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Nirgendwo. Überall. (eBook)

Die Geschichte (m)einer europäischen Familie
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
278 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-9047-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nirgendwo. Überall. -  Nathalie Sassine-Hauptmann
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Drei Generationen Frauen im Europa des letzten Jahrhunderts. Martha, die am Ende des 2. Weltkriegs vor den Russen fliehen muss. Lucia verlässt gleichzeitig das verarmte Sizilien, um sich ein Leben im Norden Italiens aufzubauen. Ihre jeweiligen Kinder Helmut und Sophia möchten in den späten Sechzigern dem Nachkriegsmief entkommen und die gewonnenen Freiheiten ausleben. In Paris, ihrer Wahlheimat, lernen sich kennen und verlieben sich ineinander. Ihre Tochter Mathilde wächst Ende des 20. Jahrhunderts ohne Wurzeln auf und findet in der Schweiz etwas ähnliches wie ein Zuhause. Drei Generationen, eine Familie. Allen fehlen Wurzeln, sie sind Flüchtlinge, Auswanderer, Einwanderer, Reisende. Vier Frauen-Schicksale, die am Ende die Frage aufwerfen: Was bedeutet Heimat? 'Wo du herkommst ...' Für manche Menschen bedeutet das nirgends. Oder überall.

Nathalie Sassine-Hauptmann wurde in Paris geboren und wuchs in der Schweiz auf. Als Autorin von «Rabenmutter - Die ganze Wahrheit über das Mutterwer-den und Muttersein», Unternehmerin, Mammabloggerin und Journalistin in diversen On- und Offlinemedien, wagt sie sich nun an ihren ersten Roman. Sie lebt mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann in der Nähe von Winterthur.

Nathalie Sassine-Hauptmann wurde in Paris geboren und wuchs in der Schweiz auf. Als Autorin von «Rabenmutter – Die ganze Wahrheit über das Mutterwer-den und Muttersein», Unternehmerin, Mammabloggerin und Journalistin in diversen On- und Offlinemedien, wagt sie sich nun an ihren ersten Roman. Sie lebt mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann in der Nähe von Winterthur.

Kapitel 1
 
Martha, Januar 1945

Martha wollte nicht gehen. Sie stand vor ihrem halb gepackten Koffer, der offen auf ihrem ungemachten Bett lag. Es war das erste Mal, dass sie ihr Geschenk zum 18. Geburtstag im letzten Mai nutzte. Wo hätte sie auch hinreisen sollen, mitten im Krieg? Bis jetzt hatte sie zwei Wollkleider und die Strickjacke eingepackt. Letztere nahm sie wieder raus, schliesslich war es Winter und wenn sie die Jacke unter dem alten Mantel ihrer Grossmutter tragen würde, müsste sie weniger schleppen.

Martha schwitzte trotz der Kälte im Haus. Sie hatte schon lange nicht mehr gebadet, das Wasser im Brunnen war gefroren. Ihre dunklen Locken hingen ihr in die Stirn und ihr sommersprossiges Gesicht war gerötet. Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange, während sie versuchte, die aufsteigende Panik – und die damit einhergehenden Tränen – zu unterdrücken. Zwei dumme Angewohnheiten, weswegen ihre Mutter sie regelmässig rügte. Martha konnte vor Wut heulen, sie weinte, wenn sie traurig war, bekam feuchte Augen vor Glück und seit Neuestem tränten ihre Augen, wenn sie in Panik geriet. Der leichte Schmerz der Bisse lenkte sie ab. Manchmal blutete es auch. Sie atmete tief durch und versuchte, sich wieder auf das Packen zu konzentrieren.

Martha war nicht zierlich und schon gar nicht zimperlich. Sie gehörte zu den Frauen, die man in Ostpreussen «robust» und «tüchtig» nannte. Was nur bedeutete, dass die meiste Arbeit an ihr hängen blieb. Ausserdem konnte Martha «gut reden – wie ihr Vater», was auch immer das heissen sollte. Martha setzte sich erschöpft neben ihren Koffer. Wie immer war ihr Bett nicht gemacht, das Zimmer unaufgeräumt. Sie empfand diese Aufgaben als Zeitverschwendung. Ihre Mutter Bertha brachte diese Unordnung regelmässig zur Weissglut.

Marthas jüngste Schwester, Lieschen, war die Ordentliche der drei Schieweck-Mädchen. Ein hübsches, blondes Kind, aber nicht besonders praktisch veranlagt. Johanna hingegen – die Mittlere – konnte durchaus mitanpacken, aber nicht so, wie sie das gewollt hätte. Sie war als Kind an Polio erkrankt und hinkte seither, da das rechte Bein kürzer war. Dass sie die Krankheit überlebt hatte, grenzte an ein Wunder und entsprechend wurde sie von der Familie auch behandelt. Einen Mann würde sie wohl nie finden mit ihrer Behinderung, davon war Vater überzeugt. Martha vermutete, dass er insgeheim froh war, seine Johanna nicht hergeben zu müssen.

Martha ärgerte, dass ihre kluge Schwester mit denselben strahlenden blauen Augen und dicken dunklen Locken wie sie selbst als «Krüppel» abgetan wurde. Johanna war witzig, scharfzüngig und herzensgut. Martha konnte sich nicht vorstellen, dass es keinen Mann geben sollte, der sich eine solche Frau an seiner Seite wünschte. Aber Johanna war ja auch erst 16, da würde noch viel passieren. Gleichzeitig war sich Martha bewusst, dass von ihr selbst erwartet wurde, eine «gute Partie» zu machen.

Auch wenn sie keineswegs arm waren. Der Hof der Schiewecks in Prositten war kein Palast, aber er lief gut. Zumindest bis der Krieg nach Ostpreussen gekommen war. Marthas Vater, Joseph Schieweck, ein grosser, schlaksiger Mann, war im Dorf angesehen. Die Front war ihm diesmal erspart geblieben. Das unübersehbare Nachziehen seines linken Beines – eine Verletzung, die er sich im letzten Krieg zugezogen hatte – hatte ihn davor bewahrt, eingezogen zu werden. Bei der letzten Dorfversammlung hatte er allen Frauen, Kindern, Alten und Krüppeln dringend geraten, unverzüglich das Dorf zu verlassen und in Richtung Westen aufzubrechen. «Nur vorübergehend», hatte er den entsetzten Dorfbewohnern versichert. Die Guts- und Hofbesitzer, alles alte oder untaugliche Männer, sollten hierbleiben und den Russen abwehren. Der Gedanke liess sie erschauern. Der Russe, wie man die rote Armee hier nannte, stand schon so lange für den Feind, dass Martha diese Männer gar nicht mehr als einzelne Soldaten sah. Der Russe war eine Masse, undefinierbar gross, ein riesiger Klumpen, der sich bedrohlich auf sie zubewegte. Was wohl an den Gerüchten dran war, dass sie mordeten und verwüsteten?

Der Russe hatte die Grenze vor ein paar Wochen überschritten und was gestern noch als defätistisch gegolten hatte, klang jetzt wie ein Marschbefehl von Hitler persönlich: «Packt eure Sachen und haut schleunigst ab!» Alle Bewohner Ostpreussens waren angehalten, ihre Häuser und Höfe zu verlassen und in den Westen zu fliehen. Der Führer selbst war schon längst wieder in Berlin, nachdem er einige Monate in seiner Wolfsschanze bei Rastenburg verbracht und den Endsieg prophezeit hatte. Der regionale Gauleiter war ebenfalls verschwunden – wohin, das wusste niemand.

Martha zweifelte ernsthaft daran, dass die paar Männer, die im Dorf bleiben wollten, den Hauch einer Chance hatten, es zu verteidigen. Ihr Vater hatte seine Familie nach der Versammlung beruhigt: «Wir werden sie vielleicht gar nicht bekämpfen müssen. Die sind doch auch kriegsmüde. Und vielleicht sind es gar nicht so viele, wir liegen hier nicht auf ihrer Hauptachse. Macht euch keine Sorgen.» – «Aber wieso müssen wir dann weg? Wir sollten hier bei dir bleiben! Wieso solltest du ohne uns besser dran sein? Wer wird für dich sorgen, was wirst du essen?», hatte Martha gefragt. Sein Blick verfinsterte sich: «Die Russen sollen unsere Frauen gar nicht erst zu Gesicht bekommen.» Mehr sagte er dazu nicht. Martha wusste, was er meinte. Doch sie würde sich zu wehren wissen! Oder?

Ihre Mutter Bertha vermochte sie nicht darauf anzusprechen, die war so in sich gekehrt seit der angeordneten Flucht, dass man nichts mit ihr anfangen konnte. Ein Licht schien in ihr erloschen zu sein, als ahnte sie etwas, das den anderen verborgen blieb. Martha hatte sie früher zu ihrem Vater sagen hören: «Drei Mädchen. Womit haben wir das verdient?» Es gab keinen männlichen Erben auf dieser Seite der Familie. Die Schiewecks hatten «nur» drei Töchter in die Welt gesetzt, was Joseph öfter den einen oder anderen Witz in der Dorfkneipe beschert hatte. Heute fand das niemand mehr lustig, am allerwenigsten Bertha. Ihre einst resolute Art war einem in sich gekehrten Verhalten gewichen. Sie schien sich dauernd Sorgen zu machen, war in Gedanken versunken. Vor dem Krieg war es die Sorge um die Mitgift gewesen, die früher oder später fällig sein würde. Und jetzt die russischen Soldaten. «Das musste ja so kommen», murmelte sie manchmal vor sich hin.

Seit Hitler an der Macht war, kritisierte sie Martha fortwährend wegen ihres Führereifers: «Ich verstehe einfach nicht, wie man einem einzigen Mann so vollkommen bedingungslos folgen will!» – «Aber er tut doch so viel Gutes für uns, er baut Strassen, schafft Arbeitsplätze. Wir können wieder stolz auf unser Land sein. Stolz darauf, Deutsche zu sein!», argumentierte Martha hitzig. Mutter schüttelte nur resigniert den Kopf. «Hier, im Osten des Landes, hat der Führer nichts für die Leute getan, was wir nicht selbst zustande gebracht hätten.» Da hatte sie recht. Das musste Martha eingestehen. Die Menschen in Ostpreussen brauchten niemanden, sie waren stolze Arbeiter, die keine Mühen scheuten und ihr Leben meisterten.

«Auch wenn viele hier im Dorf was anderes behaupteten: Krieg bedeutet nie etwas Gutes.» Eines der seltenen Male, in denen Mutter aus ihrem Leben erzählte, erklärte sie Martha, dass der letzte Krieg schon zu viele Opfer gefordert hatte. Sie sassen in der Küche, Martha schälte Kartoffeln und Bertha machte Vorräte ein für den Winter. Rüben, Randen und Gurken. «Damals habe ich meinen Vater verloren. Nicht in einer Schlacht, sondern an den Wahnsinn, der ihn danach befiel.» Sie füllte die Gläser mit Gemüse, das Geräusch des schliessenden Deckels ploppte in der Stille. «Nach Kriegsende kehrte er zu uns zurück, war aber nie wieder der Alte. Er zitterte den ganzen Tag wie Espenlaub und nachts schrie er im Schlaf.» Mutter war den Tränen nahe gewesen, was Martha bei ihr noch nie erlebt hatte. Lauter fuhr sie fort: «Und jetzt? In diesem Krieg müssen sogar die Frauen ihre Heimat verlassen!» Daraufhin stapfte sie schnaubend aus der Küche in den Hof. Martha war betroffen sitzen geblieben, noch nie hatte sie ihre Mutter so aufgebracht gesehen.

Seit der Versammlung stritt Mutter immer wieder mit Vater, in der Hoffnung, dass er es sich anders überlegen und sie trotz allem nicht wegschicken würde. Joseph liess nicht mit sich reden, er war überzeugt, das Richtige zu tun – für sie, für die Mädchen, für seine Familie, für sein Land. Er wollte bleiben und sie sollten sich in Sicherheit bringen. «Punkt und Schluss!»

Martha schloss ihren Koffer, der jetzt prall gefüllt war, und stellte ihn hinter die Tür. Schwerfällig stieg sie die schmale Holztreppe hoch, in das kleine Zimmer, das sich Lieschen und Johanna teilten. Johanna sass auf ihrem Bett, rieb sich die Hüfte und verzog das Gesicht. «Schlimm?», fragte Martha. «Heute ja. Die Kälte, die Feuchtigkeit…» Johanna war mit ihrem Gebrechen gross geworden und beklagte sich nur selten. Das kürzere Bein verursachte ihr Schmerzen in der Hüfte, warme Kompressen und leichte Massagen halfen ihr über das Gröbste hinweg. Martha wollte sofort los eilen und ein Kirschkernkissen holen. «Lass mal, das geht schon. Hilf Lieschen lieber beim Packen.» Johanna schmunzelte und nickte in die andere Zimmerecke. Erst da sah Martha Lieschens offenen Koffer auf dem Bett – vollkommen leer bis auf ihr Tagebuch, dass die Eltern ihr vor einem Monat zu Weihnachten geschenkt hatten. «Lieschen, was machst du denn? Du hast ja noch gar nichts gepackt!» Martha schnaubte verärgert. Lieschen stand den Tränen nahe vor dem offenen Schrank.

Die Mädchen hatten in den letzten zwei Jahren kaum Neues zum Anziehen bekommen. Das...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Feminismus • Flucht • Frauen • Gastarbeiter • Heimat • Migration • Nachkriegszeit
ISBN-10 3-7598-9047-4 / 3759890474
ISBN-13 978-3-7598-9047-4 / 9783759890474
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