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MICH ERZOG SO MANCHE HERRSCHAFT -  Albrecht Schneider

MICH ERZOG SO MANCHE HERRSCHAFT (eBook)

EIN ZEIT- UND LEBENSPROTOKOLL 1937 BIS 1959
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
426 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-6616-8 (ISBN)
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Lebensgeschichte eines 1934 Geborenen. Der Autor blickt zurück auf die Jahre 1937 bis 1960. Er fragt sich, wie ihn die Zeit des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, die schwere Nachkriegszeit und das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik geprägt haben. Wer wäre er geworden, wenn Hitler und der Nationalsozialismus gesiegt hätten? Er erzählt, unter welchen Herrschaften", Eltern, Erziehern, Schulen, politischen Mächten, er erwachsen geworden ist. Aber erzählt auch, welche Freundschaften, welche positiven Erfahrungen, vor allem auch in Literatur, Kunst und Musik, seinen Lebensweg bestimmt haben.

1. KAPITEL


DIE EINRICHTUNG DER ORDUNG MAINZ


Alles beginnt mit einem Kuchen auf einem Tisch. Der Blick auf ihn fällt durch die offene Tür, deren weißer Rahmen zugleich der dieses Bildes ist, des ältesten im Archiv meiner Erinnerung. Ob es wirklich ist oder virtuell, lässt sich nicht sagen, allein es verrät ein Verlangen nach der Süße der Welt, die bisweilen viel Bitternis zu schmecken gibt. Ein Passepartout der Verklärung umfasst das erste Standfoto des optischen Gedächtnisses, dessen Erscheinung tröstet wie die Hand der Mutter, wischt sie mir die Tränen von der Wange. Eine Sehnsucht zitiert den Tisch mit einem Kuchen, und dank ihrer kehre ich heim zu einer glückseligen Insel, auf der einmal geweilt zu haben ich mir in manchen Augenblicken einbilde.

Zutage tritt der Garten einer Pension, in der die Familie die Sommerferien verbringt, und wo ich mit dem älteren Bruder im Sandkasten spiele. Hühner stelzen herum, die Sonne wärmt die Stille, das Meer schickt eine Brise über das Land, sie schmeckt eine Spur salzig, es riecht nach frischem Brot. Der Ort, dessen Aromen, dessen Figuren, sie alle gestalten das zweite der archaischen Bilder. Noch andere aus dem kindlichen Arkadien sind abrufbar, sie lassen sich vor Gespenster schieben und begleiten mich in den Schlaf. Die Imaginationen der Torten, Brote, Schokoladen und anderer Genüsse stehen für das Verlangen nach Zärtlichkeit, mir fehlen die sanften Gesten, sie sind nicht einzufordern. Die Liebe wird zum Kuchen gebacken, und sein Verzehr verscheucht die kleinen Leiden. Im Niemandsland zwischen Eswareinmal und der Gegenwart von Eltern und Bruder habe ich mich verirrt. Ich bin wahrlich kein trauriges Kind, gern mache ich den Narren, verschafft er mir doch Aufmerksamkeit. Mit meiner Plapperei, die zumeist um irgendwelche bescheidenen Freuden kreist, liefere ich mich stets dem Spott der Familie aus, die in mir einen kleinen Hedonisten keimen zu sehen glaubt. Alles nennen sie Einbildung und hänseln mich deswegen, die Verletzung meiner Mythen tut ein wenig weh, gleichwohl schmeichelt mir das errungene Interesse. Auf den zahllosen Spaziergängen möchte ich einiges wissen, aber es ist weniger die Neugierde, die mich treibt, eher das Bemühen, zeitweise die Rolle des kleinen Dummen loszuwerden und mehr Beachtung zu finden.

Es sind die Gewohnheiten, die den Alltag regeln: am Dienstag essen wir Sauerkraut mit Kartoffelbrei, donnerstags gibt es oft Pudding, und am Samstag Suppe oder Eintopf. Nach dem Mittagessen schläft der Vater in der Regel, die Mutter manchmal, die Milchflaschen warten an Werktagen frühmorgens vor dem Haustor, der Eismann bringt die Blöcke freitags, wenn es in den meisten Häusern nach Fisch riecht. In gewissen Abständen klingelt der Gasmann, der die Zähler im Keller abliest. Ich bringe ihm den Schlüssel, er trägt eine Dienstjacke und Dienstmütze, unter dem Arm eingeklemmt ein schwarz eingebundenes, mächtiges Buch, wie ich es bisher nirgendwo gesehen habe. Im Lichtkegel seiner noch mächtigeren Taschenlampe werden selbst die verstaubtesten Ziffern auf den Apparaturen lesbar. Mit einem blauen Stift schreibt er sie auf eines der großen weißen Blätter, sein Bick schweift ein weiteres Mal zwischen Uhr und Eintrag hin und her, keine falsche Zahl darf hier stehen. Weiterhin wortlos stapft er die Treppe hoch, die Tür schließe ich hinter ihm ab und überlege, ob Zählerableser nicht der richtige Beruf für mich wäre. So ein Gasmann mit Jacke und Mütze, dem dicken Buch und der unvergleichlichen Taschenlampe macht schließlich was her.

Am Wochenende sind es die väterlichen Späßchen während des Ausflugs, die Frage- und Antwortspiele, die Ermahnungen und die Belobigungen. Ein unverzichtbares Ritual ist eben dieser Spaziergang, und gelegentlich denke ich, zwischen dem vierten und neunten Lebensjahr sei ich mit der Familie vorzugsweise den Rhein entlang oder durch die nähere und weitere Umgebung von Mainz gestiefelt. Nach der Mittagsruhe gegen fünfzehn Uhr erfolgt der Aufbruch, uns Kinder hat man in die den Feiertagen vorbehaltene Kleidung gesteckt, jetzt werden wir an die Hand gefasst und hinaus geht es auf vertrauter Strecke hin zu den vertrauten Zielen. Mit jedem neuen Sonntag scheint sich der Abstand zu ihnen zu vergrößern, endlos schlängelt sich der Pfad den Rhein entlang. Das ältere, bereits vernünftigere und verständigere Geschwister muss mit gute Miene zur verordneten Gemeinsamkeit machen: Verstecken spielen, Nachlaufen, Kieselsteine fliegen ins Wasser. Vater und Mutter wandeln hinterdrein. Ist das Teil ihrer Vorstellung von Familie, Gesundheit, zu deren Kultivierung unabdingbar die Bewegung an der frischen Luft zählt, ja von Bürgerlichkeit überhaupt? Wünschen sie uns nicht zeitweilig ins Pfefferland, um sich hinter dem Gebüsch zu lieben und hernach Wein in einer Laube zu trinken? Hegen sie derartige Gedanken und verraten sie sich gegenseitig? Welchen Vorbildern gehen sie nach, würde es ihnen jemals einfallen, das Gewohnte zu ändern zugunsten eines Außergewöhnlichen?

Schafe mümmeln das Gras auf den Wiesen, auf dem Rhein schwimmt Schaum, abgesondert von der nahen Zellstofffabrik. Weil er wie Schlagsahne aussieht, schaue ich mit Vergnügen zu, wenn die weißen, bizarren Gebilde gemächlich unter der mächtigen Eisenbahnbrücke hindurch flussabwärts schaukeln. Auf ihr überschreiten wir den Main, mich unbeobachtet wähnend spucke ich von oben mit Nachdruck über das Geländer, die Speicheltropfen zerstäuben bald und erhöhen nicht, wie geplant, die Schauminseln unter mir. Insgeheim habe ich Angst, die Brücke könnte durchbrechen, falls jetzt ein Zug dahergerattert käme. Zu meiner Erleichterung zeigt sich keiner, ohne jede Gefährdung darf ich weiterspucken und beschwingt auf der anderen Seite die Treppe hinabhüpfen, das Dampfwölkchen einer fernen Lokomotive beunruhigt mich nicht länger. Auch das neue Flussufer bietet nichts Neues, der Weg führt vorbei an Schafen, Wiesen, Wasser und den melancholischen Weidenbäumen. Ein Windchen trägt den muffigen Geruch des Wassers herbei, Landschaft, Fluss, Häuser, Tiere, sie alle fügen sich zum Immergleichen.

Mein Leben bestimmt in jenen Jahren eine Satzung, die niemand zu ändern beabsichtigt. Umso mehr werde ich verwirrt sein, wenn sie eines Tages der Krieg teilweise außer Kraft setzt. Gasthäuser oder Cafés sind Orte des leiblichen Vergnügens, von mir ersehnt und genossen. Mit der Einführung der Lebensmittelkarten vermindern sich die Besuche, was mir den Sonntag noch stärker verleidet. Spät am Nachmittag sind sogar die Großen müde, ich hänge an der Hand der Eltern, wir setzen uns ins Gras, spielen: Ichsehewaswasdunichtsiehst. Am liebsten spreche ich davon, wie ich als Großbauer uns vier mit den feinsten Produkten versorgen würde. Allgemeines Ergötzen über des Bübchens Hirn, in dem sich die köstlichsten und längsten Würste tummeln sowie eine Menge Schinken und Honigtöpfe Platz haben. Von Pflaumenkörben und Butterfässern fabuliere ich, trage Krautköpfe und Eier in unsere Speisekammer, wohl wissend, was Beifall einträgt und worüber sie sich freuen wollen. Ich träume von einem Landmann, dessen Ställe voll sind von rundgefütterten Kühen, von feistgemästeten Säuen so dick und rosa wie neulich die Marzipanschweinchen in des Konditors Schaufenster, von fassbauchigen Kaltblutpferden vor korngarbenschweren Leiterwagen, die zu den übervollen Scheuern rollen, und schließlich von einer von zwei Rappen gezogenen Kutsche mit der Familie darin, indessen ich, mit Schlapphut und in Schaftstiefeln auf dem Kutschbock thronend, frohgemut die Peitsche knallen lasse. So ist es in meinem Kopf gemalt, verschönte Kopien der Vorlagen aus Kinderbüchern. Meine Sprache vermag keine entsprechenden Illustrationen zu entwerfen, ein Schwätzen reicht aus, um die Familie munterer und hungrig zu machen. Gedanken an das Abendessen beschäftigen die Gemüter, meine Begeisterung mündet in den endgültigen Beschluss, möglichst bald ein Landmann zu werden. Der Bruder grinst und klopft mir auf die Schulter, die Eltern loben mich, wobei sie vielsagend lächeln, und wir begeben uns auf den Heimweg, der mit einem Mal viel kürzer wirkt.

Es fehlen nicht die Stunden, wo es den Knaben betrübt, wenn die philanthropischen Fantasien lediglich spottende Fröhlichkeit hervorrufen. Dessen Träume sind zertrümmert, und es dauert, bis er sie neu zusammengefügt hat. Das System der Familie gewährt eines kleinen Jungen Illusionen nicht viel Raum, was für ihn Bedeutung besitzt, ist für jene nichts mehr denn kindliche Spinnerei. Unter dem Kuchen wird der Tisch weggezogen, die Lyrik der Sandkastenszene als eine falsche Erinnerung denunziert, zeitvertreibende Spielereien auf dem Gang durch die Rhein-Mainauen sind erwünscht, es sollen beiläufig Gehorsam, Disziplin und der Sinn für die Natur entwickelt werden, alles Tugenden, die den Eltern eigen sind, ererbt, erworben, da man sie ihnen von früh an predigte. Der Knabe hat zu lernen, wozu er gedacht ist, nämlich ein Bürger der Ordnung zu werden,...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7597-6616-1 / 3759766161
ISBN-13 978-3-7597-6616-8 / 9783759766168
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