Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Abscheu (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
218 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-8040-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abscheu -  R.S. Harras
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
(CHF 7,80)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Einzelgänger Ezequiel hat seinen lebensgefährlichen Unfall verdrängt. Das Irrationale bricht als Bedrohung ein; er wird sich selbst fragwürdig und fremd, unterliegt dabei Selbstzerstörungstendenzen. Dämonen verfolgen ihn in Überblendungen von realen Wahrnehmungen und Imaginationen. "Nicht erschrecken", sagt der Fremde. "Ich suche nur nach passenden Motiven, die das verzehrende Streben ins Leere schön zum Ausdruck bringen." Gegen heftigen Widerwillen und Verachtung wird ein innerer Kampf erzeugt, welcher sich zugleich nach außen auswirkt. Das Gespür, seine Basisidentität schützen zu wollen, wächst; aber auch das Eskalationspotenzial: Machtkämpfe auf der Arbeit, Ekel, Aversion gegen Routine, Hierarchien und Prestigewahn. Der Lebendigkeitsentzug treibt ihn zur Eliminierung von karrieristischen Rollenbildern und in ein schöpferisches Dasein.

R.S. Harras, Jahrgang 1978, lebt in einer Stadt am Niederrhein. Der studierte Sozialwissenschaftler arbeitet seit 2008 als Sozialberater, Case-Manager und Dozent.

Die Holzskulptur


Krachend aufbrechende Presslufthämmer. Kränkliches Gehuste des Nachbarn, eine Etage tiefer, Hecheln seiner übergewichtigen Ehefrau im Treppenhaus, ihre Klagen auf Platt in der Wohnung. Teenagergestöhne und hysterische Anfälle des jungen Stechers im Haus nebenan. Störende Werkeleien mit den deponierten Elektrogeräten im Innenhof. Angriffe von Frau Horvaths dreckigem Lachen durch den Spalt ihrer Balkontür. Ezequiels Kündigung der Wohnung liegt seit Tagen auf dem Küchentisch.

Ohne Eile öffnet der Marihuana-Dealer, mit Bedacht, die Tür des Cafés, verschafft sich beim Eintreten schnell einen Überblick, bleibt kurz neben dem Eingang vor dem Ladenfenster auf den Tisch fixiert; Ezequiel sitzt dort alleine und beobachtet die Straße. „Da sitzt er ja wieder, mein Schätzelein“, sagt der Dealer hämisch, bestärkt von einem Gesichtsausdruck wie beim Vorsprechen im Theater für die Rolle des Mephisto. „Du siehst nicht gut aus. Lust auf eine Partie Schach?“ Ezequiel weist leblos mit der Handinnenfläche auf den freien Stuhl gegenüber, bereit für eine zeitlich begrenzte Ablenkung vom eigenen Drang, den wachsenden Abscheu mit Brandy zu betäuben. Während der Partie sammelt der Dealer, stets um Neutralisierung der Außenwirkung bemüht, die vereinzelten Anfragen einiger Gäste und zieht sich zwischendurch in den Toilettenraum zurück, wo er sich minutenlang aufhält, Marihuanapäckchen in Klopapierrollen stopft. Ein ominöser Händedruck folgt; der Wirt schaut duldsam zu. Die Ruhephase wird von einem jungen Mann unterbrochen. Der Dealer erwähnt eine Bäckerei in der Nähe, schwärmt, spricht seine Empfehlung aus, weist leise auf den weißen Wagen hin, überreicht einen Schlüssel und legt Verhaltensregeln für die Transaktion im Wagen fest. „Und wichtig: keine Hektik. Bitte, kein vollgerotztes Taschentuch.“ Seine Dame ist gefährdet, ein kurzer Blick: „Ach Schätzelein, war ich etwa nicht aufmerksam genug? In dem Fall ziehen wir uns vornehm zurück.“ Ezequiels Konzentration lässt nach. So löst er seinen Blick vom Schachbrett, wendet ihn in die Tiefe des Raumes. Eine junge Frau sticht sofort ins Auge. Sie sitzt schräg gegenüber, am benachbarten Tisch. Ihre laszive Ausstrahlung besteht aus der Kombination ihres sehr unterkühlten Gesichtsausdrucks, ihren langen dunkelbraunen Haaren, schwarzen Augen und schlankem Körper, der durch das auberginerote, eng angelegte Kleid betont wird. An ihrer Seite fällt der junge Mann, mit langer dunkelblond gelockten Haarpracht und einer hellbraunen Wildlederuniform mit Fransen, durch seine Gehemmtheit auf. Beide halten mit angespitzten Fingern ihr Sektglas und schauen sich dabei tief und stumm in die Augen. Als der junge Mann lächelt, löst sich das verkrampfte Gesamtbild. „Ich mache mir langsam Sorgen“, sagt der Dealer nach einer Weile. „Schachmatt Liebelein. So, ich gehe jetzt spazieren.“ Die Sicht nach draußen wird durch einen schwarzen dichten Wolkenteppich verdunkelt. Die Spiegelung der karamellfarbenen Beleuchtung dringt durch. Der Blick ist starr auf das schwarz-weiße Schachbrett gerichtet. In der Silversternacht, alleine am einzigen Stehtisch, auf Distanz zu den übrigen Gästen im hinteren Raum, betrachtete er mit unfreiwilliger Intensität das porträtierte Gesicht einer jungen Frau in schwarz/weiß Konturen. Irgendwann betrat Björn die Küche mit einer Bierflasche, gesellte sich zu ihm und fragte: „Hast du keinen Bock auf die Anderen?“

„Es dauert bei mir.“

„Alles ist kalkuliert“, sagte Björn, „dein Gang, deine Haltung, wen und wie du jemanden anschaust, was du sagst, die Betonung, einfach alles. Du überlässt nichts dem Zufall.“ Er nahm einen Schluck von der Flasche, kicherte, schaute kurz auf den Boden und erzählte: „Vor zwei Monaten war ich mit Christoph in Roermond. In einem Antiquitätenladen fiel mir eine Holzskulptur auf. Direkt ins Auge, zack. Ich schaute mich weiter um und hatte dabei das Gefühl, dass sie mich mit ihrem Blick verfolgt. Ich fand dort durchaus schönere Gegenstände. Aber diese Figur.

Ich kann dir nicht sagen, was diese Figur darstellt. Ein undefinierbares Wesen. Vielleicht war es der Ausdruck von Wärme in ihrer kalten und unnahbaren Erscheinung. Jeden Morgen grüße ich diese Holzskulptur. Ich habe sie gekauft. Ich musste. Ich hatte Angst, es nicht zu tun. Sie steht jetzt bei mir im Wohnzimmer“, Björn schwieg plötzlich.

Christoph betrat mit einem Gast die Küche und sagte leicht genervt: „Das Buffet liegt hier nicht zur Ausstellung.

Ich muss euch doch nicht ständig dazu auffordern.“

„Ich habe der Holzskulptur einen Namen gegeben“, sagte Björn. „Den Namen eines Menschen, an den mich diese Figur erinnert. Du kennst ihn. Christoph, welchen Namen trägt die Holzskulptur?“ Christoph zögerte.

Alles um ihn herum ist ausgeblendet, versetzt in Frau Horvaths Wohnung. „Was stimmte nicht in dieser Situation?“, fragt er sich. „Irgendetwas fehlte. Aber was? Womöglich doch ein Funken an Authentizität.“

Ein schrecklicher Sonntag, geprägt von starken Brechreizen. Frau Horvath klopfte an die Tür. Ezequiel lag erschöpft auf dem Wohnzimmerboden, reagierte nicht. Sie tippte zaghaft mit ihren Fingernägeln erneut die Tür an.

„Wer?“

„Ihre Nachbarin. Störe ich?“

„Ich bin gerade aus der Badewanne gehüpft. Was ist?“

„Das hier ist“, sie schob ein gefaltetes Blatt Papier unter die Tür durch.

„Was soll ich damit?“

„Soll ich gleich wiederkommen?“

„Ich bin gleich bei Ihnen. Zehn Minuten.“

Ihre Wohnungstür stand offen. Es musste schnell über die Bühne gebracht werden: abgeben und wieder die Flucht ergreifen. Frau Horvath stand am Herd, in der Tiefe der Wohnküche. Als er leicht auf das Regal klopfte, blieb sie bei ihrer Haltung, rührte im Kochtopf und bat ihn höflich, einzutreten. „Ich lasse den Brief hier liegen.“ Wie auf Knopfdruck drehte sie sich um, ging auf Ezequiel zu und schimpfte dabei über den Nachbarn unter ihr. Während sie sich in Rage redete, fiel ihm instinktiv der Kochtopf auf.

„Mir ist der Kragen geplatzt“, sagte sie.

„Ich teile ganz Ihre Haltung“, sagte er. „Der Innenhof dient wirklich nicht als Werkstatt. Er sollte etwas mehr Rücksicht auf die Nachbarschaft nehmen. Auf dieser Höhe muss der Lärm für Sie das reinste Martyrium sein. Aber bestimmt ändert sich der Zustand, wenn der Vermieter Ihren Brief gelesen hat. Ich denke, die Unterschriftensammlung spricht für sich.“

Sie beruhigte sich und sagte: „Ich wollte mich auch bei Ihnen für meinen Wutanfall entschuldigen.“

„Wutanfall? Wann?“

„Haben Sie es nicht mitbekommen? Gestern Abend...“

Er klärte nicht auf, sie trotz der Kopfhörer gehört zu haben. Frau Horvath reagierte verwundert und wusste in diesem Augenblick nicht, was sie sagen sollte: „Aber, alle haben es gehört. Sogar die Nachbarn nebenan. Gegen zwanzig Uhr? Waren Sie nicht daheim?“

Eine Woche später verließ er an einem Morgen mit Frau Horvath das Haus; sie hatte beim Vorbeigehen stürmisch ihre Wohnungstür geöffnet, erwähnte permanent den Vermieter und berichtete über den Krach, den der Nachbar unter ihr veranstaltete. Sie überquerten die nächste Kreuzung und blieben an der Ecke, unter ihrem Regenschirm, vor dem Stromkasten stehen. „Ich stehe unter Zeitdruck“, sagte er, erkannte bei ihr leichte Schwierigkeiten, loszulassen, distanzierte sich Zentimeter für Zentimeter, sie folgte ihm, deutete mit seinem Zeigefinger auf die unsichtbare Armbanduhr an seinem Handgelenk und sagte abwimmelnd: „Ich muss jetzt, wirklich.“ Ezequiel wartete um die Ecke, vor dem Kiosk, bis er sich sicher fühlte, wieder die eigentliche Richtung einschlagen zu können, ohne, ihr über den Weg zu laufen.

Massives Gepolter in den frühen Morgenstunden an den Fenstern und auf dem Dach. Geräusche von Kehrblechen, Scherben, des Hoch- und Runterstampfens der Nachbarn im Treppenhaus, und die Stimme des Vermieters in Frau Horvaths Wohnung zwischen ihrer strengen und aggressiven Klage.

Vor dem Briefkasten erhält Ezequiel Informationen vom Nachbarn unter ihr, zu dem der Vermieter ein gutes Verhältnis pflegt. „Wenn sie ein Problem hat, dann soll sie ausziehen“, fügt er hinzu. „Vor zwei Jahren wollte sie gehen, hat aber die Kündigung wieder zurückgezogen. Die spinnt. Mal so, mal so.“

Auf dem Balkon beschnuppert er, gen Himmel blickend, die milde Frühlingsluft; Musik im Hintergrund. „Wie kann ich es zum Ausdruck bringen?“, überlegt er. „Dem Druck meines ruinösen inneren Zwiespalts kann ich auf Dauer nicht mehr standhalten. Diese fremde Gewalt in mir. Ich kann sie nicht mehr ertragen. Ich kann sie nicht besiegen.“ Durch die Öffnung von Frau Horvaths gekippter Balkontür klimpert ein Schlüsselbund beim Aufschließen ihrer...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bürokultur • Entfremdung • Existenzialistischer Roman • Psychedelisch • Sinnkrise
ISBN-10 3-7693-8040-1 / 3769380401
ISBN-13 978-3-7693-8040-8 / 9783769380408
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 217 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50