Die kleine Sache Widerstand (eBook)
168 Seiten
Czernin Verlag
978-3-7076-0846-5 (ISBN)
Nils Klawitter, geboren 1966 in Hamburg. Studierte Geschichte, Politik und Rechtswissenschaften in Göttingen, Besançon und Berlin. Er absolvierte die Deutsche Journalistenschule in Mu?nchen und arbeitete 21 Jahre als Redakteur beim SPIEGEL. Zusammen mit Dietmar Pieper Herausgeber des SPIEGEL-Bestsellers »Das Reich der Deutschen« (2016). Jetzt lebt er als freier Autor in Hamburg.
Nils Klawitter, geboren 1966 in Hamburg. Studierte Geschichte, Politik und Rechtswissenschaften in Göttingen, Besançon und Berlin. Er absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München und arbeitete 21 Jahre als Redakteur beim SPIEGEL. Zusammen mit Dietmar Pieper Herausgeber des SPIEGEL-Bestsellers »Das Reich der Deutschen« (2016). Jetzt lebt er als freier Autor in Hamburg.
1
ZU HAUSE
Die Frau, die den Gang des Altersheims entlangkommt, hat es eilig. Sie schlängelt sich an einigen Bewohnern vorbei, die bereits auf das Mittagessen warten. Gegen elf Uhr mit dem Rollator vor dem Speisesaal des Heims herumzukreuzen, das ist für manche ein beliebtes Ritual geworden. Für die Frau ist es Zeitverschwendung. Ein kurzer Gruß, dann muss sie weiter. Sie hat ja noch etwas vor, und so viel Zeit bleibt nicht mehr.
Die Frau ist dezent geschminkt, ihr weißes Haar ist ordentlich frisiert. Manchmal nimmt sie jetzt den Stock. Ein wenig hat auch ihr Tempo nachgelassen. Ihre Erinnerung aber nicht. An der Rezeption winkt man ihr nach.
Das Heim, in dem sie wohnt, nennt sich Résidence. Es liegt in Saint-Étienne, wo der Süden Frankreichs beginnt, auch wenn dieser Septembermorgen noch grau und kühl ist.
Melanie Berger, das ist ihr Name. Sie hatte auch andere, um sich zu tarnen. Um zu überleben. Aber das ist eine Weile her. Ein paar Wochen, und sie wird 101.
Vier Jahre zuvor habe ich sie zum ersten Mal getroffen, sie brauchte damals keinen Stock. Sie hätte sich auch nicht bei mir untergehakt, wie sie es inzwischen manchmal macht. Damals war ich überpünktlich und ihr von dem kleinen Hotel aus, wo wir uns treffen wollten, entgegengegangen. Sie aber rauschte dermaßen flink an mir vorbei, dass ich dachte: Das kann sie nicht sein. Erwartet hatte ich eine 97-Jährige mit gedrosselter Geschwindigkeit, keine Marathonläuferin. Ich hatte mit Ermüdung und Gedächtnislücken gerechnet, nicht mit einer Frau, die mir erinnerungsscharf beschreibt, welche Windungen und Brüche ihr Leben genommen hat.
Auf Melanies Namen war ich im Internet gestoßen. Ich hatte zu Zeitzeugen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus recherchiert, und sie war irgendwann aufgetaucht. Es gab ein Interview mit ihr. Darin hieß es, sie berichte Schülerinnen und Schülern noch immer von ihren Erlebnissen. Mit 97? Ich hielt das kaum für möglich. Doch als ich sie anrief und ihre entschiedene Stimme mich fragte, wann ich kommen wolle, sie ihren Kalender durchging und in der nächsten Minute ein Besuchsplan stand, wusste ich, dass die Berichte stimmen mussten. Für das Nachrichtenmagazin, für das ich arbeitete, plante ich also ein Porträt über sie.
Wir gingen zur Résidence, die auf einem der Hügel von Saint-Étienne steht. Im Aufzug wiesen Zettel auf den wöchentlichen Bingo-Nachmittag für Senioren hin, den Melanie noch kein einziges Mal besucht hat, seit sie vor zwölf Jahren hier eingezogen ist. Aus ihrem Appartement im fünften Stock kann sie die halbe Stadt überblicken. Neben dem beigen Sessel, dessen Fußteil sie per Fernbedienung ausfahren und dessen Lehne sie zurückstellen kann, lag damals eine Ausgabe des Journal de la Résistance. Auf einem Regal standen Fotos: ihre Eltern mit den beiden Töchtern nach Kriegsende in Wien; ihr inzwischen verstorbener Mann, wie er sie stolz von der Seite anblickt; Melanie mit dem österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer.
Ihre Orden, der Mérite- und der Légion-d’Honneur-Orden, lägen irgendwo im Schrank, sagte sie leichthin.
Melanie erzählte von Wien, wo sie geboren und aufgewachsen war – und hinausgeschmissen wurde, mit 16.
Sie schilderte ihre holprige Flucht über Deutschland und Belgien nach Frankreich, wie sie festgenommen worden und entkommen war. Wie sie sich »durchgewurstelt hatte« – und schließlich nach dem Krieg wieder nach Wien gegangen war und dort ihren Mann kennengelernt hatte, einen Franzosen.
Ich blieb zwei Tage. Und schrieb dieses Leben auf, diese von ständiger Angst vor Entdeckung begleitete Odyssee durch halb Europa, die sie nicht verbittert hatte. Über die sie mitunter sogar lachen musste, weil sie sich so jung, unbedarft und instinktiv über die damaligen Abgründe gehangelt hatte, dass es ihr mit den Jahren selbst komisch vorkam. Manchmal hatten sie unglaubliche Zufälle gerettet, manchmal hatte irgendwer in der vermeintlich letzten Sekunde irgendeinen Schalter umgelegt.
Nach dem Treffen machte eine Fotografin Bilder von ihr, der Beitrag erschien. Es kamen dann neue Themen, das Recherchematerial zu Melanie heftete ich ab. Die Geschichte war abgeschlossen – dachte ich.
Gleichzeitig spürte ich, dass ich damit nicht fertig war. Dass über dieses Leben mehr zu erzählen war, als auf fünf Magazinseiten passt. Drei Monate später fuhr ich wieder nach Frankreich. Wahrscheinlich zog mich auch dieses warme Großmuttergefühl zurück, das ich bekam, wenn ich sie sah. Wir trafen uns am Bahnhof in Lyon. Sie freute sich – Journalisten kämen sonst nur einmal und nicht wieder. Wir nahmen den Zug nach Marseille, wo sie damals interniert gewesen und nun eingeladen war, vor Schulklassen zu sprechen. Es war Januar, aber warm genug, um in einer Pause in ein Café am Meer zu gehen. Melanie sprach über Dinge, die sie sich sonst ersparte, um sich nicht wehzutun. Sie erzählte von einer jungen Genossin, die 1945 ausgemergelt aus einem Konzentrationslager zurückgekehrt war; von Menschen, die nicht zurückkehrten; von Löchern, in die sie fiel, als eigentlich alles überstanden war.
Ihre Geschichte wurde größer.
Nach Marseille trafen wir uns regelmäßig. Manchmal konnte ich ihr aus Archiven Bruchstücke ihres Lebens mitbringen: Die Kopie einer »Carte d’Alimentation« auf der handschriftlich verzeichnet war, in welchen Wochen sie als Flüchtling 70 Francs Unterstützung bekommen hatte. Eine als Schulübungsheft getarnte Broschüre ihrer Widerstandsgruppe, die der Polizei in die Hände gefallen war.
Sie erinnerte sich an viel. Wollte ich zu viel wissen, sagte sie: »Du quetscht mich aus wie eine Zitrone« – und war doch nicht böse darüber. »Dein Beruf ist es, zu wissen«, sagte sie. »Aber wir haben damals alles gemacht, um nichts zu wissen.« Um im Zweifel nichts verraten zu können.
Sie reiste damals noch viel. Wir trafen uns in Toulouse, wohin der Bürgermeister sie eingeladen hatte und wo ihr im Jahr 1942 der Prozess gemacht worden war. In Wien folgten wir dem Laufradius ihrer Kindheit im zweiten Bezirk zwischen Prater und Donau.
An diesem Septembermorgen in Saint-Étienne nun eilt Melanie an der Rezeption ihrer Résidence vorbei auf den Ausgang zu und schnappt sich meinen Arm. Wir gehen vorbei an den ranzig riechenden Mülltonnen der abschüssigen Rue Attaché aux Boeufs, wo sie drei Winter zuvor mit ihrem Handwagen ausgeglitten ist und sich das Jochbein gebrochen hat. Eine Weile sah sie Dinge doppelt, es sah nicht gut aus. Aber sie hat sich wieder aufgerappelt, wie nach der Coviderkrankung, die sie sich kürzlich im Heim eingefangen hat. Wie so oft in ihrem Leben. Hinter dem Rathaus biegen wir links ein, bis nach einigen Hundert Metern eine abgetakelte Einkaufshalle mit Parkhaus zu sehen ist, an deren Rückseite ein Graffiti an den Résistance-Helden Jean Moulin erinnert. Das gesprühte Gemälde markiert den Eingang zum Mémorial, der Gedenkstätte des Widerstands.
Sie wird oft dorthin gebeten, meist von Lehrern, wie an diesem Tag.
Widerstandsgeschichte – das ist kein leichtes Unterfangen. Im Mémorial von Saint-Étienne bedeutete das lange in Heldenporträts und schwere Fahnen gebettetes Gedenken. Und gelangweilte Schüler. Bis sie kam.
Melanie, das hat sich herumgesprochen, kann deren Gähnen in Staunen verwandeln. Sie erzählt, wie sie nicht weit weg, in Lyon, 1943 untertauchte, nachdem sie aus dem Gefängnis fliehen konnte. Der Auslieferung ins Deutsche Reich sei sie nur knapp entkommen, »im Nachthemd«. Wie bitte? Die Schüler in den hinteren Reihen des Mémorial drücken jetzt den Rücken durch, um die alte Dame besser zu sehen. Sie stellen jetzt einige Fragen, und Melanie erklärt, dass sie damals aus dem Krankentrakt geflohen war, wo sie mit einer Gelbsucht lag, »und zwar völlig platt«.
Und ja, auch mit einer Waffe habe sie einmal trainiert, erzählt sie. Mit bewaffneten Aktionen kann sie jedoch nicht dienen. Sie habe nur »eine kleine Sache gemacht«. Na ja, sagen sich die Schüler, mit 13 Jahren hat wohl nicht jeder Flugzettel gegen den Faschismus auf Häuserwände in Wien geklebt. Und wer bitte würde wegen seiner Überzeugung riskieren, mit 20 in einer dreckigen Gefängniszelle vom Getrippel von Ratten geweckt zu werden? Die alte Dame, die da leicht gebeugt vor ihnen sitzt, scheint innerlich ziemlich gerade geblieben zu sein.
Einen großen Namen hat die Dame nicht. Der Bürgermeister gratuliert ihr zum Geburtstag, das schon. Aber ihre Geschichte ist nicht verfilmt worden wie die Jean Moulins. Ihr Leben gibt es nicht als Comic wie das von Lucie Aubrac.
Melanie gehörte zum Fußvolk des Widerstands. Zur anonymen Masse derer, die dem Irrsinn von Diktatur und Krieg ihr Leben entgegenstellten. Darunter gab es Gruppen, die zwischen alle Fronten gerieten. Deren Mitglieder von den Nazis...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2024 |
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Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Faschismus • Flucht • Frankreich • Melanie Berger • Nationalsozialismus • résistance • Verfolgung • Weltkrieg • Widerstand • Wien |
ISBN-10 | 3-7076-0846-8 / 3707608468 |
ISBN-13 | 978-3-7076-0846-5 / 9783707608465 |
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