Sagens, die im Grunde der Erkenntnis verpflichtet und ein Ingrediens allen aufgeklärten bzw. aufklärerischen Denkens ist - Rudolf Augstein, der auf die Frage nach seiner Lieblingstugend einst als Aufklärer antwortete: "Zynismus", wäre in diesem Sinne ein Kyniker; Zynismus aber wäre gegründet entweder in kältester Menschenverachtung oder in bodenlosem Pessimismus. Die Grenze dürfte schwer zu ziehen sein - siehe Nietzsche, siehe Walter Serner, siehe - weit vor den beiden - den Marquis de Sade. Vielleicht scheuen wir vor der Erkenntnis, die in vielen Zynismen steckt, nur zurück, weil sie so grausam ist, dass man damit nicht leben kann - und leben wollen wir doch alle, oder? Ohne Aggressionsabfuhr aber, ab und zu, und ohne Betäubungen diverser Art, in glasklarer Nüchternheit kann man nicht leben. Rückblickend auf das 20.Jahrhundert kann man eigentlich nur in Zynismus oder in Trauer verfallen. Entweder senkt man den Kopf ob so vieler Täuschungen und Enttäuschungen des vergangenen Jahrhunderts, so vieler Anläufe, die schief gingen, so vieler geplatzter Illusionen, rutscht also in eine depressive Position. Oder man gibt zu, dass die Summe des 20.Jahrhunderts anthropologisch eigentlich nur den größten Zynismus rechtfertigt. Unser Wissen vom Menschen, nach diesem 20.Jahrhundert, deutet darauf hin, dass er von Natur nicht nur nicht 'gut' ist, sondern nicht einmal 'gemischt', vielmehr des Allerschlimmsten fähig, und dass wir mit Ausbruch dieses Allerschlimmsten immer rechnen müssen. Dies sich - um der Illusionslosigkeit, sprich: der Wahrhaftigkeit willen - immer bewusst halten zu müssen verlangt einige psychische Stabilität, aber was ist denn jetzt eigentlich noch zynisch an dem Satz des Henkers Sanson: "Die Erfindungskraft des Menschen in Angelegenheiten der Grausamkeit übersteigt die Phantasie des Teufels." ? Trost gibt es hier nicht, aber es gibt natürlich das intellektuelle Vergnügen daran, mit durchdachten Zynismen einen Teil der Wirklichkeit sprachlich auf den Punkt gebracht zu haben und dabei notfalls auch zwerchfellerschütternd zu übertreiben. Vielleicht kommt es heute bei einer illusionslosen Existenz vor allem darauf an, alle Illusionen verloren zu haben - denn eine Illusion ist eine Täuschung, also eine Form der Unwahrheit - und dennoch nicht einfach zum Feind, also zur Resignation und/oder zu allen Arten von Gleichgültigkeit gegenüber Grausamkeiten überzulaufen. Die Balance wäre vielleicht: zynisch denken zu können, illusionslos, unverblümt, aufs Schlimmste gefasst, auf keinen Fall sich selbst belügend und auch nicht mit weichen Knien irgendwelchen Trost herbeiflehend - und dann dieser Kälte und Härte doch nicht das letzte Wort zu lassen, indem man vor allem die eine Option sich nicht abmarkten lässt: dies alles auch schreiend komisch zu finden, einschließlich unserer selbst. Lesend und schreibend verschafft man sich Luft und damit neue Lust, indem man dem Zyniker oder Kyniker in sich freien Lauf lässt, und stoisch beobachtet man, wie Destruktivität die Voraussetzung für neue Konstruktivität sein kann. So viel zur 'Philosophie' hinter diesem Wörterbuch. Bei seiner Zusammenstellung herrschte aber natürlich, wie gesagt, nicht nur melancholischer Furor und schmallippiger Ernst, sondern frecher Spaß vor, dominierte das nicht endende Vergnügen darüber, dass es andere Köpfe gibt, die auch eine unbezähmbare Lust daran haben, 'unsozial', schlecht sozialisiert, ungezogen, unverantwortlich, boshaft sich zu äußern, die Moral Moral sein zu lassen und einfach einmal kalkuliert-unkalkuliert das Nichtsublimierte herauszulassen, das Ventil zu öffnen, damit der Überdruck, den die permanente sozialmoralische und optimismusorientierte Kontrolle in uns erzeugt, abziehen kann. Falls jemand auf Tröstungen und Rechtfertigungen Wert legt: Zynismen können im Gesamthaushalt eines Individuums wie einer Gesellschaft psychohygienische Funktionen haben; mit anderen Worten, ein Mensch, der zugibt, dass er auch ein wildes Tier in sich hat, ist wahrscheinlich weniger in Gefahr, sich wie dieses Tier zu benehmen, als einer, der aus Dummheit oder Heuchelei dies Tierische in sich selbst nicht wahrhaben will. Zynismen künden davon, dass wir viele Gedanken und Wünsche und Erkenntnisse haben, die nicht salonfähig sind und die wir uns und anderen nicht eingestehen dürfen (oder nur, wenn wir sie künstlerisch überarbeiten bzw. verkleiden), oft nicht einmal uns selbst gegenüber, denn wir sind selbst die noch größeren Heuchler als die anderen, die 'Gesellschaft'. Ich zum Beispiel hasse Hunde wie W.C.Fields, ich möchte den Hund meines Nachbarn wörtlich erschießen wie Stanislaus Joyce (na ja, jedenfalls bisweilen), und wie Heinrich Heine wäre es mir ein tiefes Glück, etwa ein halbes Dutzend meiner Feinde an einem Baum baumeln zu sehen. Ich könnte sogar genau angeben, wen ich meine. Allerdings gefällt der Tötungswunsch eben doch nur auf dem Papier. Diese Sammlung hier soll dazu dienen, mit Nachdruck, vorbehaltlos und doch spielerisch jene Dränge in uns, dem Herausgeber und den Lesern, auszuloten, hinter denen einerseits eine hemmungslose Aggressivität und andererseits eine radikale Einsicht in das tief Fragwürdige der Schöpfung und des Menschen steht. "Das beste Buch", sagt Walter Serner, dem eine konsequent zynische Weltauffassung so viel verdankt, in seinem Handbrevier für Hochstapler, "ist das unterlassene." In gewissem Sinn ist das Endgültige zynische Wörterbuch ein solches "unterlassenes" Buch; es prätendiert nicht Kreativität, es besteht nur aus Zitaten, und ich hoffe, es weht Sie, lieber Leser, sowohl eine eisige Kälte als auch eine giftige und halkyonische Heiterkeit daraus an. Die Wahrheit hat es nicht an sich, dass sie angenehm und tröstlich ist, sondern sie hat es per definitionem nur an sich, die Wahrheit zu sein. Das Gelächter aber, welches das Aussprechen so vieler 'zynischer' Wahrheiten begleitete und bis heute begleitet, kann sowohl befreiend und versöhnend wie auch die Ungetröstetheit besiegelnd sein. Entscheide jeder Leser, welche Art von Gelächter er anstimmen will bei der Lektüre dieser Zynismen. Sie verdanken sich einem aggressiven Weltschmerz und sind vor allem Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn und Walter Serner verpflichtet, wenn sie nicht gar von diesen drei unserer Verehrung würdigen großen und freien Geistern stammen.
Reihe/Serie | Reclam Taschenbuch ; 20069 |
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Sprache | deutsch |
Maße | 120 x 190 mm |
Gewicht | 166 g |
Einbandart | kartoniert |
Themenwelt | Literatur ► Aphorismen |
Schlagworte | Lexikon • Nachschlagewerk • Philosophie • Taschenbuch / Belletristik/Aphorismen • TB/Belletristik/Aphorismen • Wörterbuch • Zynismus |
ISBN-10 | 3-15-020069-5 / 3150200695 |
ISBN-13 | 978-3-15-020069-8 / 9783150200698 |
Zustand | Neuware |
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