Nah bei Dir (eBook)
800 Seiten
Limmat Verlag
978-3-03855-283-3 (ISBN)
Adelheid Duvanel, geboren 1936 in Pratteln und aufgewachsen in Liestal, machte eine Lehre als Textilzeichnerin. Sie arbeitete auf verschiedenen Bürostellen sowie als Journalistin und Schriftstellerin. Von 1962-1981 war sie mit dem Kunstmaler Joseph Duvanel verheiratet, mit dem sie eine Tochter hatte. Bis auf ein Jahr auf Formentera lebte sie in Basel. Duvanel wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Kranichsteiner Literaturpreis.
Adelheid Duvanel, geboren 1936 in Pratteln und aufgewachsen in Liestal, machte eine Lehre als Textilzeichnerin. Sie arbeitete auf verschiedenen Bürostellen sowie als Journalistin und Schriftstellerin. Von 1962–1981 war sie mit dem Kunstmaler Joseph Duvanel verheiratet, mit dem sie eine Tochter hatte. Bis auf ein Jahr auf Formentera lebte sie in Basel. Duvanel wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Kranichsteiner Literaturpreis.
*
Basel, den 25. April 82
Liebe Maja,
es ist Sonntagabend, zwanzig nach sieben. Ich habe bei meinem Mann das Mittagessen eingenommen, dann kehrte ich in die Klinik zurück, weil mein Mann mit seiner Freundin bei Verwandten eingeladen war. Ich lag den ganzen Nachmittag auf dem Bett und heulte. Später, nachdem ich Beruhigungspillen geschluckt hatte, las ich die letzten Geschichten aus Peter Bichsels «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen.» Ich habe das Büchlein gekauft, es ist ein schönes, herausgegeben von Bernd Jentzsch im «Walter Literarium». Ich nehme gern schöne Bücher in die Hand, und noch lieber lese ich so sorgsame Texte wie diese. Ich glaube, noch vor ein paar Jahren hätten sie mich nicht angesprochen – in Gegenteil, sie hätten mich gelangweilt. Auch «Der Bub» von Hansjörg Schneider habe ich – wie das andere – mit einem Geschenkbon einer netten Schwägerin gekauft. Ehret einheimisches Schaffen!
Vorhin telefonierte mir eine Journalistin, die mit mir einen Termin abmachte; sie möchte mich ausfragen und von mir eine «Porträt-Skizze» im «Vaterland!» veröffentlichen.1
26. April.
Ich komme von der Arbeit. Es ärgert mich, dass «mein» Forscher 1912 die Eingeborenenfrauen immer «Weiber» nannte. Weshalb nannte er die Männer nicht «Kerle»? Nach der Arbeit trank ich ein Glas roten Wein im Garten des Restaurants Kunsthalle (wo wir uns trafen, als Du Deine Lesung hattest). Liebst Du Gartenrestaurants auch? Ich könnte dort – obwohl die Umgebung gar nicht besonders poetisch ist – ganze Nachmittage verträumen.
Ich habe immer noch nicht herausgefunden, wie ich einen guten Arbeitsplatz kriegen kann. Ich muss ja die Telefonnummer der Klinik angeben. Das ist keine Referenz! Auf meinem alten Klappermaschinchen getippte Texte nähme niemand entgegen; das Schriftbild ist zu wenig schön und ich vertippe mich oft, weil die Tasten klein und so nah beieinander sind. Ich könnte in der Klinik nicht ungestört arbeiten; am Morgen fummeln die Putzfrauen herum, am Nachmittag liest meine Zimmernachbarin. Als Korrektorin wäre ich unbegabt; ich schreibe nicht fehlerfrei.
Meine Zimmernachbarin hat übrigens letzten Freitag etwas Furchtbares erlebt: Ihr Lieblingsbruder ist tödlich verunglückt. Ich bin hilflos, es gibt keinen Trost.
Im Zimmer unter dem meinen klimpert jemand sehr fehlerhaft auf dem Klavier. Das nehme ich auf: mit der Seite, die nicht taub und blind ist. Seit einiger Zeit habe ich das Empfinden, eine Seite von mir sei ausgelöscht; es ist, als ob ein Wassertropfen auf eine Tuschzeichnung gefallen wäre. Voller Angst nehme ich zur Kenntnis, wie viel ich registrieren kann: es ist immer zu wenig, immer werde ich vom Gedanken gequält, da sei noch etwas, das ich empfinden müsse. Etwas Wichtiges verstecke sich. Während der ersten Zeit, die ich in der Klinik verbrachte, war ich überwach; ich war wie betrunken, vielfältige und scharfe Eindrücke liessen jede Sekunde prall erscheinen. Die kleinste Anstrengung – ein Telefongespräch zum Beispiel – liess mich zittern und schwitzen. Ständig wurde mir schwarz vor den Augen. Ich redete so viel, wie ich in meinem ganzen Leben nie geredet habe; ich denke, dass Bekannte, die mich besuchten, erschraken. Jetzt stehe ich vor einer Wand. Dahinter ist etwas, das ich unbedingt entdecken muss.
Die Fahndung läuft nun, ich habe Angst: wie wird man meine Tochter vorfinden? In welchem Zustand wird sie sein? Mein Mann sagte: «Hoffentlich ist sie tot.» Das tut mir weh. Gerne stelle ich mir vor, dass Du an mich denkst, wenn ich so grosse Angst habe; das tut mir gut.
Liebe, dankbare Grüsse
von Deiner Adelheid.
1 Beatrice Eichmann-Leutenegger: «In alle Winde verstreut …» Porträtskizze der Autorin Adelheid Duvanel, Vaterland, 24. Juli 1982.
*
2. Mai 1982
Liebe Maja,
im Korridor tobt eine Patientin, jemand habe ihr das Portemonnaie gestohlen; sie schreit, dass die Wände wackeln. Gestern stieg im Café eine Patientin auf einen Tisch und begann zu singen; eine junge Pflegerin zischte, wenn sie sich so dumm aufführe, dürfe sie nie mehr ins Café. Heute habe ich sie dort nicht gesehen. Mich hat der Gesang nicht gestört; mir gefiel sie, wie sie so theatralisch auf dem Tisch stand, einen weissen Turban auf dem Kopf.
Ich muss diesen Samstag und Sonntag in der Klinik bleiben. Gestern Abend wäre ich zusammen mit meinem Mann (ich sage immer noch «mein Mann») und Lilianne bei Elsässer Bekannten eingeladen gewesen; mein Mann wollte nicht, dass ich mitkäme, er entschuldigte mich bei den Leuten und sagte, es ginge mir schlecht. Er gab mir zu verstehen, er könne sich nicht entspannen, wenn ich dabei sei; wenn er mein trauriges Gesicht sehe, würde er automatisch auch traurig. Er sagte auch, ich solle doch nicht mehr samstags und sonntags kommen; ich «störe» Lilianne. Ich begreife das, nur: Lilianne ist während Jahren täglich zu uns gekommen und ich sagte nie, ich fühlte mich gestört. So ändern sich die Zeiten. Ich muss aber sagen, dass mein Mann mir gestern und heute Morgen telefoniert hat – ich fühle mich nicht ganz im Stich gelassen. Und eben: ich bin ja jetzt eine geschiedene Frau, habe also einsam zu sein. Gestern ass ich bei meiner Schwester und machte anschliessend mit ihr und ihrem jungen Hund einen Spaziergang. Abends sah ich mir zum zweiten Mal «Manhattan» von Woody Allen an. Heute hätte ich mit der Cellistin zusammen in einem Restaurant gegessen, doch sie hat mir telefoniert, sie habe die Grippe. Ich werde sie am Nachmittag besuchen. (Was macht nun die alte Frau, zu der sie jeden Tag morgens und abends geht, um sie zu füttern und zu waschen? Mein Gott, wenn ich nur im Alter nie so hilflos werde!)
Meine Tochter sitzt wahrscheinlich in Sorrento (ich glaube, so heisst die Ortschaft) bei Neapel im Gefängnis. Fest steht, dass sie mit dem Therapeuten der therapeutischen Wohngemeinschaft, von wo sie abgehauen ist, nach Italien fuhr; der Therapeut hat die Kasse gestohlen und das Auto seiner Frau verkauft. Mein Mann kriegte vor ca. einer Woche mitten in der Nacht einen Telefonanruf: ein Hotelier aus Sorrento beschwerte sich, meine Tochter und er hätten die Hotelrechnung nicht bezahlt. So viel mein Mann verstand, hat der Therapeut meine Tochter in jenem Hotel ohne Geld sitzen gelassen. Mein Mann, wütend, sagte, sie sei nicht nur eine Zechprellerin, sondern habe auch mit Drogen zu tun, wahrscheinlich denken die jetzt, sie gehöre zu einem Rauschgiftring. Seither hat man nichts mehr von ihr gehört. Ich habe das Jugendamt informiert und dieses hat die Polizei benachrichtigt, doch es wird nichts unternommen.
Liebe Maja, ich möchte alles vergessen können, auch die Mühe, die ich habe, um meinen Namen behalten zu dürfen: Ich musste an den Heimatort schreiben, um einen Familienschein zu kriegen, ich muss zum Gericht, um eine «Rechtskraftbescheinigung» zu holen, ich brauche die Unterschrift meines Mannes plus eine «Wohnsitzbescheinigung» (ich habe ja gar keinen Wohnsitz), ich muss das Scheidungsurteil samt Scheidungskonvention einsenden … Auch über mein (nicht vorhandenes) Vermögen muss ich Auskunft geben. Mir raucht der Kopf. Ich möchte mit Dir in Paris an einem Marmortischchen sitzen und die Leute beobachten, die hin- und hereilen.
Es ist lieb, dass Du mir Deine Maschine leihen willst, aber ich möchte eigentlich keine Heimarbeit, ich hoffe eher, ich kriege auswärts eine Stelle, so muss ich nicht den ganzen Tag in der Klinik verbringen.
Frau Eichmann umweht tatsächlich etwas «Kichriges». Aber ich fand sie sympathisch und ich wunderte mich, dass sie fast keine Fragen stellte und keine Notizen machte. Ich bin auf die «Porträt-Skizze» gespannt.
Die Freundin des Sohnes von Otto F. Walter (er hat drei Söhne wie im Märchen) bemüht sich um die Entlassung des Patienten; sie ist eine tatkräftig wirkende junge Frau mit funkelnden Augen. Er möchte unbedingt austreten, doch seine Ärztin findet ihn noch zu wenig gesund.
Jahrelang hatte ich das Gefühl, ich lebte in einem Bild meines Mannes; jetzt bin ich herausgefallen. Ich bin ohne Landschaft und ohne Interieur, einfach eine Person im Leeren. Ich halte mich an Deinen Briefen. Ich danke Dir, dass Du mich nicht im Stich gelassen hast, auch nicht, als ich Dir nur traurige, kleine Zettel * schickte.
Alles Liebe!
Adelheid.
* symbolisch gemeint …
*
6. Mai 82
Liebe Maja,
so früh kam die Post gar nie: heute Morgen wurde mir Dein Brief um 7.15 Uhr übergeben. Ich las ihn absichtlich nicht sofort, sondern frühstückte zuerst; so konnte ich mich auf ihn freuen. Denk Dir, ich habe an Frau Eichmanns Artikel überhaupt nichts abgeändert, obwohl die «triefende Ehrfurcht vor Lebensprüfungen» mich etwas erschreckt hat; mit kleinen Korrekturen hätte man da nichts Wesentliches ändern können: sie sprach...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2024 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Adelheid Duvanel • Basel • Belletristik • Briefe • Co-Abhängigkeit • Drogensucht • Klaus Siblewski • Literatur • Maya Beutler |
ISBN-10 | 3-03855-283-6 / 3038552836 |
ISBN-13 | 978-3-03855-283-3 / 9783038552833 |
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Größe: 4,3 MB
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