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In der Geschichte (eBook)

Historiker in West und Ost 1964-2024
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Vergangenheitsverlag
978-3-86408-338-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In der Geschichte -  Wolfgang Hardtwig
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Wolfgang Hardtwigs 'Der Hof in den Bergen, Eine Kindheit und Jugend nach 1945' ist der erste Teil seiner Autobiografie - und war ein großer Erfolg. Zahlreiche Rezensionen und mehrere Auflagen bezeugen das breite Interesse an seiner 'intellektuellen Heimatliteratur' über seine Kindheit und Jugend auf dem Land in Oberbayern, von der Gustav Seibt in der SZ schrieb, man könne eine autobiografische Erzählung kaum besser machen. Im vorliegenden zweiten Teil der Autobiografie beginnt der junge Wolfgang Hardtwig sein Studium der Geschichte in Basel, wechselt nach München, um dort zu promovieren und sich zu habilitieren, tritt seine erste Professur in Erlangen an und lehrt zeitweise in Atlanta, USA. 1992 wechselt er an die Humboldt-Universität zu Berlin - für das DDR-Regime zuvor ein Zentrum marxistisch interpretierter Kultur- und Gesellschaftswissenschaft. Seine Berufung und seine Arbeit dort sind Teil der ebenso notwendigen wie umstrittenen Reformen der Universitäten in Ostdeutschland. Hardtwig räsoniert über das Studieren im alten Sinne, er beschreibt Varianten der traditionellen 'Ordinarien-Universität' und ihre Krise während der Studentenrevolution 1968 sowie in den Reformjahren danach. Den west-östlichen Transformationsprozess beschreibt er auf der Basis seiner persönlichen Erinnerungen und ausgewählter Quellen. So beleuchtet er erstmals die Positionen und Kontroversen an den ostdeutschen Universitäten der 1990er-Jahre aus der Innensicht eines westdeutsch geprägten unmittelbar Beteiligten. Die Profilierung als Historiker und die Mitwirkung in der akademischen Selbstverwaltung ermöglichen symptomatische Einblicke in den heutigen Wissenschaftsbetrieb und in die akademische Arbeit. Wolfgang Hardtwig bietet über die autobiografische Betrachtung hinaus eine vorzüglich geschriebene Studie über die Kulturen des Studierens und Lehrens im fundamentalen Wandel der deutschen Universitätssysteme seit den 1960er-Jahren und leistet damit auch einen signifikanten Beitrag zum Verständnis der prekären Geschichte der deutschen Vereinigung von 1990 bis heute.

Wolfgang Hardtwig, 1944 in Reit im Winkl geboren, war Professor für Neuere Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur politischen Kulturgeschichte. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kultur- und Sozialgeschichte Deutschlands vom 19. bis 20. Jahrhundert sowie die Geschichte der Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie.

Wolfgang Hardtwig, 1944 in Reit im Winkl geboren, war Professor für Neuere Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur politischen Kulturgeschichte. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kultur- und Sozialgeschichte Deutschlands vom 19. bis 20. Jahrhundert sowie die Geschichte der Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie.

Revolte oder Karriere. Studieren in München


Der Studienwechsel von Basel nach München bedeutete einen tiefen Einschnitt: von einer aus deutscher Sicht kleinen an eine sehr große und von einer noch ganz ehrwürdig beschaulichen Ordinarienuniversität inmitten eines alteuropäischen Stadtensembles zu einer Massenuniversität in einer von residenzstädtischen Funktionen, aber auch einer weitreichenden Industrialisierung geprägten Landeshauptstadt mit fast einer Million Einwohnern. Hier wurden manche Vorlesungen in Massenfächern wie der Germanistik von 300 bis 500 und einzelne Seminare von achtzig bis 120 Studierenden besucht. Zudem stand das deutsche Universitätssystem vor einem gewaltigen Umbruch – vielleicht dem größten in seiner 400-jährigen Geschichte, denn der Übergang von der vormodernen „Familien-Universität“ (Peter Moraw) zur modernen „Forschungs-Universität“ zwischen 1750 und 1850 hatte sich sehr langsam vollzogen. Vor allem ging es bei diesem aktuellen Umbruch erstmals nicht ohne vielfach gewaltsame Auseinandersetzungen innerhalb der heiligen Hallen ab.

Für mich persönlich war der Ortswechsel verbunden mit dem Wechsel von einem schmalen Einzelzimmer in dem kleinen, altmodischen, frequentierten Alumnat – der Ausdruck passt mit seiner Patina viel besser als der auf moderne Sachlichkeit und größere Zahlen hindeutende des „Studentenheims“ – in einem Gebäude und in einer Straße aus dem 18. Jahrhundert in ein geräumiges Eckzimmer in der großbürgerlichen, aber inzwischen schon recht abgewirtschafteten Wohnung in der Münchner Friedrichstraße, die mein Großvater bei seinem Rückzug aus Berlin nach München 1936 angemietet hatte. Jetzt hauste darin während der Woche mein Vater zusammen mit meiner Germanistik studierenden Schwester und einem oder zwei weiteren studentischen Untermietern. Die Friedrichstraße verläuft parallel zur Leopoldstraße mitten in Schwabing und trug und trägt heute noch das Gepräge eines gediegenen Wohlstands, zumal die vereinzelten, aber massiven Kriegsschäden an den großen Mietshäusern aus der Zeit um die Jahrhundertwende inzwischen beseitigt waren. Nebenan, auf der Leopoldstraße und rund um den Wedekindplatz, existierte eine – überschaubare – heimische Künstlerszene aus bürgerlichen Literaten, dem Milieu des Kabaretts um die „Lach- und Schießgesellschaft“ von Sammy Drechsel, Dieter Hildebrandt und Ursula Herking und auch noch um den altehrwürdigen „Simpl“ in der Türkenstraße, vor allem aber aus dem Milieu des aufstrebenden jungen deutschen Films mit Werner Enke und Rainer Werner Fassbinder. Bei meinen abendlichen Rundgängen konnte ich gelegentlich unauffällig daherkommende Promis wie Erich Kästner oder Ingeborg Bachmann aus einem Lokal treten sehen, Bachmann in ihrer später oft beschriebenen Attitüde der zarten, schutzbedürftigen Hilflosigkeit zwischen zwei aufmerksam bemühten älteren Herren; und Kästner bepackt mit zwei Einkaufstüten in Begleitung seiner Freundin. Es gab noch Kneipen, in denen sich noch nicht – wie wenige Jahre später – die Vergnügungstouristen von überallher drängten, die sich wenige Jahre später auch über die mit Ständen fragwürdigsten Kunst- und Schmuckangebots gesäumte Leopoldstraße schoben. Dieser ganze Betrieb stand in den späten 60er-Jahren noch in den Anfängen. Die heute so durchgreifende Gentrifizierung gab es damals noch nicht. Aber das optische Erscheinungsbild von Ludwig- und Leopoldstraße sowie des Geschwister-Scholl-Platzes mit seinen Springbrunnenschalen zwischen den Flügeln des Universitätshauptgebäudes auf beiden Seiten der Ludwigstraße litt bis 1972, dem Jahr der Olympischen Spiele, unter dem lärmigen U-Bahn-Bau.

Der Unterhaltungs- und Vergnügungsbetrieb wurde dominiert durch die zahlreichen Kinos, von denen viele ein anspruchsvolles- oder zumindest profiliertes Programm boten. Am Rande der Altstadt in der Theatinerstraße und am Odeonsplatz lagen die „Theatiner-Filmkunst“ und das 2011 eingegangene „Filmcasino“, im Zentrum Alt-Schwabings das „Occam“ mit seinem exquisiten Angebot alter und exotischer neuer Filme. Im kleinen „Türkendolch“, an der Ecke Türken-/Schellingstraße schräg gegenüber dem „Alten Simpl“, konnte man sich alte und neue Western reinziehen, während das ABC- und das Leopoldkino an der Münchner Freiheit die ambitionierten neuen Filme brachten. Jeden Mittwoch fand im „Arri“ nahe dem riesigen Neurenaissancekasten der Kunstakademie in der Nachtvorstellung um 23 Uhr ein auch von mir und meinen Freunden gern besuchtes Happening statt. Frustrierte Studierende, altgediente Doktoranden, Studienabbrecher und ein paar Sonstige brachten Trompeten, Trillerpfeifen und andere Lärmwerkzeuge mit und veranstalteten zu einer nie endenden Serie von Eddie-Constantine-Filmen ein geräuschvolles, die Handlung begleitendes und interpretierendes Spektakel. Dieses Unwesen endete erst lange nach Abschluss meines Studiums, als ein betrunkener Zuschauer seinem Vordermann eine Bierflasche auf den Kopf schlug und das Lichtspielhaus von jetzt ab Körperkontrollen am Eingang vornahm.

In den großbürgerlichen Wohnungen Schwabings und der Maxvorstadt gab es die traditionellen Studentenbuden in Untermiete, zunehmend aber auch die neuen Wohngemeinschaften ganz unterschiedlicher Prägung, vom rein pragmatischen Zusammenleben in einer einzeln oder gemeinschaftlich gemieteten Wohnung bis zu den politisch, lebens- und besonders sexualreformerisch ambitionierten „WGs“. Sie machten in der bürgerlich-konservativen Presse Schlagzeilen, umso mehr, als sich aus ihnen sehr bald tatsächlich die Crème der entstehenden studentischen Protestbewegung rekrutierte. Ging man zu einer abendlichen Fete – das war damals der gängige Ausdruck – bei männlichen oder weiblichen Studienfreunden, so bekam man öfter mal einen Joint angeboten – allerdings nicht von meinen eigentlichen Freunden, sondern eher von deren Freunden oder Freundinnen. Mein eigener Bekanntenkreis reichte nur an den Rand dieses Milieus, er rekrutierte sich hauptsächlich aus der personenreichen Wohngemeinschaft meines ebenfalls in München studierenden Schulfreundes Severin, aus Arbeitskolleginnen und -kollegen am Historischen Seminar und aus Bekanntschaften, die sich in den Institutsbibliotheken von Geschichte und Kunstgeschichte sowie mitunter in den Hörsälen beim Anhören einer Vorlesung oder dem Besuch eines Seminars ergaben.

Die Neuere Geschichte an der LMU hatte seit 1948 ganz im Zeichen eines herausragenden Gelehrten gestanden: Franz Schnabel. Er war einer der bedeutendsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts und politisch einer der einsichtigsten neben Friedrich Meinecke, der sich allerdings erst in seiner Lebensmitte zum Demokraten und Vernunftrepublikaner wandelte. 1949 geriet Schnabel nach einem kritischen Bismarck-Artikel noch in eine Kontroverse mit Gerhard Ritter, dem unverdrossensten Verfechter der kleindeutsch-protestantischen Tradition in der Historikerzunft, die sich insgesamt im „Dritten Reich“ nicht eben mit Ruhm bedeckt hatte – wobei Gerhard Ritter selbst aus seinem ernsthaft-moralischen Nationalprotestantismus heraus in aktive Opposition zum NS getreten war. Schnabel resignierte schließlich gegenüber der penetranten Energie Ritters und seiner Gesinnungsfreunde. Seine Isoliertheit in der Zunft in den 20er-Jahren und das Erlebnis der NS-Gewaltherrschaft hatten ihn wohl trotz seiner ursprünglichen liberalen Fortschrittsgläubigkeit, wie sie sich im Technikband seines Hauptwerks niedergeschlagen hatte, inzwischen kulturpessimistisch gestimmt. In München zog er sich – immerhin schon sechzig Jahre alt – weitgehend auf die Lehrtätigkeit zurück. Binnen kurzem galten dort seine Vorlesungen in der Großen Aula oder im Audimax als Ereignisse, zu denen nicht nur die Geschichtsstudierenden, sondern auch die sprichwörtlichen „Hörer aller Fakultäten“ zu pilgern hatten. Sie beschrieben diese Vorlesungen später unisono als anschaulich, übersichtlich, aus der Tiefe eines umfassenden Überblicks über die gesamte Neuere Geschichte geschöpft, gespeist aus der Forschung, aber auch aus der Erfahrung des früheren Schulmannes, dass ein Publikum nicht überfordert werden dürfe. Schnabel verstand sich jetzt wesentlich als historisch-politischer Erzieher für eine Generation, die auch für ihr praktisches politisches Handeln dringend historischer Bildung bedurfte.

Leider kam ich zu spät nach München, um selbst noch eine seiner Vorlesungen hören zu können. Immerhin hatte ich noch in der Schulzeit einen starken Eindruck von ihm durch seine gelegentlichen Radiovorträge gewonnen. Auch um diese Vorträge wob sich bereits die Legende: Schnabel erschien jeweils zum vorgesehenen Zeitpunkt im Funkhaus, zog eine Karteikarte mit der Gliederung aus der Tasche und besprach dann frei, ohne sich jemals zu versprechen, und exakt terminiert seine 45 Minuten Sendezeit.

So bedeutend Schnabel war, so sehr wies seine dreizehnjährige Amtszeit am Institut auch ihre Schattenseiten auf. Schnabel konzentrierte sich ganz auf Vorlesung und Seminar. Als Gelehrter alten Stils verließ er den heimischen Schreibtisch nur für seine Lehrveranstaltungen und Sprechstunden und um seinen Pflichten als Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften nachzukommen. Seinen Literaturbedarf deckte er aus der eigenen Bibliothek, schließlich ging es jetzt nicht mehr um materialintensives Forschen, sondern um das neuerliche Durchdenken der ihm seit langem vertrauten Sachverhalte. Auch diese Bibliothek war mythenumwoben. So berichteten einzelne seiner Studierenden, Schnabel habe ihnen für ihre Seminar- und Qualifikationsarbeiten, ohne zu zögern, notwendige Werke,...

Erscheint lt. Verlag 30.9.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Basel • Berlin • Chemnitz • DDR • Erlangen • Geschichte • Geschichtswissenschaft • Humboldt-Universität • Lehre • München • Studieren • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-86408-338-9 / 3864083389
ISBN-13 978-3-86408-338-9 / 9783864083389
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