Haus der langen Schatten (eBook)
400 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-169-1 (ISBN)
Es war einmal ein Junge, der im Bücherregal seines Vaters ein Buch mit Geistergeschichten entdeckte. Nachdem er es gelesen hatte, war er nie wieder derselbe. Ambrose Ibsen gehört zur neuen Generation der herausragenden amerikanischen Horrorautoren in der Art von Stephen King oder Dean Koontz.
4
Durch das Beifahrerfenster zoomte ich das Schild heran.
Darauf stand in großen schwarzen Buchstaben GEBR. ROOKER WERKZEUGE, und eine schlecht gezeichnete Figur – ein rosafarbenes Strichmännchen, das tatsächlich einen Schutzhelm aufhatte – lehnte sich tollpatschig an das hintere E von WERKZEUGE.
»Ist das nicht drollig?«, fragte ich und linste grinsend in die Kamera. Der Laden war offensichtlich ein lokales Unternehmen, und verglichen mit den Baumärkten, die ich gewöhnlich in anderen Städten aufsuchte, sah sein Inneres deprimierend aus. Die großen Glasfenster in der Nähe des Eingangs verliehen ihm das Aussehen eines Gewächshauses. Die besagten Fenster waren mit Kondenswasser beschlagen, während eine zweifelsfrei heruntergekommene Klimaanlage im Inneren des Ladens gegen die Hitzewelle des Frühlings ankämpfte. Auf dem Parkplatz standen zwei weitere Fahrzeuge, eines davon über zwei Stellplätze, und ich vermutete, dass sie Angestellten gehören mussten, denn von dort, wo ich mich befand, sah es nicht so aus, als wäre auch nur ein einziger Kunde zwischen den Regalreihen unterwegs. Die Innenbeleuchtung war ein abstoßendes, senfartiges Gelb, und von Hand beschriftete Schilder aus sonnengebleichtem Pappkarton in Neonfarben klammerten sich verzweifelt an das Fenster neben der Tür. Die Tinte auf manchen von ihnen begann davonzulaufen, als das Kondenswasser seine verheerende Arbeit tat.
Ich schaltete die Kamera aus, hängte sie mir aber um den Hals, als ich den Wagen verließ. Vielleicht war einer der Angestellten bereit zu einem kleinen Interview oder ließ mich zumindest im Inneren des Ladens filmen. Aufnahmen davon, wie ich Material auswählte oder mit kenntnisreichen Angestellten fachsimpelte, waren großartiges Füllmaterial für meine Videos, und mein bestes Argument war, dass es auch für die beteiligten Läden eine gute Werbung abgab.
Als ich mich der Tür näherte, wurde ich von einem kleinen handgeschriebenen Aufkleber unter dem RAUCHEN VERBOTEN-Schild überrumpelt, auf dem KEINE FOTOS stand.
Mist.
Mehr als etwas verlegen wegen der um meinen Hals baumelnden Kamera schlüpfte ich in das Geschäft und näherte mich direkt der Kasse, wo ein Typ mittleren Alters mit einer grünen Schürze dabei war, die Ladentheke mit einem Reinigungstuch zu bearbeiten. Ein anderer Typ, allenfalls im College-Alter, stapelte geschäftig Dosen mit Sprühfarbe für die Auslage. Beide sahen zu mir auf, als ich eintrat, und beide spendeten mir dasselbe gelassene Nicken. Aber es war der Ältere, der Kassierer, der seinen Blick auf mich gerichtet hielt, als ich näher kam, und etwas wegen der Kamera sagte.
»Keine Fotos«, sagte der Mann, warf das Tuch in einen Mülleimer und wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. Er war schlaksig, mit dünner werdenden rotblonden Haaren und einem dichten, gepflegten Schnauzbart, der den Mangel an Haupthaar ausgleichen sollte. Er sah mir geradewegs in die Augen und blickte dann mit solchem Verdruss auf die Kamera um meinen Hals, als hätte ich eine Sprengstoffweste an.
Ich antwortete nicht sofort, und als ich es tat, begann ich tatsächlich herumzustottern wie ein Volltrottel. Irgendwie hatte der Typ etwas an sich, das mich aus dem Konzept brachte. »J-ja, Entschuldigung. Ich, äh … Ich werd sie nicht benutzen. Hab nur vergessen, sie abzunehmen.«
Der Typ, auf dessen Namensschild »Chip« zu lesen stand, sah fast wie mein Vater aus. Chip kratzte sich am Ohr und verzog seine Lippen zu etwas, das einem Lächeln ähnelte. »Wenn Sie sie benutzen, schmeiß ich Sie raus. Steht da an der Tür«, sagte er und deutete in Richtung des Aufklebers, den ich gerade erst entdeckt hatte.
Für einen Moment war ich wie in Trance angesichts der wundersamen Ähnlichkeit zwischen diesem Kerl und meinem Vater.
Meinem toten Vater.
Chips Haarfarbe war anders. Die meines Vaters war ein Dunkelbraun gewesen, wie meine. Und sein Schnurrbart hatte mehr die Form einer Lenkstange gehabt. Aber ansonsten hätte der Kassierer ein Zwillingsbruder meines Vaters sein können. Selbst sein Benehmen und sein Tonfall waren auf gespenstische Weise ähnlich.
Er glotzte mich an, als wäre ich blöde, und ich weiß, dass ich sicher diesen Anschein erweckte. Nach meiner peinlichen Pause entlockte ich mir ein gezwungenes Lachen und blickte mich verwirrt im Laden um. »Ich suche nur nach, ähm … Beleuchtung.«
Er legte die Stirn in Furchen und wartete mit geschürzten Lippen, dass ich weiterredete. Genau wie es mein Vater mit jemandem getan hätte, von dem er das Gefühl hatte, er würde seine Zeit vergeuden.
»Bewegungsaktivierte Strahler. Also, für draußen«, erklärte ich.
Er nickte, trat hinter der Theke hervor und führte mich aus dem Kassenbereich zwischen den Regalwänden mit Farben und Werkzeugen entlang, bevor er schließlich in einer Abteilung stehen blieb, die mit Lampenfassungen und Leuchtkörpern vollgestopft war. »Hab ein paar davon hier«, sagte er und deutete auf ein paar Kisten im unteren Regal.
»Danke.« Meine Stimme war jedoch zurückhaltend; meine Aufmerksamkeit galt eher ihm als den Waren. Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Wahrscheinlich dachte er, ich wollte ihn anmachen oder so was, so intensiv, wie ich ihn betrachtete. Die Ähnlichkeit hatte mir ein wenig Angst eingejagt.
Er schaute noch mal auf die Kamera, mit einem Lächeln, das kleine schiefe Zähne enthüllte.
Von jetzt auf gleich war die Illusion zerstört. Seine Zähne sahen überhaupt nicht aus wie die meines Vaters, und beinahe wäre mir ein Seufzer der Erleichterung entwichen. Mir war, als könnte ich mich wieder auf meine Umgebung konzentrieren, als er fragte: »Wofür ist die Kamera eigentlich?«
»Oh.« Ich zog am Haltegurt. »Tatsächlich drehe ich Videos für meinen VideoTube-Kanal. Sehen Sie, ich renoviere Häuser und mache Videos über die Details davon. Ich hab ein Haus in der Stadt gekauft und versucht, Filmmaterial zusammenzubekommen. Ich hatte gehofft, jemanden hier im Laden interviewen zu können oder meinen Einkauf zu dokumentieren.«
»Keine Aufnahmen«, sagte Chip wie eine Aufziehpuppe. Dann, nachdem er mich erneut von oben bis unten gemustert hatte, grinste er ungläubig. »Also … Auf welchem Kanal sind Sie denn? Hab Sie noch nie im Fernsehen gesehen.«
Ich lachte. »Nein, ich bin nicht im Fernsehen. Zumindest noch nicht. Diese Videos sind online. Auf VideoTube. Aber ich hab ’ne Menge Abonnenten. Ich bin nicht superberühmt oder so, aber ich bin schon ein paarmal von Zuschauern auf der Straße erkannt worden …«
Chip blieb unbeeindruckt. Ein einzelnes »Hm«, und er machte sich auf den Rückweg zur Kasse.
Mir selbst überlassen seufzte ich und begutachtete die Waren in den Regalen bei dem Versuch, mich zu erinnern, weshalb ich hergekommen war.
Bewegungsgesteuerte Beleuchtung, Doofi.
Unter einem Stapel Kartons mit Stehlampen fand ich den Vorrat der Gebrüder Rooker an bewegungsgesteuerten Außenlampen, und zu sagen, dass ich davon nicht beeindruckt war, wäre eine Untertreibung. Es gab eine Box mit ausgefransten Kanten, die ein Paar solarbetriebener Gartenstrahler enthielt. Auf der Seite stand der Verkaufsslogan zu lesen: Verschönern Sie Ihren Garten mit unserer Premium-LED-Landschaftsbeleuchtung!
Ich schüttelte den Karton und hörte lose Glasteile klirren.
Diesem würde ich eine gnadenlose Abfuhr erteilen müssen.
Besser für meine Bedürfnisse geeignet war ein zweites Produkt. Dieses befand sich daneben, in einem staubbedeckten, würfelförmigen Karton. Ich musste mich auf einem Knie abstützen, um ihn aus dem Regal zu befreien. Darin befand sich ein bewegungsgesteuertes LED-Flutlicht. Eine Stichpunktliste der Vorzüge, allesamt mit Bezug zur Haussicherheit, war auf dem Deckel abgedruckt. Das Ding entsprach den Anforderungen, aber als ich es vorsichtig schüttelte, bemerkte ich das handgeschriebene Preisschild darauf und hätte es aus Protest beinahe wieder zurückgestellt. Es war locker 30 oder 40 Mäuse teurer als ein vergleichbares Gerät von einem größeren Baumarkt, und es sah noch dazu so aus, als hätte es seit der Zeit der großen Wirtschaftskrise im Regal gestanden.
Ich stellte ein paar Kopfrechnungen an, überlegte, wo der nächstgelegene Großhandel war, und zog sogar in Betracht, mit dem guten alten Chip über den Preis zu feilschen. Letztendlich riss ich mich zusammen und beschloss, das Ding zu kaufen, weil ich es hasste, mehr als einen Laden abzuklappern.
Und um die Wahrheit zu sagen, wollte ich auch noch etwas mehr mit dem Doppelgänger meines Vaters reden.
Den staubigen Karton auf Armeslänge von mir weghaltend kehrte ich in den vorderen Bereich des Geschäfts zurück und war ein zweites Mal baff wegen der Ähnlichkeit mit meinem verstorbenen Vater. Dort vor diesem Typen zu stehen war surreal. Es fühlte sich an, als wäre ich rund zwei Jahre in die Vergangenheit gereist. Sogar die Umgebung – ein schmuddeliger Heimwerkerladen – passte perfekt. Das war genau die Art Geschäft, wo mein Vater eingekauft hätte, und wir beide hatten in den Jahren vor seinem Tod eine Menge Zeit damit verbracht, solche Läden ausfindig zu machen.
»Das macht dann 59,22«, sagte Chip und blickte erwartungsvoll in meine glasigen Augen.
Ich reichte ihm ein paar Zwanziger – einen zu wenig, wie sich herausstellte. Ich opferte einen weiteren und wartete auf mein Wechselgeld. Er ließ das Geld in die Schublade...
Erscheint lt. Verlag | 10.9.2024 |
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Übersetzer | Alexander Nym |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98676-169-1 / 3986761691 |
ISBN-13 | 978-3-98676-169-1 / 9783986761691 |
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