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Februarstille (eBook)

Aphasie nach Schlaganfall - ein persönlicher Erfahrungsbericht
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
221 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-37369-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Februarstille -  Marietta Blum
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Wenn die Welt plötzlich stillsteht: Ein Tag im Februar ändert für Marietta alles. Auf einem Spaziergang erleidet ihr Ehemann einen schweren Schlaganfall und infolgedessen eine globale Aphasie. Er kann nicht mehr sprechen und ist fortan auf Hilfe angewiesen. Die alleinige Pflege ihres Mannes und die Bewältigung des Alltags bringen Marietta bald an ihre Belastungsgrenze. Kaum jemand würdigt ihre Leistungen in dieser Krisensituation und die großen Lebensfragen drängen sich ihr vermehrt auf. Eigentlich hatte sie schon länger Trennungsgedanken, bleibt nach dem Schlaganfall aber aus moralischem Pflichtgefühl bei ihrem Mann. Irgendwann stellt sie sich zunehmend eine Frage, die zugleich ein gesellschaftliches Tabuthema ist: 'Darf ich einen kranken Menschen verlassen?' Mehrere Millionen Menschen in Deutschland pflegen Angehörige. Diese authentische Geschichte gibt einen emotionalen Einblick in ein Schicksal, das jeden treffen kann. Das Buch bietet allen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe und enthält einen großen Bereich mit Praxistipps und Anlaufstellen. Es soll ein Wegweiser und Mutmacher sein, zudem zeigt es Wege auf, wie sich jeder auf einen eventuellen Notfall vorbereiten kann. Und es wird deutlich, dass ein Umdenken in der Gesellschaft und im Gesundheitssystem stattfinden muss. Denn was wäre, wenn es einen selbst trifft?

Marietta Blum, geboren 1968 in Berlin, ist Mutter, Tochter, Freundin und vieles mehr sowie auch eine engagierte Autorin, deren Leben von ihrer Liebe zur Literatur und ihrem starken sozialen Engagement geprägt ist. Sie arbeitete fast vierzig Jahre angestellt und freiberuflich im juristischen Bereich. Nachdem ihr Ehemann einen Schlaganfall und infolgedessen eine globale Aphasie erlitten hatte, fand sie Trost und Inspiration in der Kunst des Schreibens. Ihr erstes Buch über ihre persönlichen Erfahrungen zeigt, wie man durch Worte die Komplexität menschlicher Erfahrungen erfassen kann. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Marietta Blum, geboren 1968 in Berlin, ist Mutter, Tochter, Freundin und vieles mehr sowie auch eine engagierte Autorin, deren Leben von ihrer Liebe zur Literatur und ihrem starken sozialen Engagement geprägt ist. Sie arbeitete fast vierzig Jahre angestellt und freiberuflich im juristischen Bereich. Nachdem ihr Ehemann einen Schlaganfall und infolgedessen eine globale Aphasie erlitten hatte, fand sie Trost und Inspiration in der Kunst des Schreibens. Ihr erstes Buch über ihre persönlichen Erfahrungen zeigt, wie man durch Worte die Komplexität menschlicher Erfahrungen erfassen kann. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

KAPITEL 5

Tägliche Herausforderungen

Noch am selben Tag seiner Entlassung aus der Frührehabilitation fuhr ich mit Christian zum Einkaufen, um seinen Kühlschrank aufzufüllen. Nach fast sechs Wochen Abwesenheit herrschte in seinem Kühlschrank gähnende Leere. Wir fuhren zum nahe gelegenen Penny in Berlin. Er nahm einen Einkaufswagen, ich einen kleinen Einkaufskorb, den ich in der Hand tragen konnte. Noch im Supermarkt bekam ich einen ersten Eindruck darauf, dass er fortan in seiner eigenen Welt lebte, sich nicht auf mich konzentrieren konnte und die Kommunikation an allen Stellen fehlte. Es interessierte ihn nicht mehr, ob ich meine eigenen Lebensmittel schon fertig zusammengesucht und in den Einkaufswagen gelegt hatte. Vor dem Schlaganfall hätte er auf mich Rücksicht genommen. Als er meinte, seine Sachen beisammenzuhaben, schob er den Einkaufswagen zur Kasse, bezahlte mit Bargeld und verließ das Geschäft. Im Supermarkt suchte ich ihn dann vergebens. Er stand am Auto und wartete. Es war zwecklos, mit ihm darüber zu sprechen, warum er ohne mich oder ohne auf mich zu achten aus dem Supermarkt gelaufen war, wie ich schnell feststellen musste – er konnte mir auf meine Fragen keine angemessenen Antworten geben.

Gleich am ersten Tag nach seiner Entlassung aus der Frühreha sollte sich zudem zeigen, wie schwierig es für ihn war, sich an Gespräche zu erinnern und Absprachen einzuhalten. Das Gefühl für Raum, Zeit und Orte war empfindlich gestört. Diese Erkenntnis schlug immer wieder mit aller Wucht in mein Leben ein.

Ich hatte schon während seines Rehaaufenthaltes für einen ersten Vorstellungstermin in seiner Hausarztpraxis gesorgt, damit die notwendigen Heilmittelverordnungen für Logopädie und Ergotherapie ausgestellt wurden. Christian hatte ich mehrfach und eindringlich erklärt, dass ich ihn zu Hause abholen würde und wir gemeinsam zur nur sechshundert Meter entfernten Arztpraxis gehen würden. Als ich bei ihm klingelte, öffnete niemand. Telefonisch war er nicht erreichbar. Sein Telefon war seit mehreren Wochen nicht mehr in Benutzung, da er sich an die PIN seines Smartphones nicht mehr erinnerte. Im Übrigen hatte er sämtliche Zugangscodes und PINs vergessen. Es gab keinerlei Notizen über Zugangsdaten von ihm. Ich nahm also den Reserveschlüssel zu seiner Wohnung, schloss auf und stieg voller Bangen die Treppen in den zweiten Stock hinauf. Vor meinem geistigen Auge kamen Schreckensszenarien hoch, was mich erwarten könnte, wenn ich die Haustür aufschloss. Seine Tür war nicht abgeschlossen. Als ich in seine Wohnung trat, war diese leer. Es gab keine Notiz oder irgendeinen Hinweis für mich, der Licht ins Dunkel hätte bringen können. Vor seinem Schlaganfall hätte er mir stets Bescheid gegeben, wenn sich an unserer Verabredung etwas geändert hätte, denn er war die Zuverlässigkeit in Person. Ich überlegte, noch eine halbe Stunde in seiner Wohnung zu warten. Aber er kam nicht. Mir war angst und bange und ich suchte fieberhaft nach einer Lösung. Mein nächster Gedanke war, zur Arztpraxis zu gehen, da ein leiser Hoffnungsschimmer aufkam, er könnte ohne mich dorthin gelaufen sein. Ich war mir nicht sicher, inwieweit seine Erinnerungen an Örtlichkeiten eingeschränkt waren.

Ich kam abgehetzt und verunsichert in der Praxis an. Die Mitarbeiterin empfing mich mit den erkenntnisreichen Worten: „Ihr Mann ist schon da. Wir haben uns gewundert, dass er so früh gekommen ist und auch allein, dachten aber, das hätte seine Richtigkeit. Er ist schon bei der Ärztin gewesen, die alles mit ihm besprochen hat.“

Ich war erleichtert und dann sauer – zu Unrecht auf ihn, aber besonders auf das Personal und die Ärztin. In den ganzen Wochen zuvor unterhielt ich regelmäßigen telefonischen und schriftlichen Kontakt zum Praxisteam und gab freiwillig Auskunft über seinen Zustand, weshalb sie wussten, dass es zwingend notwendig war, dass ich meinen Mann begleitete. Er saß im Wartezimmer, um die Verordnungen in Empfang zu nehmen. Als ich ihn mit der Situation konfrontierte, konnte er sich mir gegenüber nicht mitteilen und erklären.

Es waren viele wichtige Themen mit der Ärztin zu besprechen gewesen. Es war meinem Mann unmöglich, seine Angelegenheit selbst zu klären. Diese Gelegenheit hatte ich offensichtlich verpasst. Ich bestand in der Praxis dennoch auf ein persönliches Gespräch am selben Tag mit der Ärztin, welche mir ihren Unmut zu erkennen gab und mich im späteren kurzen Gespräch, an dem mein Mann noch einmal teilnahm, kaum eines Blickes würdigte. Die ganze Zeit wandte sie sich nur an ihn und behandelte mich, als wäre ich Luft. Im Gespräch richtete die Ärztin ihre Worte stets an Christian und sagte sinngemäß: „Das schaffen Sie doch alles allein. Sie dürfen sich nicht aufgeben.“

Ich war fassungslos. Hatte diese Frau überhaupt irgendeine Vorstellung von den Hürden und Konsequenzen? Ich war erzürnt und beschloss, Christian in den nächsten Wochen davon zu überzeugen, diese Arztpraxis zu wechseln.

Im Laufe der kommenden Monate sollte ich immer wieder feststellen und von anderen betroffenen Angehörigen hören, dass die meisten Ärzte, insbesondere Hausärzte, mit dem Thema Aphasie entweder nie oder nur am Rande in Berührung gekommen waren und die Tragweite sowie das Ausmaß der aus ihr resultierenden Probleme in keiner Weise nachvollziehen können. Hier besteht meiner Ansicht nach dringend Aufklärungsbedarf.

Nach dem Arzttermin schlug ich meinem Mann vor, den O2-Shop aufzusuchen, der sich einige Meter weiter befand, um die Sperre in seinem Handy aufzuheben. Es war mir wichtig, dass er wieder erreichbar war und idealerweise selbst wieder telefonieren konnte. Dieses Unterfangen stellte sich als schwierig heraus: Es gab zwei Sperren im Handy und nur eine davon konnte der Mitarbeiter aufheben. Die weitere, durch den Nutzer persönlich eingerichtete Sperre, konnte hingegen nur ein Handydoktor aufheben. Dazu müsste das Handy in einem Geschäft in Berlin-Steglitz abgegeben werden, damit alle Einstellungen so zurückgesetzt werden, dass das Handy wieder in Betrieb genommen werden kann.

Das war Christian alles zu komplex und deutlich zu viel. Seine Konzentration litt schon erheblich. So entschied er sich für das „Aussitzen“ und dafür, sein altes Handy aus den früheren Jahren, welches in der Schublade verstaubte, hervorzukramen und zu aktivieren – ohne Eingabe von Code oder PIN.

In den darauffolgenden Wochen begleitete ich meinen Mann zu allen Terminen, da weder Raum- noch Zeitgefühl für ihn existierten. Ich schrieb ihm sämtliche Termine in ein eigens dafür angeschafftes Notizbuch. Das Lesen solch kurzer Informationen funktionierte weitestgehend. Manchmal vergaß er sie trotzdem.

Es waren viel zu viele Termine, die ich neben meinen eigenen Terminen und Verpflichtungen für ihn und mit ihm wahrnehmen sollte. Da gab es seinen Stammfriseur und Barbier, dessen Nummer ich mit viel Mühe im Internet recherchierte. Mein Mann hatte keine handschriftliche Telefonliste, sondern, wie vermutlich die meisten Menschen, alle Kontakte und Daten in seinem Smartphone gespeichert, auf das ich aufgrund der fehlenden Zugangsdaten keinen Zugriff hatte.

Zum ersten Termin seit vielen Wochen bei seinem Barbier, den ich zuvor telefonisch vereinbart hatte, begleitete ich Christian. Er hat immer viel Wert auf einen gepflegten Vollbart und ordentliches Deckhaar gelegt. Beim ersten Termin erklärte ich dem Barbier kurz, welches Schicksal uns ereilt hatte, und gab ihm meine Telefonnummer für den Notfall. Auch wenn mein Mann nicht viel erzählen konnte, übernahm der Barbier umso bereitwilliger die Rolle des Sprechenden.

Ich begleitete meinen Mann in den anstehenden Wochen und Monaten zu allen Erst- und Zweitterminen, darunter bei den Logopäden und Ergotherapeuten, bei der Pediküre, beim Neurologen, Kardiologen, Neuropsychologen und bei weiteren Fachärzten. Ich suchte für Christian eine Selbsthilfegruppe und begleitete ihn zu den ersten beiden Treffen. Für vieles war eine umfangreiche Recherche und das Verfassen zahlreicher E-Mails erforderlich. Ich erledigte außerdem alle Telefonate. Das damit verbundene Zeitkontingent war enorm, meine Nerven wurden immer dünner und waren immer mehr zum Zerreißen gespannt. Meine Geduld wurde jedes Mal aufs Neue auf die Probe gestellt. In vielen Momenten wollte ich einfach alles hinschmeißen.

Ich habe für Christian einen Aphasieausweis bestellt und ausgefüllt, zudem einen Notfallausweis mit allen wichtigen Daten und Kontakten versehen, seinen Medikamentenplan in kleinerer Form kopiert und ihn gebeten, alles zusammen in seiner Geldbörse immer bei sich zu tragen und für einen möglichen Notfall bereitzuhalten.

Meinem gesamten Umfeld gegenüber bin ich von Anfang an sehr offen mit dem Schicksalsschlag umgegangen. Es tat mir gut, darüber zu sprechen, es wirkte reinigend, auch wenn sich meine Augen oft mit Tränen füllten, während ich sprach. Ich fühlte mich häufig überfordert und...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2024
Verlagsort Ahrensburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Aphasie • Betreuung von Angehörigen • Erfahrungsbericht • Globale Aphasie • Lebenshilfe • Pflege von Angehörigen • Schicksalsschlag • Schlaganfall • Selbsthilfe • Sprachstörung
ISBN-10 3-384-37369-3 / 3384373693
ISBN-13 978-3-384-37369-4 / 9783384373694
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