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'Fahren Sie sofort los!' -  Ingo Rose,  Barbara Sichtermann

'Fahren Sie sofort los!' (eBook)

Alexandra Kollontai: Ein Frauenleben zwischen Auflehnung und Macht
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag Kremayr & Scheriau
978-3-218-01437-3 (ISBN)
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(CHF 18,55)
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Wenn nicht ich, wer sonst? Eine differenzierte Biografie der russischen Vorkämpferin für soziale Gerechtigkeit und Frauenemanzipation. Alexandra Kollontai (1872-1952): Ein Mädchen aus gutem Hause zieht es in den Untergrund von St. Petersburg, wo Ende des 19. Jahrhunderts die Revolution gärt. Als Sozialistin will sie die Gesellschaft verändern, die Frauen befreien. Im Exil erlebt sie mit, wie ihre politischen Freunde den Ersten Weltkrieg bejahen. Die russische Revolution holt sie nach Petrograd zurück. Hier wird Kollontai Mitglied im ersten Kabinett Lenin und erste Botschafterin der modernen Welt, stets im Widerstreit zwischen gesellschaftlichem Idealismus und politischer Realität. Bis heute gelten ihre Werke als feministische Pflichtlektüre.

Ingo Rose, 1963 geboren, lebt seit vierzig Jahren in Berlin, ist Dozent für Erwachsenenbildung und schreibt seit zwanzig Jahren mit seiner Lebensgefährtin Barbara Sichtermann Essays und Romanbiografien. Barbara Sichtermann, 1943 geboren, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie studierte Volkswirtschaft in Berlin und arbeitet seit 1978 als freie Autorin. Sie schrieb mehr als dreißig Bücher und erhielt verschiedene Preise, u. a. den Jean-Améry- Preis für Essayistik und den Theodor-Wolff- Preis für ihr Lebenswerk.

Ingo Rose, 1963 geboren, lebt seit vierzig Jahren in Berlin, ist Dozent für Erwachsenenbildung und schreibt seit zwanzig Jahren mit seiner Lebensgefährtin Barbara Sichtermann Essays und Romanbiografien. Barbara Sichtermann, 1943 geboren, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie studierte Volkswirtschaft in Berlin und arbeitet seit 1978 als freie Autorin. Sie schrieb mehr als dreißig Bücher und erhielt verschiedene Preise, u. a. den Jean-Améry- Preis für Essayistik und den Theodor-Wolff- Preis für ihr Lebenswerk.

Prolog
Das alte Russland


Am 19. März im Jahre 1872 kam Alexandra Michailowna Domontowitsch in St. Petersburg zur Welt. Sie war ein Kind der Liebe. Ihr Vater, der Offizier Michail Alexejewitsch Domontowitsch, stammte aus der Ukraine, und ihre Mutter Alexandra Alexandrowna Massalina-Mrawinskaja kam aus einer finnischen Holzhändlerfamilie; ihrer beider Herkunftsländer gehörten damals zum Russischen Reich. Sie hatten sich in ihrer Jugend kennen und lieben gelernt. Aber aus der ersehnten Heirat wurde nichts. Alexandras Vater Alexander Massalin glaubte nicht daran, dass es dem jungen Verehrer seiner Tochter mit der Eheschließung ernst sei. Denn das Geschlecht der Domontowitsch war von sehr altem Adel, und so erschien es zweifelhaft, dass Michails Eltern eine Holzhändlertochter als Frau für ihren Sohn akzeptieren würden. Eilig suchte und bestimmte der besorgte Massalin einen anderen Mann für seine Tochter.

Die Verliebten mussten sich fügen. Alexandra Alexandrowna heiratete den Ingenieur Konstantin Iosipowitsch Mrawinski, sie bekam mit ihm zwei Töchter und einen Sohn. Aber sie konnte ihre Jugendliebe nicht vergessen, und als sie und Michail sich zehn Jahre nach der Trennung wiedersahen, zeigte sich, dass auch Michail seine Alexandra nicht vergessen hatte. Die beiden holten nach, was sie in jungen Jahren hatten versäumen müssen, und als Alexandra schwanger wurde, ließ sie sich von Mrawinski scheiden und heiratete bald nach der Geburt ihrer Tochter deren Vater Domontowitsch. Es galt, ihr altes junges Glück für dieses Mal und für immer festzuhalten. Der Vater erklärte das gemeinsame Kind nach der Hochzeit für seines und adoptierte es.

Für die kleine Alexandra waren, als sie das Licht der Welt erblickte, nicht nur ein verliebtes Elternpaar da, sondern auch noch zwei Halbschwestern und ein Halbbruder, ganz abgesehen von Ammen und Kinderfrauen und Bediensteten, die sie auf den Armen umhertrugen. Wie hübsch und wie erstaunlich sie war: rund und rosig, ein dichter dunkelblonder Lockenschopf, schöne blaue Augen, eine kaum zu bändigende Lebhaftigkeit, ein Kind, wie man es sich nur wünschen kann.

Russland wurde damals von Zar Alexander II. aus der alten Dynastie der Romanow regiert. Der herrschte von Gottes Gnaden über das größte Reich der Erde und viele verschiedene Völker, darunter auch die Ukrainer und die Finnen. Es war erst elf Jahre her, dass er die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben hatte. Und die Bauern – das war der weit überwiegende Teil der Bevölkerung. Zwischen achtzig und neunzig Prozent der Menschen lebten auf dem Lande, die meisten waren bitterarme Selbstversorger und seit Generationen daran gewöhnt, ihren Gutsherren saftige Abgaben zu leisten. Als sie im Jahre 1861 vernahmen, dass sie befreit werden sollten, hofften sie auf eine Verbesserung ihrer Lage. Die aber blieb aus, denn sie erhielten die ihnen zugeteilten Äcker nicht umsonst, sondern mussten den Preis über eine Art Grundsteuer, die von der Dorfgemeinschaft eingesammelt wurde, abstottern. Die Bauern waren zumeist des Lesens und Schreibens unkundig, sie wussten überhaupt nicht, wie ihnen geschah, verstanden die neuen Verordnungen nicht und zogen mit Heugabeln und Sensen vor die Ämter in ihren Dörfern, um dort die Obrigkeit zu ersuchen, sie mit der so genannten Freiheit zu verschonen. Es kam zu Hunderten von Aufständen. Die Zentralregierung, sprich der Zar, stand aber zu seiner Großen Reform. Er hatte seine Gründe.

Acht Jahre vor der Aufhebung der Leibeigenschaft war Russland, damals von Alexanders Vater Nikolaus I. regiert, gegen seinen Erzfeind Türkei in den Krieg gezogen. Diesmal hatten sich England und Frankreich hinter das Osmanische Reich gestellt, um etwaige russische Gebietsansprüche ein für alle Mal abzuwehren. Nikolaus Armeen waren an sämtlichen Fronten vernichtend geschlagen worden. Die Alliierten landeten auf der Krim und stürmten Sewastopol. Die Russen mussten sich ergeben. Ihre Bilanz sah düster aus: Das Militär war ein korrupter Haufen, Heer und Marine schienen ihrer technischen Rückständigkeit wegen keinesfalls fähig zur Revanche, ganz abgesehen von der Dysfunktionalität des Verkehrswesens und der Nachschuborganisation. Zar Nikolaus, im Angesicht der Katastrophe, legte sich ins Bett und starb – ob durch eigene Hand oder durch eine Infektion der Lunge, blieb ungeklärt. Sein Sohn Alexander II. wurde sein Nachfolger auf dem Zarenthron, und ihm erläuterten seine Berater, worum es letztlich ging:

Die Bevölkerung Russlands müsse in Bewegung kommen, die überzähligen Bauernsöhne sollten in die Städte strömen können, um in dort zu gründenden Fabriken Eisenbahnen, Kanonen und Kriegsschiffe herzustellen. Der erste Schritt dazu sei eine Lösung der Fesseln, welche die Bauern an das Land banden, also die Aufhebung der Leibeigenschaft. Die Gutsherren waren natürlich nicht dafür. Aber die Modernisierer überzeugten Alexander. Und die überrumpelten Bauern mussten mit den neuen Gegebenheiten irgendwie zurechtkommen. Das agrarische Russland sollte sich, so hoffte Alexander, in einen Staat verwandeln, der es technisch, wirtschaftlich, militärisch und infrastrukturell mit den europäischen Nationen aufnehmen könnte und beim nächsten Waffengang (womöglich wieder gegen die Türken) obsiegen würde.

Vorderhand aber waren Russlands Strukturen noch mittelalterlich. Ganz oben rangierte die international vernetzte, zur Verschwendung neigende Aristokratie mit dem Zaren und seiner absoluten Macht an der Spitze. Der Zar kontrollierte das Militär und wurde seinerseits von der – orthodoxen – Kirche hofiert. Die Mitte bildete der besonders konservativ eingestellte träge Landadel, ferner die unbedingt autoritätshörige Schicht aus Bürokraten und Dienstleistern. Und unten wurachte die erdrückende Mehrzahl der Bevölkerung, Heerscharen bettelarmer Bauern, die oft nicht mal ein Pferd besaßen und sich selbst vor ihren Pflug spannen mussten. Ein solches Land war außerstande, von heute auf morgen „modern“ und wirtschaftlich leistungsfähig zu werden. Der Wandel brauchte Zeit, sofern er überhaupt stattfinden konnte.

Als Alexandra Michailowna Domontowitsch auf die Welt kam, sah Russland in großen Landesteilen noch aus wie eh und je. Die Bauern waren immer noch Analphabeten und erwirtschafteten höchstens spärliche Überschüsse. Der Adel verschuldete sich weiter, und die relativ geringe Zahl der Gebildeten in den wenigen Großstädten orientierte sich nach Westeuropa. Allerdings hatte der Staat mittlerweile ein Eisenbahnwesen angeregt, und an den Rändern der Städte entstanden die ersten größeren Fabriken, vor allem für Textilien und Maschinenbau. Ferner kam die Förderung von Rohstoffen, vor allem Eisenerz, mithilfe neuartiger Methoden in Schwung. Aber die große Mehrheit der Menschen lebte bescheiden in ländlichen Gebieten, haderte mit dem im Grunde verehrten Zaren seiner bedrohlichen Reformen wegen und vertraute höchstens den Popen des nächstliegenden Kirchspiels. Die ihrerseits nichts auf den Zaren und die Autokratie kommen ließen.

Die berüchtigte russische Rückständigkeit lässt sich an vier großen Versäumnissen im Hinblick auf vier bedeutende historische Wendepunkte in Europa (und Übersee) festmachen. Die russisch-orthodoxe Kirche war nie von einer Reformation herausgefordert worden, die Geistlichkeit blieb doktrinär festgefahren und genauso autokratisch verfasst wie die weltliche Macht. Zweitens hatte das große Abenteuer der Aufklärung, das im Westen die Geister seit fast zwei Jahrhunderten in Aufregung versetzte, Russland höchstens gestreift. Außerdem konnten, drittens, die politischen Ideen des Liberalismus, die im Westen die Demokratie vorbereiteten, in Russland politisch nirgends zur Wirkung gelangen. Und das letzte, wohl folgenreichste Versäumnis, das bei der Niederlage im Krimkrieg schon seine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte, war die Unfähigkeit der Russen, rechtzeitig jene Umwälzung von Wirtschaft, Technik und Mobilität mitzuvollziehen, die Anfang des 19. Jahrhunderts von England aus den europäischen Kontinent erfasste und später industrielle Revolution genannt wurde.

Es gab zwar in den 1870er-Jahren in Russland schon eine Industrie, die beschränkte sich aber standortmäßig auf die wenigen größeren Städte und war fast ausschließlich vom Staat oder von ausländischen Investoren initiiert worden. Das lässt sich gut an der Geschichte des russischen Eisenbahnwesens illustrieren. Der Staat verfügte die Einrichtung dieses neuartigen Verkehrsmittels, schon weil künftig Kriegszüge ohne die Dampfrösser mit ihrer Geschwindigkeit und Reichweite nicht mehr denkbar waren. Der Planer, der die ersten russischen Eisenbahnstrecken entwarf, war ein österreichischer Ingenieur, und die erste Lokomotive, die auf russischem Boden entlangdampfte, war ein Import aus England. Eigenes Know-how für die industrielle Revolution besaßen die Russen nicht, denn es fehlte ihnen dafür eine starke Mittelklasse, ein ehrgeiziges und risikobereites Bürgertum, das unternehmerisch tätig werden wollte und dafür um politischen Einfluss hätte kämpfen müssen. Jener Platz im gesellschaftlichen Gefüge, wo sie hätte entstehen können, die Sphäre zwischen der abgehobenen Aristokratie und der unter primitivsten Bedingungen hausenden und schaffenden Landbevölkerung, hatte sich nicht mit innovativen Gründern, kühnen Erfindern, weltgewandten Kunsthandwerkern, selbstbewussten Bossen und wetteifernden Handelshäusern gefüllt, sie war eine immer weiter sich vertiefende Kluft geblieben.

Die Menschen litten unter dieser Bewegungslosigkeit des sozialen...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2024
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Befreiung • Biografie • Botschafterin • Erster Weltkrieg • Feminismus • Frauenemanzipation • Russische Revolution • Russland • Sozialismus • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-218-01437-9 / 3218014379
ISBN-13 978-3-218-01437-3 / 9783218014373
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