Das letzte Leuchten im Winter (eBook)
480 Seiten
Gutkind Verlag
978-3-98941-021-3 (ISBN)
Hanna Pylväinen ist eine preisgekrönte US-amerikanische Schriftstellerin und Hochschuldozentin. Die Tochter finnischer Eltern wuchs in einer großen Familie auf, die der laestadianisch-lutherischen Erweckungsbewegung nahesteht. Pylväinens Texte erschienen in der New York Times und dem Wall Street Journal. Sie studierte an der University of Michigan und in Princeton. Das letzte Leuchten im Winter ist inspiriert von wahren Ereignissen. Für ihre Recherchen verbrachte sie mehrere Monate unter den Sámi.
1
Der Tag des Erdbebens war der dunkelste Tag des Jahres. So weit im Norden war das, was als Tag galt, nur dünnes Zwielicht, hier fielen keine Schatten, die Spitze des Kirchturms zeichnete sich nicht im Schnee ab, und der Fluss, der Wald, die Hügel waren gefangen in halbfertigem Licht. Dies löste ein kollektives, wenn auch unausgesprochenes Unbehagen aus, aber die meisten Menschen waren daran gewöhnt – hätte man sie vor die Wahl gestellt, hätten sie gesagt: Lasst uns wandeln in der Finsternis, und wären dann wieder an ihre Arbeit gegangen. So jedenfalls hielten es diejenigen, die hier aufgewachsen waren, unter ihnen Lars Levi – er empfand die Kälte und die Dunkelheit als belebend, er war ein Mann der Extreme, und so zog es ihn zu den Extremen, sie taugten ihm, sie trieben ihn an.
Aber selbst er musste zugeben, dass an diesem Morgen etwas aus dem Gleichgewicht geraten war. Er hatte in der Nacht zuvor von etwas Wichtigem geträumt, wovon, daran konnte er sich nicht erinnern, und es beunruhigte ihn, dass ihm vielleicht eine wichtige Botschaft entgangen war. Er war ein Mann, der an diese Dinge glaubte, der Gefühlen eine wesentliche Bedeutung beimaß, einerseits, weil seine Mutter so gewesen war, andererseits, weil das Land sie zu solchen Menschen machte – niemand konnte unter den Nordlichtern und der Mitternachtssonne leben, ohne überzeugt davon zu sein, dass es noch etwas anderes gab als Rationalität, und schon gar nicht Lars Levi, der seit zweiundzwanzig Jahren als Pfarrer dieser nördlichsten aller Gemeinden diente, ein Mann von gewissem Hochmut, aber niemand, den man der Unaufrichtigkeit bezichtigen konnte. Er war hier, um zu predigen, er glaubte seinen eigenen Worten, aber heute war er sich seiner Berufung besonders sicher, und das Gewicht dieser Berufung erfüllte ihn mit Eifer. Er schritt den Seitengang auf und ab und ging in Gedanken eine Liste an kleinen Aufgaben durch, die er zu überprüfen hatte – hatte Henrik die Glocke geläutet? Hatte Willa Feuer im Ofen gemacht?
Die Kirche füllte sich, das tat sie wirklich, die Finnen auf ihren üblichen Plätzen in den vordersten Reihen, dahinter die Lappländer, die Lappen, die Sámi, wie auch immer man sie nannte – er sagte Lapp, wenn er mit den Schweden sprach, und Sámi, wenn er mit den Sámi sprach –, und erst da wurde es Lars Levi so richtig bewusst: Seiner Gemeinde gehörten achthundertneunundzwanzig Mitglieder an, aus einem Umkreis von über hundert Meilen, und ein gutes Viertel von ihnen war an diesem Tag anwesend. Die Finnen waren auf Skiern stundenlang dem zugefrorenen Fluss gefolgt, die Sámi hatten ihre Rentiere vor die Schlitten gespannt und waren zwanzig, vierzig Meilen durch den Schnee gefahren, um hierherzukommen, in ein winziges Kirchdorf auf der schwedischen Seite, wo allein zehn der vierzig Einwohner seine eigene Familie ausmachte, nur um ihn sprechen zu hören, ihn, Lars Levi Laestadius – aber hatte Henrik die Glocke geläutet?
Henrik hatte die Glocke geläutet und war dann sofort zurück in seinen Laden gegangen, der auch sein Zuhause war; die Leute nannten es das Dunkle Haus, weil man dort Alkohol erstehen konnte, im Prinzip illegal, aber erstens waren die Gesetze nicht durchsetzbar, weil zu viele Leute sie brachen, und zweitens bestand Henrik nicht auf Prinzipien, er bestand darauf, aus seinen Schulden rauszukommen, und außerdem war er der Meinung, dass die Dunkelheit sie alle in den Wahnsinn treiben würde, also könnten sie sich genauso gut im Alkohol ertränken. Er kam nicht von hier, und er war nicht auf dieser Welt, um zu frieren und das auch noch Glück zu nennen – bei Gott, wenn er das Geld gehabt hätte, wäre er schon am Tag seiner Ankunft gleich wieder abgereist! Hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre nicht mehr zurückgekommen. Da er aber nun dieses Ende der Welt nicht verlassen konnte, wollte er zumindest das ganze Gerede übers Sündigen denen überlassen, die sich unentwegt in der Reue über ihre Sünden suhlten. Er selbst hatte es so satt, dieses Gerede und all die Belehrungen, oft vorgehalten von denselben Leuten, die später zu ihm kamen, um Brännvin zu kaufen. Zudem war die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass jemand die Gunst der Stunde nutzte und während des Gottesdienstes zu seinem Laden schlich, um den einen oder anderen sündigen Tropfen zu erwerben, und dieses Geschäft konnte er sich nicht entgehen lassen. Wie außerdem sollte Lars Levi bemerken, dass er nicht anwesend war? So voll, wie es heute war?
Niemandem war aufgefallen, dass Henrik nicht zurückgekommen war. So viele Menschen hatten sich in der Kirche versammelt, dass es ausnahmsweise mal warm wurde, alle hatten ihre Mützen abgenommen und schüttelten den Schnee von ihren Mänteln, lose Fellbüschel rieselten auf den Boden, als würde es drinnen genauso schneien wie draußen. Auch am Geräuschpegel konnte man die Aufregung erkennen, ein Gespräch lauter als das andere, mal höflich, mal deftig, hallo, hallo, schön, dich wiederzusehen, hallo, toller Mantel, hallo, hallo, bevor man zu den wesentlichen Themen überging. Wahrscheinlich hätten die Leute bis nach der Predigt damit warten sollen, aber niemand konnte sich zurückhalten, die Dinge kamen sowieso zur Sprache, habt ihr schon gehört, sagten die Leute, in einem Ton, der Besorgnis ausdrückte, in dem jedoch in Wirklichkeit Entsetzen mitschwang, vom Heikkillä-Jungen, der mit zwei Daumen an der rechten Hand zur Welt gekommen ist?
Das jedenfalls erzählten sich die Finnen. Die Sámi wussten in der Regel nicht viel über die Finnen und tauschten sich über ihre eigenen Angelegenheiten aus – sie wollten wissen, ob die Herden der anderen gut durch den Sommer gekommen waren, auch wenn niemand preisgeben wollte, wie es um die eigene Herde stand, niemand würde wirklich direkt fragen oder ehrlich antworten, dennoch konnte man sich seinen Teil denken, wenn jemand einen neuen Pelz trug; oder aber sie erkundigten sich, wie die Wanderung verlaufen war, wie lange man gebraucht hatte, um von der Küste herzukommen; und auch wenn niemand über die eigene Herde sprach, redete man doch gern über die Herde eines anderen – zum Beispiel über die vielen weißen Kälber, die die Tommas nicht geschlachtet, sondern einfach in der Herde gelassen hatten, um sich wichtigzumachen. Über die Tommas zu sprechen fiel den meisten leicht, denn alle waren ihnen gegenüber etwas missgünstig: Sie waren Ren-Adel. Sie prahlten zwar nicht damit, nicht offen, aber das war auch nicht nötig – scheinbar erweiterten die Tommas ihre Siida jedes Jahr um einen weiteren Hirten, der ihnen mit der Herde half, und das sprach für sich. Heute fiel es den Leuten noch leichter, über die Tommas zu sprechen, da sie nicht anwesend waren – und dann war da noch die sehr interessante Nachricht, dass sich Risten Tomma mit dem Piltto-Jungen verlobt hatte. Nicht gerade das, was man von einer wohlhabenden Familie erwartet hätte, aber wenn man so reich war, war es vielleicht auch egal, wen man heiratete. Das sagte natürlich niemand, doch alle wussten, dass sie dasselbe dachten. Er wird viel Glück brauchen, mit Nilsa Tomma als Schwiegervater, sagten die Leute, als ob sie den Piltto-Jungen bemitleideten, statt ihn zu beneiden.
Was niemand laut aussprach, war, warum sie wirklich alle hier waren. Lars Levi hatte recht – der Aufwand, in die Kirche zu kommen, war so groß, dass die meisten nur dann erschienen, wenn es wirklich nötig war, an den vier heiligsten Feiertagen, um Steuern zu zahlen, um sich konfirmieren zu lassen oder Besorgungen in Henriks Laden zu machen, aber keiner von ihnen wagte es, sich einzugestehen, dass sie diesmal alle aus demselben Grund gekommen waren: Im Laufe des Sommers hatte das Gerücht die Runde gemacht, Lars Levis Predigten seien besonders exzentrisch geworden, Leute, die ihm zuhörten, schienen wie von einer Krankheit befallen und warfen sich wild herum, und deshalb waren sie alle hier, hauptsächlich aus Neugierde, um zu sehen, wie jemand anderes den Verstand verlor. Obwohl, wenn sie darüber nachdachten, war Lars Levi schon im Jahr zuvor ein wenig seltsam geworden … Oder hatte es ein paar Sommer zuvor begonnen, nachdem sein Sohn gestorben war?
In den Gängen schnappten die Hunde nacheinander, Kinder liefen umher und starrten Fremde an. Vorn stand Lars Levi, der neuerdings den Spitznamen der Irre Lasse trug, und beobachtete sie alle, überlegte, wann es sinnvoll wäre, anzufangen, denn es würden sicher noch einige Leute nachkommen. So war es hier, es gab keine klaren Regeln, kein Stück Holz hatte eine glatte Bruchkante, und der einzige Weg, damit umzugehen, bestand darin, zu akzeptieren, dass die Gottesdienste, die im Allgemeinen morgens bei Tagesanbruch, also gegen zehn Uhr, eingeläutet wurden, in Wirklichkeit um halb elf oder sogar erst um elf begannen, und er musste sich an den Erfolg klammern, den Gottesdienst überhaupt abhalten zu können.
Nicht dass Lars Levi es ihnen übel nehmen würde. Er hatte ein gewisses Interesse an den finnischen Mitgliedern, die ein Viertel seiner Gemeinde ausmachten, und er fühlte sich ihnen gegenüber verantwortlich, vor allem für ihre Armut, aber es war das Herz der Sámi, das er erobern wollte. Er konnte nicht sagen, warum das so war – lag es daran, wie schlecht sie so lange von anderen Pfarrern behandelt worden waren? Waren es sein eigenes samisches Blut und seine Sympathien, sein Gefühl, dass sie zu Unrecht geschmäht wurden? Mochte er diesen Menschenschlag einfach lieber, war es in der Tat etwa so, dass er ihre Lebenskraft bewunderte – sie gar darum beneidete –, die harte Arbeit, die sie verrichteten, ohne auch nur einen Tag Pause? Oder war es ein Akt der Solidarität, schlicht und ergreifend, entsprungen aus seiner Zeit im Süden, wo er an der Seminarschule verspottet...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2024 |
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Übersetzer | Karoline Hippe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98941-021-0 / 3989410210 |
ISBN-13 | 978-3-98941-021-3 / 9783989410213 |
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