Das Mädchen von Rawblood (eBook)
576 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-165-3 (ISBN)
Catriona Ward wurde in Washington, D. C. geboren und wuchs in den USA, Kenia, Madagaskar, Jemen und Marokko auf. Heute lebt sie in England. Ihr Debüt RAWBLOOD (2015) erhielt den British Fantasy Award als bester Horror-Roman des Jahres. LITTLE EVE gewann den Shirley Jackson Award und wieder den British Fantasy Award für den besten Horror-Roman 2019. Catrionas dritter Roman THE LAST HOUSE ON NEEDLESS STREET erschien 2021 und wurde zum Bestseller, der demnächst verfilmt wird. 2022 folgte der ähnlich erfolgreiche Thriller SUNDIAL Festa wird diese vier Romane auf Deutsch veröffentlichen. Stephen King: »Das ganze Lob über THE LAST HOUSE ON NEEDLESS STREET ist nicht übertrieben. Der Roman hat mich umgehauen. Ein wahrer Nervenzerfetzer ...«
Iris
1910
So kommt es dazu, dass ich meinen Vater töte. So fängt es an.
Ich bin elf. Wir finden die Stute kurz nach dem Mittag. Lange kann sie noch nicht da sein; die Füchse sind noch nicht gekommen. Die Fliegen dafür schon. Sie glänzt und ist prall.
»Warum?«, frage ich.
Toms knochige Schultern heben sich gleichgültig. Manchmal sterben Dinge einfach. Das hat er genau begriffen. In den letzten paar Monaten.
Die Mähne der Stute liegt schwarz auf dem ausgedörrten Rasen. Kniend strecke ich einen Finger nach ihr aus. Er zieht mich von dem Kadaver weg. Ich erwarte einen Rüffel, doch er sagt nur: »Da.«
Ich sehe es nicht, und dann sehe ich es doch, in einem Gestrüpp aus Farn, zehn Schritte weiter. Klein und dunkel in den grünen Schatten. Ein Neugeborenes.
»Was wirst du tun?«, frage ich.
Er fährt sich mit der Hand durch sein Haar.
»Sei kein Plagegeist, Iris. Was soll ich denn deiner Ansicht nach machen?«
Das tut weh. »Ich bin kein Plagegeist«, antworte ich. »Ich versuche bloß zu helfen.«
Er schubst mich sanft. »Plagegeist.« Seit dem Tod seiner Mutter im März ist Toms Stimme ohne Klang.
Wir sehen zu, wie sich das Fohlen hinlegt und den Kopf einzieht. Es seufzt. Seine dünne, flauschige Flanke hebt sich. Das Fell ist an manchen Stellen noch immer glitschig. Es ist zu klein, um zu leben, doch wie es scheint, weiß es das nicht.
»Wir könnten es füttern«, schlage ich vor.
Er wirft mir einen Blick zu, der sagt, dass ich in einem großen Haus wohne, in dem die Böden mit Bienenwachs gebohnert und die Decken hoch sind, wo die Luft in einer weißen Stille emporsteigt und die Laken mit Lavendel und Teerose parfümiert werden. Morgens esse ich Haferbrei mit Rahm und trinke Milch aus meinem Silberkrug, wenn ich lieb bin. Toms Knie stoßen durch die verschlissenen Flicken seiner Hose. Er wohnt mit seinem stillen Vater in dem zugigen Gehöft mit dem löchrigen Dach. Jeden Morgen ist er auf den Feldern, noch bevor die Sonne aufgeht. Es gibt kein wir.
Ich krümme mich. Meine Stiefel sind eng, meine Füße so blutleer wie das Fleisch eines ausgenommenen Fisches. Ich habe meine Strümpfe irgendwo an den Berghängen des Bell Tor ausgezogen. Unter meinem Rock sind meine bloßen Beine vom Ginster zerkratzt und von feinen Blutperlen überzogen.
»Hat noch nie geklappt«, ruft er schließlich. »Sie nehmen’s einfach nicht. Oder sie werden davon krank. In der Kuhmilch muss etwas sein, das sie nicht vertragen.«
»Ich möchte aber nicht, dass es stirbt.«
»Du bist ein Mädchen. Du verstehst das nicht.«
Und so weiß ich, dass auch er nicht möchte, dass es stirbt.
In einem Märzsturm trat Charlotte Gilmore auf eine Falte ihres Rocks. Jeden Tag sehe ich, wie sich dieser Moment in Toms Augen widerspiegelt: die kalte Luft, die ihr ins Gesicht schlägt, als sie die 20 Stufen der Treppe hinunterstürzt; ihr Kleid, das sich wie eine abgeworfene Blüte aufbauscht; der Donner, der das Geräusch übertüncht, als ihr Genick bricht.
»Komm jetzt.« Immer wenn er verärgert ist, klappert seine Stimme wie eine schlecht sitzende Schublade.
Unsere langen Schatten gleiten über das Gras. Suchend hebt das Fohlen den Kopf. Tom packt es. Es krümmt und windet sich und tritt mit seinen kleinen Hufen nach ihm. Tom hebt das Fohlen über seine Schulter und legt es dort ab. Die schmächtigen Vorderbeine und Hinterbeine stecken fest in seinen Fäusten. Der kleine buschige Schweif schlägt empört um sich. So gehen sie los, zurück zur Farm.
»Sie werden dich schon vermissen«, ruft er mir über seine Schulter hinweg zu. »Geh jetzt lieber nach Hause. Plagegeist«, fügt er noch hinzu.
»Warte«, sage ich. »Warte!« Ich renne auf festen Füßen hinter ihm her.
Henry Gilmore lehnt an dem Gatter zur Farm. Sein Blick ist groß und von nichts erfüllt. Tom steht aufrecht vor seinem Vater. Auf seiner Schulter zuckt das Fohlen mit seinen kleinen Ohren. Noch einmal stellt Tom die Frage.
»Maisie hat ihr Fohlen vor zwei Tagen abgestillt«, antwortet Henry Gilmore. Seine Worte kommen langsam. Er wirft Tom seinen zurückweichenden Blick zu. Früher mal hat er einem noch geradewegs in die Augen geblickt. Jetzt nicht mehr. Er hat seinen Blick vor vier Monaten im Grab von Toms Mutter zurückgelassen.
»Wird sie …« Tom zögert.
Henry Gilmore zuckt die Schultern. »Kann schon sein. Lass sie zufrieden. Wenn sie es nicht mag. Lass sie tun, was sie tut.«
Er streckt seine Hand nach dem Maul des Fohlens aus. Die Nüstern des Tieres zittern, reiben sich an seiner Haut, riechen seine Trauer.
»Es wird sowieso sterben«, meint er. »Ist besser, wenn’s schnell passiert.«
»Vielleicht aber auch nicht«, antwortet Tom. Die Luft zwischen ihnen wird dick.
»Aus dir wird kein Farmer.« Mit einer gedankenverlorenen Hand berührt Henry Gilmore die Schulter seines Sohns. Er lässt uns allein und verschwindet durch das Gatter ins Blau. Tom, das Fohlen und ich sehen ihm hinterher. Mit jedem Schritt lässt ihn die Entfernung kleiner werden und schmälert seine Gestalt zu einem dunklen Strich, der über die Knochen des Hügels kriecht.
Aus dem Stall lugt Maisie durch eine Stirnlocke, die die Farbe von schmutzigem Schnee hat. Ein Gewirr aus Lehmklumpen klebt an ihrem Unterleib. Sie hebt ihre breiten Lippen in unsere Richtung und zeigt uns ihre buttergelben Zähne.
»Du gehst da nicht rein«, bestimmt Tom. »Hast du das verstanden, Plagegeist? Ganz egal was passiert.«
Über seinem Auge zuckt es. Eine Augenbraue stottert vor Kummer. Das Maul des Fohlens streicht ihm über die Wange. Tom packt seine klebrigen Beine noch fester.
»Du musst es festhalten«, ordnet er an. »Kannst du das? Wenn du … Ja, so.« Ein Getrappel aus kleinen Hufen, und das Fohlen kreischt wie eine Katze. Schließlich schmiegt es sich in meinen Arm. Sein pochendes Herz, die dünnen, jungen Knochen.
Tom sagt: »Wir müssen dafür sorgen, dass sie gleich riechen.«
Aneinandergedrängt zittern das Fohlen und ich unter der Sonne. Ich kann nicht sehen, wohin Tom gegangen ist. Seine Stiefel knacken auf dem trockenen Boden, dann folgt ein vielschichtiges Rätsel aus Holz, Metall, Riegeln, Schlössern und Türen. Er ist schnell zurück.
»Das sollte reichen.«
Die Blechdose wirkt gedrungen und dickleibig. Er stemmt den Deckel mit seinem Messer auf und schiebt seine Hand hinein. Heraus kommt eine glänzende, in Melasse getünchte Pranke. Dunkel funkelnde Fäden. Damit schmiert er den Kopf und den Widerrist des Fohlens ein. Dann trägt er das Zeug auf dessen Hinterbeine auf, streicht es über die bebenden Flanken und den Bauch. Als er damit fertig ist, sind meine Arme schraffiert, als wären Schnecken über sie hinweggekrochen.
»Sie wird ihm nicht wehtun«, erklärt Tom. Seine Hand krault den Kiefer des Fohlens. Es schließt seine Augen. Lange Wimpern an rußigen Augenlidern.
»Wird sie nicht«, wiederholt er, aber damit meint er nicht mich.
Drüben an der Stalltür schüttelt Maisie ihren riesigen Kopf, blinzelt verschämt und hebt ihre gummiartige Lippe.
»Nein«, bestätige ich. »Das wird sie nicht. Gute Maisie.«
Die äußere Erscheinung des Zugpferdes ist überwältigend. Maisies Flanken kräuseln sich wie ein ruhiges Meer. Tom sieht sie an. Seine Augen zeigen die blaue, von Weiß umgebene Iris.
»Bringt jetzt nichts zu warten«, sagt er zu sich selbst oder zu mir. Maisie begegnet seiner klebrigen Hand mit aufgeblähten Nüstern. »Jup«, sagt er zu ihr. »Das alles. Bald.« Er schlüpft in den Stall und schiebt den Riegel vor. Seine Hände bewegen sich hin und her zwischen dem Licht und der nach Stroh duftenden Finsternis. Sie bedecken Maisies Kopf und Maul mit der Melasse. Rückwärts arbeitet er sich an ihrer gewaltigen Skulptur entlang, hinein in die Dunkelheit, bis er nicht mehr zu sehen ist. Sie bleibt stehen, folgt ihm und der glasigen braunen Spur aber mit dem Kopf.
Ich hebe das Fohlen hoch. Wie ein Sack liegt es in meinem Arm. Es hat sich aufgegeben. Seine Hufe sind kaum größer als Shillings. Das dumpfe Pochen seines Herzens an meinem Handgelenk. Es riecht scharf nach frisch zertretenen Nesseln.
»Wird es ihm gut gehen?«
Tom sagt nichts. Ich trage das Fohlen zur Stalltür. Es ist still und bleiern. Er greift nach dem Tier und nimmt es durch den Spalt mit in die Dunkelheit. Dann kommt er heraus. Er blinzelt in dem plötzlichen, honigfarbenen Licht des Tages. Seine dunklen Augenbrauen beben. Ich lege meine Fingerspitzen an mein Handgelenk. Das Fleisch dort hält noch immer die Erinnerung an den Herzschlag des Fohlens, verflochten mit meinem eigenen. Schweigend warten wir.
»Ich kann’s nicht«, gesteht Tom.
Also sehe ich nach.
In dem schwachen Licht zeichnen Maisies Nüstern die Umrisse des Fohlenkörpers nach. Sie leckt die Melasse von seinem Maul und seinen Augen. Ihre Zunge wischt eine breite Fahne über seine gesamte Länge. Das Fohlen maunzt eine hohe Klage. Maisie schiebt ihre Nase unter seinen Bauch und drückt es damit in die Höhe. Ihr behäbiger Kopf ist genauso lang wie sein Körper, ein Gebilde aus Zähnen und Knochen. Das Fohlen streckt sich. Sein Hals reckt sich mehr, als es ihm möglich ist, in einer anmutigen Linie nach oben. Es reicht aber nicht. Wieder macht es das hohe Geräusch. Maisie beugt die Beine und lässt sich seufzend auf dem Stroh nieder. Ihre Augen schließen sich. Das Fohlen...
Erscheint lt. Verlag | 10.9.2024 |
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Übersetzer | Heiner Eden |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98676-165-9 / 3986761659 |
ISBN-13 | 978-3-98676-165-3 / 9783986761653 |
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