Knochenwald
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-442-36850-1 (ISBN)
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Mord und Reliquienhandel, Pilgersehnsucht und Aberglaube, ein Fischkopp in Bayern und eine verschwundene Goldschmiedin
Bayern 1392: Eigentlich ist der bärbeißige Lübecker Patrizier Rungholt auf Wallfahrt zu den heilsamen Reliquien in München. Doch der Weg zur Absolution ist äußerst mühsam, und so kommt Rungholt ein Auftrag reicher Münchner gerade recht: Er soll die vermisste Frau eines Goldschmieds finden. Eine harmlose Bitte – mit tückischen Nebeneffekten, denn die Spuren führen nicht nur bis in die Residenz zu Johann II von Bayern, sondern auch zu den Mönchen, die die verehrten Reliquien hüten. Und sie führen vor die Tore der Stadt, dorthin, wo den Gerüchten nach, Jungfrauen entführt werden und sich Unheimliches tut in einer alten Mühle im Knochenwald …
Rungholts 3. Fall führt den sturschädeligen Lübecker Ermittler bis nach Bayern.
Nominiert für den »Glauser«-Krimipreis!
Derek Meister wurde 1973 in Hannover geboren. Er studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg und schreibt erfolgreich Serien und abendfüllende Spielfilme fürs Fernsehen. Seit seinem ersten, für den Glauser-Krimipreis nominierten historischen Kriminalroman Rungholts Ehre hat er bereits vier weitere historische Kriminalfälle rund um den bärbeißigen Ermittler Rungholt verfasst. Derek Meister lebt mit seiner Familie in der Nähe des Steinhuder Meers.
Der alte Bärbeiß Rungholt ist in Höchstform. Und sein Schöpfer, Derek Meister, hält wieder was sein Name verspricht. Klasse Historienkrimi.
Prolog Verkrüppelte Fichtenstämme schlugen dem Lichtfuchs entgegen. Der Mond wischte mit bleichem Licht hinter den Ästen vorüber, erweckte Schatten zum Leben. Dario hörte Leder reißen und sah seine Kisten vom Pferderücken rutschen und klatschend im Nassen landen. Für einen hektischen Moment befürchtete er, auch sein Weib könne vom Pferd gerissen werden. »Hast du dich verletzt?« »Nein. Schneller.« Dario trat dem schweren Hengst in die Seite. Er spürte, wie das Tier trotz der umgehängten Leinensäcke noch einmal an Geschwindigkeit gewann. Das Pferd schnaubte vor Anstrengung. »Ist er noch hinter uns?« Dario riss seinen Kopf zur Seite, doch die gedrungenen Bäume versperrten ihm die Sicht. »Wir müssen im Wald bleiben. Wenn wir es bis zum See schaffen ...« »Da! Siehst du ihn? Dario, rechts!« Erschrocken blickte Dario zur Seite und erkannte nur einige Lidschläge lang den Schatten eines schlanken Reiters. Der Mann beugte sich im Galopp hinab, um nicht von einem der Äste getroffen zu werden. Keine fünf, sechs Klafter neben ihnen. Als das Gestrüpp lichter wurde, erkannte Dario mehr: Der Unbekannte ritt beinahe mit ihnen gleichauf, er hatte einen Lederpanzer umgeschnallt und steckte soeben sein Schwert zurück in den Gürtel, um mit beiden Händen die Zügel fester greifen zu können. Und plötzlich erschien es Dario, als lächle der Mann ihnen zu, als verhöhne er sie beide mit einem Grinsen. Doch dann wurde Dario bewusst, dass es keine Zähne waren, die er im Mondlicht hatte aufblitzen sehen, sondern der Stahl einer Klinge. Erneut gab Dario dem Lichtfuchs die Hacken, er konnte spüren, wie sich der Griff seiner Geliebten in seinem Wams verkrampfte, während der Hengst über morsche Baumstämme sprang. Dario wurde nach vorne gerissen, als das Pferd knöcheltief im Morast landete. Verzweifelt klammerte sich Dario an die Mähne und schrie seiner Geliebten zu, nur nicht loszulassen. »Was tut er?« Dario versuchte, einen Blick auf den Mann zu erhaschen, doch ein Ast peitschte seine Wange und riss sie auf. »Ich weiß nicht!« Ihre geschriene Antwort vermischte sich mit dem Schnauben des Hengstes und dem Hämmern seines Herzens. Das Tier galoppierte zwischen Fichten und Erlen hindurch, sprang über ein hüfthohes Gebüsch, und mit einem Mal waren sie nicht mehr im dichten Wald. Schlagartig hatten sich die Bäume gelichtet, und nur noch wenige Birken, gedrungene Weiden und die verfaulten Stämme von umgeknickten Erlen des Bruchwaldes staken aus dem Morast. Der Hengst preschte hinaus auf die Fläche des Bruchs und hinein in Farne und Riedgräser. Dario spürte, wie das schwere Tier bei jedem Schritt einsank, er riss die Zügel zurück und verhinderte mit knapper Not, dass das Pferd stürzte. Wasser spritzte bei jedem Schritt auf. »Wir müssen zurück«, rief sie. »Dario, bitte!« Sie hatte ja recht, aber was sollte er tun? Ihrem Verfolger direkt in die Klinge laufen? Nervös sah Dario sich noch einmal um. Dort hinter den moosbewachsenen Weiden - kaum im blauen Mondlicht vor der dunklen Wand des Waldes zu erkennen - huschte er entlang. Doch der Schatten hielt sich hinter den Bäumen und folgte ihnen aus irgendeinem Grund nicht. Ein jähes Aufblitzen. War es das Blitzen der Klinge, die bereits ... »Ich weiß, ich weiß! Wir ... Ich ... Ich versuche, dort rüberzureiten!« Dario hatte eine kleine Insel aus Büschen im Moor ausgemacht und lenkte den Lichtfuchs darauf zu. Fluchend blickte er auf die Beine des Pferdes hinab. Der Hengst hatte Mühe, die Hufe aus dem Schlick zu ziehen. Etwas traf den Hals des Hengstes und blieb stecken. Das Tier scheute und quiekte wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Dario wollte nach dem Ding greifen, es dem Pferd herausziehen, aber der Hengst stieg so stark in die Höhe, dass ihm die Zügel aus der Hand gerissen wurden. Plötzlich spürte Dario einen Stich in seiner Seite. Eine Spitze hatte auch ihn getroffen. Ein Wurfmesser. Er griff danach, brach es aber beim Herausreißen ab und schrie auf. Stark blutend versuchte er panisch, das Gleichgewicht zu halten, doch er rutschte zurück, traf auf seine Geliebte und spürte im selben Moment, wie auch sie den Halt verlor. Schreiend stürzten die beiden über die Kruppe des Pferdes. Dario sah noch, wie seine Frau im Morast aufschlug, dann wurde er nach vorne gerissen. Sein linker Fuß! Er steckte noch immer im Steigbügel. Mit einem Ruck wurde er herumgeschleudert, schleifte einen, zwei, drei Klafter über den schlammigen Untergrund, bis der Hengst sich in Todesschmerzen erneut aufbäumte und fiel. In Darios Richtung! Das Tier drohte ihn zu begraben, so wie es mit einer einzigen Bewegung herabsackte und ihm die Vorderläufe einknickten. Der schwere Bauch des Pferdes stürzte Dario entgegen. Der Aufprall war gewaltig und brach Dario die Beine. Er schrie vor Schmerz auf, auch weil das Tier im Todeskampf nicht aufhörte, sich zu bewegen, und immer wieder vergeblich versuchte, sich aufzurichten. Dann erstarb alles Schnauben. Der Lichtfuchs war tot. Lediglich Darios Schreie hallten über die Ebene. Er wagte erst nicht, sich unter dem Pferd zu bewegen, und langsam wurden die Schmerzen zu einem dumpfen Pochen. Das kalte Nass umschloss seine Beine. Es dauerte lange, bis er sie doch unter dem schweren Pferd hervorgezogen hatte. Er versuchte, voranzurobben zu seiner Geliebten, aber der Morast war zu gierig. Mit dutzender Männer Hände zog er an ihm. Der Moorgriff war unbeugsam. Schmerzverzerrt versuchte er, sich auf die Seite zu rollen, sich abzustützen, doch der Schlick gab unter seinen Händen nach. Er hörte seine Geliebte. Wo war sie? Panisch sah er sich um, doch sie war bereits im Morast versunken. Nur ihre Schulter und ihr Kopf blickten noch aus dem Dreck. Er wollte rufen, aber nichts drang aus seiner Kehle, denn das Moor presste ihm bereits den Brustkorb zusammen. Panisch versuchte er, sich an einem Moosgeflecht festzuhalten, sich irgendwie herauszuziehen, und versank noch tiefer. Seine letzten Blicke streiften den Waldrand. Der Mond. Die Krüppelfichten. Die Schatten. Zu dem schlanken Mann, der sie angegriffen hatte, traten drei weitere Gestalten. Sie alle blieben am Waldrand zwischen den Fichten und stakenden Baumleichen stehen und starrten auf das Moor hinaus. Diesmal drang tatsächlich ein Laut aus Darios Kehle. Ein lautes stöhnendes Krächzen, das sich Rabenrufen gleich zwischen den verkrüppelten Bäumen verfing, bevor es in der Schwärze des Waldes gänzlich verstummte. Ich hör die Bächlein rauschen Im Walde her und hin Im Walde in dem Rauschen Ich weiß nicht, wo ich bin. Joseph v. Eichendorff 1 München, Juli 1392 Ein Meer aus Leibern. Wie ein Fass auf hoher See wurde Rung-holt über den Münchner Markt getrieben. In Wellen schoben ihn die Pilger über den sandigen Platz mit Buden und Ständen. Das Gedränge ließ ihn nach Luft schnappen. Jemand rammte ihm einen Ellbogen in die Seite, und Rungholt fuhr herum, um den Mann zu packen, doch kaum war er aus dem Tritt, stieß ihm ein anderer Pilger die Schulter in den Rücken. Arme rieben an Rungholts Bauch entlang, unangenehmer Atem hauchte in seinen Nacken. In Sorge um seine Geldbeutel strich er unauffällig seinen Dupsing entlang. Sie waren noch alle da. Ich ersaufe noch in diesem stickigen Gebräu aus Sündern, dachte Rungholt. Verfluchte Pilger! Verdammte Brut. Es sind zu viele Menschen hier. Diese Stadt platzt aus allen Nähten wie das Wams eines gefräßigen Bäckers. An diesem frühen Morgen des Jubeljahres 1392 glich München einem einzigen Volksfest. Von überall her waren Pilger in die Stadt geströmt, denn nachdem man auf dem Andechser Berg lang verschollene Heiligenreliquien gefunden hatte, war von Papst Bonifaz IX. ein Gnadenjahr ausgerufen worden. Das erste Jubeljahr außerhalb Roms. Der Pilgerweg nach München war dieser Tage gnadenvoller als der beschwerliche Weg über die Alpen nach Rom oder über die Pyrenäen nach Compostela. Er wischte sich das Gesicht und wurde, dem Strom ausgeliefert, weiter über den Schrannenplatz geschubst. Er stolperte über ein Ferkel, das quiekend durch die Menschen flitzte. Anstatt dass er fiel, schob ihn die Menge jedoch einfach weiter. Wegen der unzähligen Wallfahrer und Marktbesucher konnte er keine zehn Klafter weit sehen, geschweige denn den kleinen Hügel hinauf zur Peterskirche, die er nun besuchen wollte. Die Kirche auf dem Petersbergl erinnerte Rungholt an St. Jakobi, die kleine Kirche auf dem Lübecker Koberg. Auch wenn er zugeben musste, dass Sankt Peter wesentlich beeindruckender war als die kleine Kirche, bei der er zur Schule gegangen war. Mehr als fünfzig Klafter ragte ihr verputzter Turm in den blauen Himmel. Sechs Jahre war es erst her, seitdem man die gotischen Doppeltürme des Westwerks abgeschrägt und zu einem einzigen Turm verbunden hatte. Wie Lübeck hatte auch München ein großer Brand heimgesucht. Er hatte mehr als ein Drittel der Stadt vernichtet und auch vor Sankt Peter mit seinen beiden Türmen nicht Halt gemacht. Noch immer war die Südseite mit einem Holzgerüst versehen, doch auf den schmalen Brettern, die in schwindelnder Höhe um den Turm mit seinen beiden spitzgiebeligen Helmen gebunden worden waren, herrschte Ruhe. Rungholt legte den Kopf in den Nacken und schirmte seine Augen vor dem Licht ab, aber er konnte keine Arbeiter entdecken. Dafür trat ihm ein Trottel von zahnlosem Knecht auf seinen rechten Schnabelschuh, und bevor Rungholt fluchen konnte, wurde er weiter Richtung Eingang getrieben. Am Eingang der Kirche brüllte eine Vettel ihm Preise für ihre Gänseeier entgegen. Im Durcheinander aus Pilgern, Wachen und Bauern konnte er ihre verdreckte Heuke riechen, die bereits in Fetzen von ihren Schultern fiel. Er spürte, wie die Streitsucht in ihm aufstieg. Das alles war zu viel für ihn. Sein Hintern brannte. Das grobe Leinen seiner Bruche, die er als Unterkleid umgeschlungen hatte, scheuerte an seiner Haut, und bei jedem Stoß, bei jedem Schritt schien der Stoff wie splittriges Holz über sein offenes Fleisch zu fahren. Das verfluchte Unterkleid trieb ihm die Tränen in die Augen, so schmerzhaft rieb es an den aufgeplatzten Blasen. Der Lohn für zwei Wochen Fahrt in einem Holzwagen. Schnaufend wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und versuchte, die Bruche von seinem Hintern wegzuzupfen, doch die Menschen ließen kaum eine Bewegung zu, und er war zu fett, um mit seiner Hand an die wunde Stelle zu kommen. Endlich wurde es kühler. Rungholt war im Tross der Pilgermasse durch das Tor getreten. Schwerer Geruch von Weihrauch umhüllte ihn. Wie klebriger Nebel hing er im Langhaus und in den niedrigen Seitenschiffen der Basilika. Überall knieten Pilger. Einige rutschten auf dem Bauch liegend über den Boden, andere hatten sich in die kleinen Altarnischen zurückgezogen. Der Geruch von Wachs und Feuer vermischte sich mit dem des Weihrauchs. Ein stetes Gemurmel erfüllte den Saal und schallte zwischen Pfeilerreihen hin und her. In den verzierten Durchgängen des Lettners konnte Rungholt eine Schar Kinder sehen, die festlich gekleidet den Hochaltar in der Apsis aus gebührendem Abstand bestaunten. Die meisten Pilger hatten sich indes in einer Schlange an der Seite aufgestellt. Sie wollten spenden und so eine der vielen Stationen abschließen, die sie auf dem Weg zur Absolution zu absolvieren hatten. Um die Absolution zu erhalten, hatte Rungholt eine Woche in der Stadt zu verweilen und musste mindestens einmal vor den Andechser Reliquien beten. Außerdem musste jeder Pilger dreimal in die vier Kirchen Münchens gehen und dort Almosen geben. Rungholt, der in München fremd war, hatte sich von seiner Tochter Margot erklären lassen, wo die Kirchen waren und wie sie hießen. Rungholt hatte in den letzten zwei Tagen bereits die Jakobskirche und die Frauenkirche besucht. Rungholts Blick fiel auf Jesu, doch er ruhte nur kurz auf dem bemalten Corpus Christi, der als große Holzfigur an einem mächtigen Triumphkreuz hing. Zu viele Kreuze hatte er in den letzten drei Tagen in München gesehen, zu viele Jesusschnitzereien, Kruzifixe und Wandbilder, als dass der Anblick des gepeinigten Gottessohnes ihn noch hätte berühren können. Nach dem stundenlangen Anstehen und dem Gedränge wollte Rungholt nur eines: ein Bier. Er wollte endlich seine Almosen geben, kurz beten und dann in eines der Brauhäuser, um seinen Durst zu löschen. Ohne ein weiteres Gebet ging Rungholt zwischen einer Traube Messdiener hindurch und folgte den Pilgern, die sich anstellten, um ihr Almosen abzuliefern. Unablässig steckten die Wallfahrer Münzen in den bereits völlig abgegriffenen, hüfthohen Eichenstamm, den man an einen Pfeiler des Hauptschiffes gestellt hatte. Er war ausgehöhlt und mit Kreuzen verziert worden. Ein schweres Eisenschloss verriegelte einen armlangen Schieber. Als Rungholt einen weiteren Schritt auf den Gotteskasten zutrat, konnte er erkennen, dass die Priester den Opferstock mit einigen Steinen auf der Rückseite erweitert hatten. Wahrscheinlich wäre der Stamm auch bald übervoll gewesen. Kaum hatte Rungholt sich angestellt, da ging ein Raunen durch die Menge. Die Wallfahrer kamen in Bewegung. Mägde tuschelten, reiche Patrizierinnen bekreuzigten sich geflissentlich, Kinder wurden festgehalten, und alle wandten ihre Köpfe einer kleinen Prozession zu. Zwei Ministranten schwenkten Weihrauchfässchen, zwei trugen Holzkreuze. Ihnen folgten ein Bischof und drei Priester. Ihre kostbaren Pluviale leuchteten im Sommerlicht, das durch die Türen fiel und sich im Weihrauch fing. Dann kam Herzog Johann II. Während der alte Mann seine Wallfahrer mit einem Lächeln bedachte, redete ein hochgewachsener Mann, der ihn stützte, leise auf ihn ein. Rungholt fiel es schwer, seinen Blick von den Lippen des hageren Geistlichen zu nehmen, denn der Chorherr aus Andechs, wie Rungholt die Mägde hinter sich tuscheln hörte, schien in diabolischer Sprache zu reden. Es kamen nur Knurrlaute aus seiner Kehle. Ein tierisches Brummen und Schmatzen. Erst nachdem die Prozession einige Schritte weitergegangen war, bemerkte Rungholt seinen Fehler: Hinter dem Chorherrn führten zwei Männer ein Biest an Eisenketten durch die Menge. Unwillkürlich wich Rungholt einen Schritt zurück. Er hatte ein solches Wesen noch nie gesehen und kannte sie lediglich von Wappen. Aber diese Kreatur lebte. Ruhig trottete das Tier hinter Johann und den Geistlichen her, während sich ihm eine Nachhut aus Ratsmitgliedern anschloss. Der Löwe war schon alt, sein zerzauster Pelzkragen verfilzt, aber dennoch zeichneten sich unter seinem Fell die Muskeln beeindruckend ab. Rungholt stockte der Atem, als das Tier plötzlich sein riesiges Maul aufriss und daumenlange Reißzähne entblößte. Mägde und Ratsfrauen schrien auf, selbst einige der Wallfahrer wichen erschrocken zurück. Zwei Weiber fielen unweit von Rungholt in Ohnmacht, und es hätte nicht viel gefehlt, und eine Panik wäre unter den Pilgern ausgebrochen. Die zwei Männer hatten das Tier jedoch gut im Griff, und Rungholt bemerkte, dass die Kreatur nicht kämpfen wollte, sondern wohl nur friedlich gegähnt hatte. Nicht einmal ein Bullenbeißer kann diese Katze töten, dachte Rungholt entsetzt. Hier im Süden herrschen die Katzen über die Hunde. Unfassbar. Der Schurrmurr herrscht in den Gassen und Kirchen Münchens. Die Prozession erreichte den Lettner. Kaum waren Johann, der Chorherr, die Bischöfe und die Ministranten durch den Bogen getreten und auf der anderen Seite verschwunden, lösten sich erste Pilger aus der Schlange. Neugierig strömten die Massen zum Lettner, bekreuzigten sich und flüsterten Gebete. Selbst die Vikare und Commendisten, die in den Kapellen die Memoria beteten, hatten ihre Arbeit unterbrochen. Endlich sah Rungholt eine Chance, näher an den Opferstock zu gelangen. Er schob sich an zwei Wallfahrern vorbei, die nur Augen für Johann II. und die Bischöfe an seiner Seite hatten, und erreichte den Eichenstamm. Aber als er nach einem seiner Geldbeutelchen griff, die er am Gürtel trug, spürte er eine fremde Hand unter seiner Heuke. Einen Augenblick war er vor Schreck wie erstarrt, dann riss Rungholt den Kopf herum und blickte in das Gesicht des Zahnlosen, der ihm auf die Stiefel gestiegen war. Als habe man ihm kaltes Wasser über den Kopf gekippt, stand Rungholt einen Moment reglos da, bis er begriff. Mit einer jähen Bewegung riss der Knecht einen von Rungholts Beuteln vom Gürtel. Er wollte fliehen, doch Rungholt gelang es, dem Mann einen Stoß zu geben. Der Dieb strauchelte, prallte gegen die Gaffer, die noch immer Johann und der Prozession zusahen, und riss einen Mann mit zu Boden. Rungholt lief los, kam aber wegen seiner Leibesfülle nicht recht in Schwung. Er spürte seine Gelenke von der abrupten Bewegung knacken und sah vor sich, wie der Dieb abrollte und wieder auf die Beine kam. Strauchelnd versuchte der Mann, sich zwischen die Pilger zu zwängen, in der Masse aus Wallfahrern und Gesindel unterzutauchen. Mittlerweile war Rungholt fast hinter ihm. Anstatt sich zwischen den Menschen hindurchzuzwängen, rannte er die Wallfahrer einfach um. Dabei brüllte er vor Zorn und rammte sich mit Ellbogen und Schulter den Weg frei. Keine Armeslänge entfernt kämpfte sich der Dieb durch die Menschen, wie eine Forelle sich gegen den Strom schlängelt.
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2008 |
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Reihe/Serie | BLA - Allgemeine Reihe |
Sprache | deutsch |
Maße | 135 x 206 mm |
Gewicht | 498 g |
Einbandart | kartoniert |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Deutschland, Lübeck, Mittelalter , Rungholt-Reihe • Historische Kriminalromane |
ISBN-10 | 3-442-36850-2 / 3442368502 |
ISBN-13 | 978-3-442-36850-1 / 9783442368501 |
Zustand | Neuware |
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