Unmöglicher Abschied (eBook)
320 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3730-9 (ISBN)
Nobelpreis für Literatur 2024
Der neue große Roman von Han Kang
»Unmöglicher Abschied« erzählt die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Frauen und beleuchtet zugleich ein jahrzehntelang verschwiegenes Kapitel koreanischer Geschichte.
Eines Morgens ruft Inseon ihre Freundin Gyeongha zu sich ins Krankenhaus von Seoul. Sie hatte einen Unfall und bittet Gyeongha, ihr Zuhause auf der Insel Jeju aufzusuchen, weil ihr kleiner weißer Vogel sterben wird, wenn ihn niemand füttert. Als Gyeongha auf der Insel ankommt, bricht ein Schneesturm herein. Der Weg zu Inseons Haus wird zu einem Überlebenskampf gegen die Kälte, die mit jedem Schritt mehr in sie eindringt. Noch ahnt sie nicht, was sie dort erwartet: die verschüttete Geschichte von Inseons Familie, die eng verbunden ist mit einem lang verdrängten Kapitel koreanischer Geschichte. Han Kangs neuer Roman ist eine Hymne an die Freundschaft und das Erinnern, die Geschichte einer tiefen Liebe im Angesicht unsäglicher Gewalt - und eine Feier des Lebens, wie zerbrechlich es auch sein mag.
Han Kang wurde 1970 in Gwangju, Südkorea, geboren und ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Mit »Die Vegetarierin« wurde sie einem breiten internationalen Publikum bekannt und erhielt gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize. 2024 wurde Han Kang mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sie lebt in Seoul. Im Aufbau Verlag sind von Han Kang erschienen: »Die Vegetarierin« (2016), »Menschenwerk« (2017), »Deine kalten Hände« (2019), »Weiß« (2020) und »Griechischstunden« (2024). Mehr zur Autorin unter han-kang.net Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin. Für ihre Übersetzungen wurde sie 2024 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
2
Faden
Aber ich kann noch immer nicht gut schlafen.
Ich kann noch immer nicht richtig essen.
Noch immer bin ich kurzatmig.
Noch immer lebe ich auf eine Weise, die unerträglich für jene war, die mich verlassen haben.
Der Sommer, in dem es mir vorkam, als würde die Welt mich ständig anschreien, ist nun vorbei. Ich muss nicht mehr die ganze Zeit über schwitzen. Ich brauche nicht von Kopf bis Fuß ermattet auf dem Wohnzimmerboden zu liegen. Keine unzähligen kalten Duschen mehr, um dem Hitzschlag vorzubeugen.
Es ist, als ob sich eine kühle Schicht zwischen der Welt und mir gebildet hätte. Ich trage ein langärmliges Hemd und eine Jeans, während ich ohne die Schwüle des heißen Windes die Straße hinunter in ein Restaurant gehe. Ich bin immer noch außerstande, zu kochen. Mehr als eine Mahlzeit kann ich nicht zu mir nehmen, denn es erinnert mich in unerträglicher Weise daran, dass ich für andere gekocht und gemeinsam mit ihnen gegessen habe. Aber die Alltagsrituale kehren allmählich wieder. Ich treffe immer noch keine Leute und gehe nicht ans Telefon, aber ich lese meine E‑Mails und Nachrichten wieder regelmäßig. Jeden Morgen setze ich mich bei Tagesanbruch an den Schreibtisch und verfasse einen Abschiedsbrief an alle. Immer wieder aufs Neue.
Allmählich werden die Nächte länger. Die Temperatur sinkt von Tag zu Tag. Ich betrete Anfang November zum ersten Mal seit dem Umzug die Promenade hinter dem Wohnblock. Die hochgeschossenen Ahornbäume leuchten rot im Sonnenlicht. Es ist wunderschön, aber die Synapsen in mir, die es empfinden könnten, sind tot oder fast zerstört. Eines Morgens bildet sich der erste Reif auf dem Boden, und als ich darübergehe, höre ich es unter meinen Turnschuhsohlen knirschen. Ein heftiger Wind wirbelt herabgefallene, kindergesichtgroße Blätter durch die Luft und weht sie davon, während die plötzlich nackten Platanenäste ihrem koreanischen Namen gerecht werden: Schuppenflechtenbaum.
*
Als ich Ende Dezember eines Morgens eine SMS von Inseon erhalte, verlasse ich gerade den Spazierweg. Fast einen Monat lang lagen die Temperaturen unter null, und kein Laubbaum trägt mehr Blätter.
Gyeongha.
Inseons Nachricht besteht aus meinem Namen, der einsam auf dem Display schwebt.
Ich lernte Inseon im Jahr meines Studienabschlusses kennen. Die Zeitschrift, bei der ich arbeitete, hatte keinen Fotojournalisten, also machten die Redakteure die meisten Aufnahmen selbst, aber wenn es um wichtige Interviews oder Reisereportagen ging, bildeten sie ein Team mit freiberuflichen Fotografen, die sie dafür anheuerten. Inseon ist in meinem Alter, und ich wurde ihr vorgestellt, nachdem ich mich nach Fotoagenturen erkundigt hatte. Ich folgte dem Rat meiner Kollegen, mit einer Frau zusammenzuarbeiten, denn es würde die Dinge vereinfachen, da sich Dienstreisen mitunter drei bis vier Tage hinzogen. In den folgenden drei Jahren war ich jeden Monat mit ihr unterwegs, und wir sind, nachdem ich den Verlag verlassen hatte, befreundet geblieben, so dass ich ihre Gewohnheiten seit zwanzig Jahren kenne. Wenn sie mich mit meinem Vornamen anschreibt, stellt das keinen Gruß dar, sondern leitet eine konkrete und dringende Bitte ein.
Ich ziehe meine Wollhandschuhe aus und schicke eine Nachricht:
Ja, was ist?
Dann warte ich eine Weile auf ihre Antwort. Gerade will ich meine Handschuhe wieder überstreifen, als sie eintrudelt.
Kannst Du schnell zu mir kommen?
Inseon lebt nicht in Seoul. Als einziges Kind einer spätgebärenden Mutter über vierzig war sie früh mit deren Altersgebrechen konfrontiert. Vor acht Jahren kehrte sie in ihren Heimatort zurück, ein einige Hundert Meter über dem Meer gelegenes Bergdorf auf der Insel Jeju, wo sie sich fortan um ihre Mutter kümmerte. Diese starb vier Jahre später, doch Inseon blieb weiter allein in dem Haus. Früher trafen wir uns zu allen erdenklichen Zeiten ganz ungezwungen und redeten beim Essen über sehr private Dinge, aber nach ihrem Umzug wurden unsere Zusammenkünfte allmählich seltener, während jede ihre eigenen Höhen und Tiefen durchlebte. Später vergingen ein, zwei Jahre, ohne dass wir einander zu Gesicht bekamen. Vergangenen Herbst war ich das letzte Mal auf Jeju. Ich verbrachte vier Tage in ihrem Steinhaus, das bescheiden renoviert worden war, indem man die Außentoilette in das Gebäude verlegt hatte. Inseon stellte mir ein Paar winziger weißer Papageien vor, die sie zwei Jahre zuvor auf dem Wochenmarkt gekauft hatte und seither aufzog – einer davon konnte einfache Wörter sprechen. Sie führte mich auch über den Hof zu der Tischlerei, in der sie den größten Teil des Tages verbrachte. Sie zeigte mir Stühle, am Stück aus ganzen Baumstümpfen gefertigt, die sich zu ihrer Überraschung recht erfolgreich verkauften und ihr halfen, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Dann forderte sie mich auf, darauf Platz zu nehmen, damit ich sähe, wie bequem sie seien. Sie stellte einen Kessel auf den Herd, gab eingefrorene Maulbeeren und Himbeeren dazu, die sie im Sommer zuvor hinter dem Haus im Wald gesammelt hatte, und kochte mir einen sauren, ziemlich faden Tee. Während ich ihn trank und mich über den Geschmack beschwerte, band sie in Jeans und Arbeitsstiefeln ihre Haare zusammen, klemmte sich wie der Schreinermeister aus einer Dokumentation einen Bleistift hinters Ohr, maß ein Holzbrett mit einem Dreieckslineal ab und zeichnete Schnittlinien ein.
Sie meint wohl kaum, dass ich jetzt zu diesem Haus kommen soll. Meine Frage »Wo steckst Du?« wird von ihrer nächsten Mitteilung überholt. Darin steht der Name eines Krankenhauses, von dem ich zum ersten Mal höre. Es folgt dieselbe Bitte wie zuvor.
Kannst Du schnell kommen?
Gleich darauf eine weitere Nachricht:
Bring Deinen Ausweis mit!
Ich denke kurz darüber nach, ob ich zuerst nach Hause gehen soll. Der lange Daunenmantel, in dem ich die Wohnung verlassen habe, ist zwar zwei Nummern zu groß, aber sauber. In meiner Brieftasche stecken eine Kreditkarte, mit der ich auch Bargeld abheben kann, und mein Personalausweis. Auf halbem Weg in Richtung der nächsten S‑Bahn-Station, wo sich ein Taxistand befindet, kommt mir ein leeres Taxi entgegen, und ich winke es heran.
*
Als Erstes fällt mir ein staubiges Banner mit dem schwarzen Schriftzug »Nummer eins in ganz Korea« ins Auge. Ich habe das Taxi bezahlt, und während ich mich dem Eingang des Krankenhauses nähere, überlege ich mir: Es handelt sich offensichtlich um das beste Krankenhaus für Nervenrekonstruktions-OPs in Korea, aber warum ist mir der Name fremd? Als ich durch die Drehtür den düsteren, altmodischen Empfangsbereich mit seinem abgenutzten Interieur betrete, sehe ich zwei Bilder an der Wand, darauf eine Hand und ein Fuß, denen jeweils ein Glied fehlt. Mein Blick bleibt daran haften, obwohl sich meine Augen abwenden wollen. Ich sehe genauer hin, denn vielleicht hinterlässt die flüchtige Wahrnehmung beängstigendere Erinnerungen als die nüchterne Realität. Aber ich täusche mich. Je eingehender man sie betrachtet, desto schmerzhafter erscheinen die Fotos. Ich schwanke leicht, und mein Blick wandert nach rechts, wo zwei weitere Bilder derselben Hand und desselben Fußes nebeneinander hängen, diesmal aber sind Finger und Zeh wieder angenäht. Farbe und Textur der gesunden Haut heben sich deutlich von den Operationsnarben ab.
Wenn Inseon in diesem Krankenhaus liegt, bedeutet das, dass sie in ihrer Holzwerkstatt einen Unfall hatte.
Es gibt diese Art von Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Sie treffen, ohne zu zögern,...
Erscheint lt. Verlag | 16.12.2024 |
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Übersetzer | Ki-Hyang Lee |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | 작별하지 않는다 (We Do Not Part) |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 3. April 1948 • Amerika • Armee • Aufbau Verlag • Aufstand • Bodo-Liga • Bücher aus Südkorea • Deine kalten Hände • Die Vegetarierin • Familiengeheimnis • Frauen • Freundschaft • Geschichtsaufarbeitung • Griechischstunden • Han Kang • Insel • Insel Jeju • Internationale Literatur • Japan • Japanische Besatzung • Jeju • Kälte • Ki-Hyang Lee • kommunistisch • Korea • Liebe • Literatur • Massaker • Menschenwerk • Militärregierung • Mutter • Nobelpreis • Nobelpreis Literatur • Nobelpreisträgerin • Nordkorea • rechte Milizen • Roman • Schnee • Seoul • Südkorea • Tabu • Tochter • Trauma • Übersetzung • Unmöglicher Abschied • USA • US-Militär • Vogel • weiß • Winter |
ISBN-10 | 3-8412-3730-4 / 3841237304 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3730-9 / 9783841237309 |
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