Lyneham (eBook)
496 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12404-0 (ISBN)
Nils Westerboer, geboren 1978, war nach der Schule in Israel tätig, unter anderem als Betreuer für Menschen mit Behinderung, Hausmeister und Trainer für Sprengstoffsuchhunde. Anschließend studierte er Germanistik, Theologie und Medienwissenschaften in München und Jena. Als Naturfilm-Kameraassistent ging er für ZDF, NDR und arte auf Tuchfühlung mit Hornissen, Wölfen und Vampiren. Seit 2012 unterrichtet er an einer Gemeinschaftsschule. Sein Debüt »Kernschatten« wurde für den Deutschen Science-Fiction-Preis 2015 nominiert. Zuletzt erschien in der Hobbit-Presse sein Buch »Athos 2643«, das mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2023 ausgezeichnet wurde.
Nils Westerboer, geboren 1978, war nach der Schule in Israel tätig, unter anderem als Betreuer für Menschen mit Behinderung, Hausmeister und Trainer für Sprengstoffsuchhunde. Anschließend studierte er Germanistik, Theologie und Medienwissenschaften in München und Jena. Als Naturfilm-Kameraassistent ging er für ZDF, NDR und arte auf Tuchfühlung mit Hornissen, Wölfen und Vampiren. Seit 2012 unterrichtet er an einer Gemeinschaftsschule. Sein Debüt »Kernschatten« wurde für den Deutschen Science-Fiction-Preis 2015 nominiert. Zuletzt erschien in der Hobbit-Presse sein Buch »Athos 2643«, das mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2023 ausgezeichnet wurde.
Aus allen Wolken
Wir fielen.
Ich weiß nicht mehr, wie schnell. Es musste irgendetwas mit Metern in der Sekunde gewesen sein. Mit einem Zittern fing es an, doch dann rüttelte es überall, knirschte und ratterte. Mein Sitz, der Boden, alles. Hinter dem kleinen runden Fenster unseres Landungsmoduls, hinter dem man eben noch die Sterne sehen konnte, glühte es rot. Wir tauchten in die Atmosphäre von Perm ein.
»Hört ihr das auch?«, rief Papa zu uns herüber.
Ich versuchte, aus dem schrecklichen Tosen so etwas wie ein Fiepen oder ein Warnsignal herauszuhören. Aber da war nichts als Rattern und Rütteln.
»Was meinst du?«, rief ich zurück.
»Hörst du das wirklich nicht?« Er sah mich sorgenvoll an.
»Nein! Was denn?«
»Na, dieses laute Rütteln!«
Ich musste lachen, hielt mich aber zurück. Mehr als ein müdes Lächeln stand ihm nicht zu.
»Wir sind gleich da!«, rief er.
Ich schüttelte den Kopf, denn ich wusste es besser. Kurz bevor der Lärm und das Glühen anfingen, hatte ich durch das Fenster noch die Krümmung der Oberfläche gesehen. Es bestand kein Zweifel daran, dass wir noch sehr weit oben waren.
Von Chester wusste ich außerdem, was alles möglich war: Eine nicht vorhergesehene feinkörnige Zutat in der atmosphärischen Zusammensetzung Perms konnte reichen, um unsere Außenhülle zum Schmelzen zu bringen, sodass wir aus der Kapsel fielen wie abgeworfene Ballastsäcke. Wenn es in der Atmosphäre schädliche Wasserstoffverbindungen gab, würden wir uns noch während des Sturzes übergeben, erblinden und ohnmächtig werden. Selbst bei einer im Vergleich zur Erde schwachen Fallbeschleunigung von 6,13 m/s² würde schließlich der Aufprall dafür sorgen, dass wir uns mehr brachen als nur den Hals – sofern wir nicht in einem Meer aus Ameisensäure landeten. Im Augenblick war am wahrscheinlichsten, dass wir einfach verglühten.
Dennoch war ich mir sicher, dass nichts davon passieren würde, denn ich hatte Geburtstag. Kein Mensch verglüht, erblindet oder bricht sich den Hals, wenn er Geburtstag hat. Chester war ein Dummkopf, der sich keinen Geburtstag merken konnte, nicht mal den seines Bruders.
Er hatte Loys Kopf in den Händen und versuchte, sie zu beruhigen. So hatten wir das für die Landung vereinbart: Papa sollte sich um mich kümmern, Chester um Loy. Aber nicht einmal das gelang ihm, sie weinte und schrie. Wie so oft war ich neidisch auf sie, da sie genau das machte, was ich am liebsten auch tun wollte.
Meine Schwester war nicht die Einzige, die schrie. Dahlia Brahms war außer sich und hielt Moxie im Arm und Melcher. Kjell Larsen und Undine Battiste schrien, Merril Abdulrazzeq betete laut und einvernehmlich. Es klang drohend, als würde er seinen Gott davor warnen, ihn sterben zu lassen.
Die Luft war so heiß, dass es wehtat, sie einzuatmen, das rote Glühen hinter dem Fenster wurde orange und gleißend. Ich konnte mich nirgends mehr festhalten, ohne mir die Finger zu verbrennen. Zischend verdampfte das Kondenswasser, das sich während des Fluges auf dem Boden und an den Wänden angesammelt hatte, der Teppichboden war eine suppige Pfütze.
Jemand zeigte auf ein plötzliches Leuchten an der Decke. Ein Alarm war angegangen, blaue Lichtzeichen kreisten durch die Kapsel. Neue Lichter erschienen, sie führten in Richtung der Stasiskammern. Der Alarm war trotz des Rüttelns und des Geschreis gut zu hören, ein hohes d, das immer wieder an- und abschwoll.
»Hörst du das?«, rief ich Papa zu.
Er lächelte.
»Wir müssen noch einmal in die Kammern!«
Niemals, dachte ich. Ich wollte da nicht wieder rein.
»Ich will da nicht wieder rein!«, schrie Loy.
»Dann ist das dein schmachvolles Ende«, sagte Chester. Loy sah ihn mit großen Augen an, vergaß sogar das Weinen für einem Moment. Papa nahm sie in den Arm.
»Nur noch ein Mal«, sagte er.
Die Stasiskammern waren nicht nur zum Schlafen da. »Das Deutolecith dämpft jeden Aufprall«, hatte mir Chester erklärt. »Wenn du hundert Meter in der Sekunde fliegst und dein Schiff gegen irgendetwas kracht, und du bist nicht in deiner Kammer, dann wirst du zu einem Gemälde an der Wand.« Mein Bruder, der Poet. Er hatte dazu eine Handbewegung gemacht, die ich am liebsten wieder vergessen hätte.
Papa entsperrte den Verschluss von Loys Kammer. Durch das unkontrollierte Gerüttel quoll etwas von dem Deutolecith aus den Lamellen. Er ließ sie nur so weit aufgehen, dass Loy sich hindurchzwängen konnte.
»Geht es jetzt wieder heim?«, fragte sie, während sie mit den Füßen voran tauchte.
»Ja, genau!«, rief Chester.
Papa warf ihm einen bösen Blick zu.
»Es geht in die fremde neue Welt!« Er lächelte sie an. »Das wird ein großes Abenteuer, versprochen!«
Ich wusste, dass das nichts hieß. Mir hatte er eine Geburtstagsfeier versprochen, gleich nach dem Aufwachen aus der Stasis.
Papa lächelte Loy so lange an, bis sie gar nicht mehr anders konnte, als zurückzulächeln. Dann versiegelte er die Kammer. Durch die Scheibe sah ich Loys aufgerissene Augen, wie sie kurz davor waren, wieder loszuweinen. Doch dann stieg das Gel an, stieg über ihr Gesicht, lief in ihren Mund und in ihre Nase, und sie hörte auf, sich zu bewegen. Da sie ihre Augen offen hielt, sah sie aus wie eine Wasserleiche, aber ich wusste, dass sie lebte. Deutolecith kann man essen, trinken und atmen, wenn die Sauerstoffsättigung hoch genug ist. Ihre Kammer war die mit dem Dornröschensticker.
Ich kroch den Lichtern nach, die zu meiner Kammer führten. Im Durcheinander stieß jemand aus Versehen mit seinem Bein an mein Gesicht. Der dampfende Boden brannte an meinen Handflächen und Knien, und ich schaute noch einmal zum Fenster hoch. Manchmal riss der orangerote Qualm nun ab, und man konnte etwas sehen.
Wir flogen über Wasser. Da waren Wellen, Millionen winziger kleiner Wellen, tief unter uns, vielleicht ein Meer oder sogar ein Ozean. Das Wasser leuchtete türkisfarben und sah schön aus. Ich wollte Chester fragen, ob das vielleicht die Ameisensäure sein konnte. Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich Geburtstag hatte.
Ich entsperrte meine Kammer und ließ die Lamellen genauso weit aufgehen, wie Papa es bei Loy gemacht hatte. Er kam zu mir und half mir.
Ich sah zu Chester hinüber, wie er ohne Hilfe in seine Kammer stieg, die am Fenster mit Aussicht, ohne jede Angst und ohne jedes Zögern schloss er sich an, versiegelte die Lamellen von innen, streckte sich lang, ließ sich vollaufen – und schloss sogar die Augen, obwohl hier gleich alles zu explodieren schien. Er hatte die Dinge, vor denen er sich fürchtete, in bildhaften Worten seinen kleinen Geschwistern erzählt, und sie hatten nun an seiner Stelle Angst.
Ein Countdown setzte ein, wir hatten nur noch 60 Sekunden, um in unsere Kammern zu gelangen. Die Zahlen schwebten blau im Raum, und der Alarm schwoll an.
»Sie geht nicht auf!«, rief jemand hinter uns. »Kann uns jemand helfen? Bitte!« Ich versuchte, mich umzusehen, wollte herausfinden, um wen es sich handelte.
Aber Papa nahm meinen Kopf in seine Hände. »Schau zu mir!«, befahl er. »Schau da nicht hin, schau mich an!«
Ich gehorchte, durch seinen harten Griff konnte ich sowieso nicht anders.
»Ist das die fremde neue Welt, Papa?«, fragte ich.
»Ja!«
»Ich hab heute Geburtstag!«
»Ich weiß.«
Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte.
»Sie geht nicht auf!«, wimmerte es hinter uns. »Helft uns doch bitte!«
»Henry, versprich mir, zu Loy zu schauen, die ganze Zeit, egal, was passiert! Versprich mir das!«
Aus dem Wimmern wurde ein Schluchzen, dann ein Schreien. Ich wollte hinschauen, aber Papa hatte mich immer noch fest im Griff. Mir war klar, dass er sich selbst in Sicherheit bringen musste. Ich wollte nicht, dass ihm etwas zustieß, wollte aber auch nicht, dass er wegging.
»Henry! Eule!«, rief er plötzlich.
»Was?« Ich konnte nicht glauben, dass er das in diesem Moment ernst meinte. Wir hatten noch vierzig Sekunden.
»Eule!«, wiederholte er und ließ meinen Kopf los. Ich unterdrückte meinen Drang, die Augen zusammenzukneifen und zu verdrehen. Stattdessen öffnete ich sie so weit, wie ich konnte, starrte ihn an und blinzelte nur ganz langsam.
»Sehr gut. Jetzt Huhn!«
Ich starrte ihn weiter an, legte aber den Kopf in schnellen eckigen Bewegungen schief. Die Frau schrie immer noch.
»Und jetzt Fisch!«, befahl er.
Fisch war die schwerste Übung gegen meinen Augentick. Jetzt durfte ich nicht mal mehr blinzeln.
»Schau zu Loy!«
Ohne Vorwarnung presste er seine Hand auf meine Stirn, drückte mich tief ins Gel und drehte schließlich mein Gesicht zur Kammer meiner Schwester. Ich wehrte mich, wollte noch mal hochkommen, zu ihm, kam aber gegen seine Kraft nicht an.
Alles Geschrei verging in Gurgeln und Blubbern. Ich presste die Lippen aufeinander, obwohl ich wusste, dass ich ihn früher oder später öffnen musste, um nicht zu ersticken. Über mir schlossen sich die Lamellen, und es wurde still. »Hermetisch« hieß das, wie ich von Chester wusste: Man hörte so gut wie nichts mehr außer die ganz großen, tiefen Schläge.
Der Druck in der Kammer stieg, als würde ich Meter tief tauchen, es stach in den Ohren. Papa verschwand aus meinem Blickfeld. Der Drang, ihm nachzuschauen, war riesig, ich wollte sehen, ob er den anderen half, wollte wissen, wer da geweint hatte und, vor allem, ob er es selbst rechtzeitig in seine Kammer schaffen würde. Aber ich hatte das sichere Empfinden, dass all das nur gelingen würde, wenn ich jetzt gehorchte. Also sah ich dahin, wo ich hinsehen sollte.
Meine Schwester, so klein, mit großen offenen Augen, die wilden Haare grau wie die einer alten...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2025 |
---|---|
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Ethik und Umwelt • Kinder • Planeten • Science Fiction • Universum • Weltraum • Zukunft • Zukunft der Menschheit • Zukunft: Science Fiction |
ISBN-10 | 3-608-12404-7 / 3608124047 |
ISBN-13 | 978-3-608-12404-0 / 9783608124040 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 5,5 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich