Bevor ich's vergessen könnte (eBook)
270 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4801-0 (ISBN)
Kindheit in Halle an der Saale und in Stolberg im Harz
Deutschland war in meinem Geburtsjahr 1936, kein demokratisches Land. Es war auch das Jahr der Olympischen Spiele in Deutschland. In dem Jahr wurde die faschistische „Achse Berlin–Rom“ mit Mussolinis Italien gegründet. Mit Japan wurde der sogenannte Antikominternpakt gegen den Kommunismus beschlossen. Durch Rüstungsaufträge florierte die Wirtschaft.
Meine eigentliche Heimat sollte ab 1939 Halle an der Saale werden. Wir wohnten dort in einer schönen Wohnung eines Jugendstilhauses in der Krosigstraße 3, der heutigen Geschwister-Scholl-Straße, neben dem Zoo. Der Vater arbeitete als Ingenieur und fliegerisch tätiger Beobachter bei den Siebel-Flugzeugwerken in Halle. Um diese Arbeitsstelle überhaupt zu bekommen, musste er 1939 der NSDAP beitreten. Sicher auch deshalb, weil er sonst nicht Mitglied im „Verein Deutscher Ingenieure (VDI) im Nationalsozialistischen Bund Deutscher Technik“ hätte werden können. Das war reiner Opportunismus, denn von den Nazis hielt er nichts, wie auch die meisten Kollegen und Kolleginnen in seiner Arbeitsgruppe. Echte Nazis waren der Partei schon spätestens 1933 beigetreten, zum Zeitpunkt der Machtübernahme Hitlers. In der Partei fiel mein Vateer durch seine Inaktivität negativ auf, was ihm Ärger einbrachte. Die schriftliche Rüge der Partei von 1942 befindet sich Anhang dieses Buches.
Meine Mutter ging in ihrer Aufgabe als Hausfrau und als Mutter völlig auf. Sie war ein Mensch, der gern bescheiden im Hintergrund blieb, der aber durchaus seinen Willen mit Beständigkeit zum Ziel brachte. Sie hatte praktischen Sinn und konnte schlüssig denken. Das offenbarte sich zum Beispiel, indem sie im Schachspiel gegen Vati meistens die Gewinnerin war.
Im Mehrfamilienhaus pflegte man gutes nachbarschaftliches Miteinander. Familie Stolle wohnte unterm Dach. Die Frankes im zweiten Stock sind mir besonders durch den Sohn Fredi noch in Erinnerung, der mit seinem Chemie-Hobby immer Interessantes zu bieten hatte, oft verbunden mit lautem Knalleffekt. Herr Sachse war Schuhmacher mit einer kleinen Werkstatt neben unserem Hauseingang. Ich sah ihm gern beim Arbeiten zu, auch wenn er nicht allzu gesprächig war. Aber ich mochte den Geruch des Leders und des Klebstoffes. Im Krieg, als Metall anderweitig gebraucht wurde, nagelte er die Sohlen übrigens mit zwei Reihen Holznägelchen fest. Und das soll gar nicht mal so schlecht gehalten haben, weil die Nägel durch ihr Aufquellen noch fester wurden. In der gehobenen Klasse der Schuhanfertigung werden sogar heute noch Holznägelchen mitverwendet. Dann waren da noch Peters, die Vermieter, und Schlossers, der SA-Mann mit seiner sonnig-freundlichen Frau. Von den sieben Mietparteien waren erstaunlicherweise vier kinderlos. Das gab es also auch damals schon. Fredi Frankes Mutter war eine kräftige Frau mit rosigem Teint. Als ich ihr im Hof beim Brennholzspalten für den Badeofen zuschaute und sie in leicht gebückter Stellung unbemerkt ihr Dekolleté zeigte, meinte ich eine anatomische Anomalie zu sehen und rief als Vierjähriger aufgeregt über den ganzen Hof meiner Mutter zu: „Frau Franke hat vorn noch einen Popo!“ Das hing mir in unserem Haus noch jahrelang an!
Im Nachbarhaus wohnte der alte Herr Dörfler, von dem man wusste, dass er länger in Südamerika gelebt hatte. Als Vater ihn mit mir besuchte, trank er gerade seinen Matetee aus der typischen Bombilla. Er schenkte mir eine schwarz-rote Bohne, die wie ein Indianerkopf aussah. Die habe ich lange wie einen kleinen Schatz aufgehoben. Im anderen Nachbarhaus gab es die alte, alleinstehende Frau Diberius, die mit ihrer Hakennase und den dichten grauen Haaren für mich wie eine freundliche Hexe aussah. Sie konnte uns Kindern sehr ausführlich über die vielen Vogelarten erzählen, die sie von ihrem Fenster aus beobachtete. Klaus Redmann., der Nachbarsjunge, schoss vom Fenster selbstgemachte, zischende Raketen aus „Unkraut Ex“ und Löschpapier ab.
Unserer Familie ging es wirtschaftlich gut, und wir fühlten uns in dieser Stadt an der Saale recht wohl. Mit der Eisenbahn fuhren wir oft nach Stolberg im Südharz, wo die geliebte „Oma Stolberg“ wohnte. Dort waren meine Mutter und meine ältere Schwester Reni geboren.
Die Krosigkstraße, damals Endstation der Straßenbahnlinie 3, war sonnig mit viel Platz zum Spielen. Parkende Autos gab es dort nicht. Hin und wieder kam ein Leierkastenmann vorbei. Dann begleiteten wir Kinder ihn ein Stück, hörten die Musik und sahen, wie ihm aus den Fenstern in Zeitungspapier eingewickelte Münzen zugeworfen wurden. Meist tobten wir in der bergan führenden und kurvigen Tiergartenstraße herum, weil es hier keine störenden Straßenbahnen gab. Aber selbst die Straßenbahnschienen nutzten wir für unsere Streiche. Wenn wir sogenannte Zündplättchen, die damals jeder Junge hatte, in einer Reihe auf die Schienen legten. Fuhr die Bahn darüber, gab es ein Knattern, das manchen Fahrgast erschrocken auffahren ließ. In unserer Straße existierte auch ein kleiner Friseurladen. Der Meister hieß ausgerechnet Lause. Er hatte die Angewohnheit, dem Kunden die abgeschnittenen Haare vom Nacken weg zu pusten, wobei er vorher immer geräuschvoll die eigene Spucke hochzog. Dass wir Kinder dies mit großem Vergnügen imitierten war doch klar.
Große Aufregung bereitete ich unserer Familie, als ich gedankenlos allein in die noch unbekannte nähere Umgebung wanderte. Es waren die Klausberge mit der Jahnhöhle und einem Steilufer in die Saale. Ich hatte die Zeit vergessen oder mich vielleicht auch verlaufen. Meine Mutter suchte mich. In ihrer Verzweiflung lief sie in die Mädchenschule „Helene Lange“ zu meiner Schwester und hoffte mich dort zu finden. Reni ließ sofort den Unterricht platzen und brachte es fertig, die gesamte Klasse mitsuchen zu lassen. Diese Schulstunde fiel also meinetwegen aus. Wenn ich mich recht erinnere, fand ich dann doch selbst den Weg nach Hause. Am nächsten Schultag hatte ich meiner Schwester in ihre Schule zu folgen und mir eine augenzwinkernde Strafpredigt des Lehrers anzuhören. Diese Situation mit den mir zugewandten Gesichtern der ganzen Klasse und mein Schuldbewusstsein sind mir noch sehr gegenwärtig.
Horst war ein gleichalter Nachbarfreund. Ich beneidete ihn um seinen luftbereiften Tretroller. Seine Eltern besaßen auch schon damals einen elektrischen Staubsauger – ein Luxus, an den in meiner Familie nicht mal ein Gedanke verschwendet werden konnte. Die Familie P. wirkte auf mich geradezu exotisch, weil sie katholisch war. Wir Mitteldeutschen waren ja fast durchweg evangelisch, und etwas anderes überstieg meine Vorstellungskraft. Unsere Familie lebte zwar nicht aktiv christlich, war aber doch traditionsbewusst kirchlich eingestellt. Großmutter Anna Jacob, die aus Halle stammte, war allerdings „reformiert“. Sie wurde von uns Lutherischen deswegen gern etwas bedauert, galten die Reformierten doch allgemein als nicht besonders lebensfroh.
In unserer Wohnung konnte man an jedem Tag die Löwen im nahe gelegenen Zoo brüllen hören. Riefen die Pfauen, war mein Vater sicher, dass der Ruf immer nur „Klaus! Klaaauuus!“ hieß, und ich glaubte das.
Der Zoo auf dem Reilsberg war meine eigentliche Spielwiese. Am Eingang gab es zwei Sandkästen, in denen wir Kinder stundenlang schippten und Burgen, Tunnels und Unterstände für unser Spielzeug bauten. Mit dieser Art Spielzeug war ich selbst noch relativ bescheiden ausgestattet. Es waren kleine Soldatenfiguren aus bemaltem keramischem Material. Da gab es so ziemlich alles vom Tambour zu Pferde bis zum liegenden Scharfschützen. Aus Blech hatte ich eine kleine Kanone, die eine Holzgranate verschoss, einen funkensprühenden Panzer und so weiter. Manche der Spielfreunde konnten mit ganzen Kompanien aufwarten. Immer ging es bei diesem Spiel ums Erobern und Burgen-kaputtschmeißen. Der Feind war immer der „Tommy“, also der Engländer. Aber wir spielten das ohne Hass, sondern eher sportlich motiviert. Keiner von uns hatte damals eine Ahnung, wie ernsthaft der Krieg unser späteres Leben bestimmen würde. Meinem Vater aber gefielen diese Spiele nicht. Deshalb schenkte er mir gern auch anderes. Als schönstes Geschenk bekam ich einen kleinen Fuhrhof, der aus Holz gefertigt war. Ein Unikat, denn er war extra für mich gebaut worden. Meine kleinen Pferdefuhrwerke passten ganz genau in die Remise hinein. Später besaß ich noch eine kleine, dunkelblau gestrichene Schiebkarre.
Um im Zoo ständig ein- und ausgehen zu können, hatte ich stets die Jahreskarte mit Bild in einer Klarsichthülle am Halsband baumeln.
So lernte ich die exotische Tierwelt des Zoos schon als kleiner Junge ganz gut kennen. Kaum ein Tier gab es, über das ich nicht Bescheid wusste. Schwierige Tiernamen wie „Schabrackenschakal“ reizten mich. Ich ging deshalb gern zum Käfig der Schakale und wartete, bis Erwachsene beim halblauten Stottern des Käfigschildes „Scha… Schab… Schab…“ von sich gaben, um dann mit Empörung laut den korrekten Namen im Expresstempo zu rufen. Die Elefantendame Rani kniete auf meinen Zuruf vor mir nieder. Ein tolles Gefühl! Vor fremden Zoobesuchern zog ich so manchmal eine...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7597-4801-5 / 3759748015 |
ISBN-13 | 978-3-7597-4801-0 / 9783759748010 |
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