Reinhard Lauck (eBook)
100 Seiten
Voland & Quist (Verlag)
978-3-86391-436-3 (ISBN)
Ahne, 1968 in Berlin-Buch geboren, ist gelernter Offset-Drucker. Die Wende war für ihn ein Glücksfall: Er wurde arbeitslos und Hausbesetzer. Ahne war etliche Jahre bei den Surfpoeten aktiv und liest jeden Sonntag bei der Berliner Reformbühne Heim & Welt. Insgesamt sind von ihm vier Bände seiner 'Zwiegespräche mit Gott', fünf Bücher mit Kurzgeschichten sowie ein Lyrikband erschienen. Ahne ist einer der bekanntesten Lesebühnenautoren der Welt.
Ahne, 1968 in Berlin-Buch geboren, ist gelernter Offset-Drucker. Die Wende war für ihn ein Glücksfall: Er wurde arbeitslos und Hausbesetzer. Ahne war etliche Jahre bei den Surfpoeten aktiv und liest jeden Sonntag bei der Berliner Reformbühne Heim & Welt. Insgesamt sind von ihm vier Bände seiner "Zwiegespräche mit Gott", fünf Bücher mit Kurzgeschichten sowie ein Lyrikband erschienen. Ahne ist einer der bekanntesten Lesebühnenautoren der Welt.
Kapitel
Schon bei Musik wusste ich immer nicht, für wen ich sein sollte. Beatles oder Stones? Die hatten doch beide gute Lieder. „She loves you, yeah, yeah, yeah.“ Geil. Allein schon wegen „Yeah, yeah, yeah“. Ließ sich prima zu abgrölen. Aber „Paint it black“ war auch nicht schlecht. Das hatte sogar Karel Gott nachgesungen: „Die rote Tür, ich streiche sie ab heute schwarz, denn alles was so rosarot war, ist jetzt schwarz.“ Wusste man wenigstens, worum es geht. War ansonsten nur bei Udo Lindenberg der Fall. Und bei Ostrock. Aber Ostrock konntest du vergessen. Das fanden nur welche gut, die sich von Mutti mit Taschentuch und Spucke das Gesicht abputzen ließen. Igitt, war das eklig!
Meine Tür könnte auch mal ’ne andere Farbe gebrauchen. Dieses Weiß, ins Grau tendierend? Na, gab Wichtigeres. War ich jetzt in Bettina verliebt oder in Karin? Karin sah schöner aus. Aber mit Bettina verstand ich mich besser. Also nicht, dass wir uns viel unterhielten. Sie kassierte Milchgeld. Und sie lächelte, wenn sie mich daran erinnerte, dass ich noch nicht bezahlt hatte. Ich nahm immer einfache Milch. Weder Kakao noch Vanille und erst recht nicht Fruchtmilch. Milch ohne was. Einfach Milch. Milch in Pappe. In pyramidenförmiger Pappe. Angeblich wurden wir von den Sachsen darum beneidet. Oh Mann! Wenn die wüssten. Immer musstest du zu den Ersten gehören, die sich ihre Milch aus den Kübeln klaubten. Die unteren waren oft schon so durchgeweicht, dass sie suppten, säuerlich müffelten. Dann konntest du das Pyramiden-Ding bloß nehmen und gegen die Wand klatschen. Oder es auf dem Schulhof auf den Boden stellen, Anlauf nehmen und mit beiden Beinen raufspringen. Knallte herrlich und spritzte nach allen Seiten. Wir hätten es viel zu gut, würde meine Oma sagen. Recht hatte sie. Aber das konnte man eben auch nicht vergleichen, das Früher und das Heute. Jede Zeit hatte ihre Zeit. Die Vergangenheit war die Vergangenheit. Zukunft ist Zukunft. Wir lebten jetzt!
Ich wusste doch auch nicht, ob ich für den Osten sein sollte oder für den Westen. Im Unterricht wurde uns ja gelehrt, der Kapitalismus sei eine absterbende Gesellschaftsordnung. Deshalb hätte ich eigentlich für den Westen sein müssen. Lief im Fernsehen irgendein Sport, war ich schließlich auch immer für den Schwächeren. Ehrensache! Ich hielt doch auch zu den Indianern, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie keine Chance hatten gegen die Cowboys. Die Hoffnung stirbt eben zuletzt. Andererseits war es schon scheiße, wenn da drüben wenige mit ihrem Reichtum protzten und die Armen sich lediglich ’ne Spritze in den Arm drücken konnten, mal drastisch ausgedrückt. Obwohl, mein Onkel, der gehörte jetzt nicht unbedingt zu den Reichen. Er war Dreher. In der Fabrik. Ein Arbeiter. Ein Arbeiter aus der Arbeiterklasse. Und er fuhr trotzdem einen Mercedes. Hatte er seine Klasse verraten?
Verrat war so ziemlich das Beschissenste, was du machen konntest. Schlimmer noch, als gute Zensuren in Betragen, Ordnung und Mitarbeit zu haben. Schlimmer, als zum Abendbrot nach Hause zu müssen. Schlimmer, als schwul zu sein. Nee. Das war übertrieben. Das war genauso schlimm, mindestens.
Reinhard Lauck hatte seinen Verein verraten. Er hatte mit Union den FDGB-Pokal gewonnen, und als Union fünf Jahre später von der Oberliga in die Liga abstieg, ist er gegangen. Weg von Union. Hin zum Stadtrivalen. Ausgerechnet zum BFC Dynamo, dem Stasi-Klub. Dahin, wo Erich Mielke regierte, unser Minister für Staatssicherheit. Wie sie in der Klasse erzählten, hatten Fans an Laucks Haustür Sturm geklingelt. Gebeten und gebettelt, er dürfe den Verein nicht verlassen. Er solle zurückkommen. Ohne Erfolg.
Ich weiß nicht, ob etwas Böses in mir schlummert, aber irgendwie imponierte mir Reinhard Lauck. Fast alle in meiner Klasse waren für Union. Für den Underdog. Wenn man für Union war, war man anti. Ein bisschen anti. Ohne was zu riskieren. Klar, gab es auch welche, die für Magdeburg waren, oder für Hansa, oder für Carl Zeiss Jena, warum auch immer, aber fast alle, auch in meiner Umgebung, hielten zum 1. FC Union. Hier war Schöneweide, hier hatte der Klub seine Wurzeln. „Eisern“ sagten sie, weil das früher ja alles Schlosser gewesen waren, bei Union. Arbeiter. Na, lange her.
Reinhard Lauck wurde „Mäcki“ genannt. Wegen seiner Frisur, so hieß es. Ein Mäcki-Schnitt war eine Kurzhaarfrisur, bei der sämtliche Haare gleich lang waren. Komisch, die BFC-Mannschaftsfotos zeigten Lauck mit Scheitel und längeren Haaren. Eine Perücke? Unwahrscheinlich. So eine Perücke könnte einem davonfliegen, wenn man schnell wie der Wind dem Leder hinterherjagte. Und Spieler gegnerischer Mannschaften waren nicht gerade zimperlich. Die gingen einem schon mal an die Wäsche. Ab und zu. Bei umstrittenen Entscheidungen. Da brannte dann die Luft. Lauck hätte fürchten müssen, dass ihm jemand die Perücke vom Kopf reißt, wenn die Sicherung durchknallt, und schon hätte er dumm dagestanden, voll die Lachnummer. Die Fans kannten da keinerlei Skrupel. Allein, wie sie Riediger immer verhöhnten. Hans-Jürgen Riediger, bester Stürmer des BFC, der über 100 Tore geschossen hatte, mindestens. „Der Riediger, der Riediger, der ist ein Selbstbefriediger“ sangen sie, nach der Melodie der Vogelhochzeit, die wir im Unterricht, in Musik, hatten lernen müssen. Stimmte ja auch, also höchstwahrscheinlich. Wer holte sich nicht mal einen runter. Ab und zu? Auf dem Schulklo war das Um-die-Wette-Wichsen gang und gebe, hieß es. Hatte zumindest Mirko so erzählt. Und Mirkos Wort galt was. Mirko war der King in der Klasse, auf Mirko wurde gehört. Mir war er ein bisschen zu großkotzig, ehrlich gesagt. Manchmal ekelte ich mich sogar vor ihm. Aber gelacht hatte ich auch, als er volles Rohr an die Tafel geault hatte, in Staatsbürgerkunde, bei Frau Jennicke. Boah, war das eklig. Aber eben auch lustig.
Ich übte das Aulen bei uns im Garten. Man musste seine Zunge so formen, dass sie an den Seiten einen höheren Rand bildete, dann Spucke über den Rand in die Senke dazwischen laufen lassen, Luft holen und abrotzen. Klappte besser, wenn man von ganz tief unten dicke Brocken nach oben holte. Dann flog die Aule wesentlich weiter. Bei dünner Spucke konnte es durchaus passieren, dass man sich selbst besabberte, wenn beispielsweise der Wind ungünstig stand. War dann voll peinlich. Aulen an sich war ja cool. Aber man musste es eben können.
Unsere Vorbilder waren, neben Mirko, die Fußballer, die jeden Sonnabend in den Oberliga-Stadien ihre Kräfte maßen. Sie aulten wie die Weltmeister. Alle! Warum das so war? Um das Proletarische am Fußball zu betonen? Beim Handball war es mir jedenfalls noch nicht aufgefallen. Oder beim Volleyball. Allerdings fanden Volleyball und Handball auch in der Halle statt. Wenn sie da rotzten wie die Weltmeister, das wäre ja nicht zu verantworten. Rutschgefahr. Da müssten ständig so ’ne Helfershelfer auf das Parkett eilen und das wegwischen. Die würden sich bedanken. Beim 100-m-Lauf rotzten sie allerdings auch nicht, oder beim Diskuswerfen. Oder doch? Wenn die Kamera nicht draufhielt? Mutti hatte mich mehrfach gerügt. „Du musst das nicht machen“, hatte sie gesagt. „Du bist doch gar nicht so.“ Die hatte echt keine Ahnung. Aber wenn ich mit Mutti und Vati am Wochenende unterwegs war, ließ ich es lieber bleiben. Dann hatte ich, warum auch immer, gar nicht das Bedürfnis zu aulen.
Ob Reinhard Lauck besonders gut aulen konnte? Also im Vergleich zu seinen Mannschaftskameraden? Ich wusste es nicht. Ich konnte es mir irgendwie nicht vorstellen. Lauck war einer, der nicht besonders auffiel. Er war nicht der Klopper, der Freistoßschütze, wie Frank Terletzki, er war keine Diva, wie Hans-Jürgen Riediger, kein Knipser, wie Wolf-Rüdiger Netz, kein Riese, wie Bodo Rudwaleit, den sie überall in den Stadien der Republik mit „Bodo – Eierkopp“-Rufen empfingen. Lauck war das, was man „mannschaftsdienlich“ nannte. Ein Ackerer. Ein Arbeiter. Es mussten schließlich elf von ihnen auf dem Platz stehen, zumindest wenn sich niemand danebenbenommen hatte. Es brauchte auch diejenigen, die zwischen den Helden standen, sie mit Pässen versorgten, das Gerüst bildeten. Lauck war so einer. Ohne ihn wäre alles zusammengebrochen. Der BFC, er wäre nur ein Trümmerhaufen gewesen. Sonnenklar!
Montag sollten wir uns einen Betrieb angucken, hatte Frau Arting gesagt. Das NARVA-Glühlampenwerk. Irgendwo Warschauer Straße müsste das sein. Was für eine Freude. Manche von uns wüssten ja immer noch nicht, was sie später mal werden wollten, hatte Frau Arting gesagt. Und für die anderen sei es bestimmt auch ganz interessant. Unbedingt. Wenn mir etwas vorschwebte, dann irgendwann mal irgendwelche Drähte in irgendwelche Glasbirnen hineinzufriemeln, um diese anschließend wieder zurück auf’s Förderband zu legen. Davon hatte ich schon immer geträumt.
Ein Kassettenrekorder war mir zur Jugendweihe geschenkt worden, ein Stern-Rekorder. Damit konnte ich jetzt Musik aufnehmen. Alles was ich wollte. ‚Musik nach der Schule‘, ‚SFBeat‘, ‚Schlager der Woche‘. Bei ‚Schlager der Woche‘ liefen überhaupt keine Schlager. Höchstens mal Udo Jürgens: „Griechischer Wein, ist so wie das Blut der Erde, komm schenke ein, lalalala“. Furchtbar. Aber blieb einem im Kopf kleben, der Mist. Manchmal sang ich das Lied so vor mich hin. Das durfte dann keiner hören.
Karin hatte lange schwarze Haare. Ihr Gesicht war ein bisschen braun. Nicht so braun wie das Gesicht von Falk, dessen Vater aus dem Sudan kam. Ein bisschen braun. Angebräunt. So, wie sie in Spanien alle aussahen, vermutlich. Ich fand, in Karins Haar hätte wunderbar eine Blume...
Erscheint lt. Verlag | 21.10.2024 |
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Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Frank Willmann |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | BFC Dynamo • DDR • DDR-Nationalspieler • DDR-Oberliga • Mäcki • Ost-Fußball • Schöneweide • Zwiegespräche mit Gott |
ISBN-10 | 3-86391-436-8 / 3863914368 |
ISBN-13 | 978-3-86391-436-3 / 9783863914363 |
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