Die Magie der Weisheit (eBook)
356 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-8237-3 (ISBN)
Manuel Rotter wurde 1992 in Niederösterreich geboren. Bereits im Alter von zwölf Jahren verfasste er seine ersten Kurzgeschichten, ehe er 2010 seinen ersten Roman veröffentlichte. Nach bestandener Matura 2012 begann er zunächst mit dem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften, welches er bereits nach kurzer Zeit aufgab, um sich der Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien zu widmen. Rotter promovierte im Jahr 2024 zum Doktor der Philosophie und lehrt an verschiedenen Universitäten in Österreich. Er lebt in Weikendorf, Niederösterreich, in demselben Haus, in dem er aufwuchs. Von Dingen, die bleiben und Interludium sind seine bekanntesten Werke.
ZWEI:
DIE STILLE DER GRÄBER
Der letzte Stein wog unangenehm schwer in Williams Hand. Auf einem Bein kniend, das Haupt gesenkt und die Augen geschlossen, hielt er ihn fest in der Hand. Die Neolithgräber lagen abseits der restlichen Insel in einem sanften Tal, welches umgeben von Wäldern war. Über die gesamte Ebene waren sie verteilt. Die größten von ihnen waren die Ruhestätten der ersten Königin von Alba und ihres geliebten Gemahls. William war früher schon an diesem Ort gewesen. Seit Edwards Krönung waren die Gräberwiesen auch für den Adel und Personen aus dem einfachen Volk geöffnet. So befanden sich mittlerweile über zwei Dutzend Grabstätten an diesem Ort. William hatte heute Nacht zwei weitere hinzugefügt.
Schweren Herzens und gegen die Tränen ankämpfend, legte er den letzten Stein auf die anderen und erhob sich. Das Grab war winzig, wie auch das Wesen, welches es nun für immer beherbergte.
Sonaht hatte ihn in die Falle gelockt und William vor eine grässliche Wahl gestellt – Lina oder das Kind. Die Entscheidung war ihm nicht leicht gefallen. Doch lieber blieb er kinderlos, als ohne Lina in dieser Welt zu sein. Auf eine gewisse Art und Weise bereute er daher nicht, diese Entscheidung getroffen zu haben, und dennoch schnürte das Schuldgefühl ihm die Luft zum Atmen ab und legte sein Herz, welches er nur noch schwach in der Brust schlagen spürte, in Ketten.
Seit er sich erinnern konnte, sehnte er sich nach einem gemeinsamen Kind mit Lina. Sie wollte keines, doch war sie gewillt gewesen, William seinen Wunsch zu erfüllen. Zu spät hatte er von ihrer Schwangerschaft erfahren. Und nun, so kurz vor der Geburt, hatte Sonaht ihm das Kind geraubt. Er selbst, William, hatte sich dazu entschieden, die Seele des Kindes im Austausch gegen Linas Seele zu opfern, weil er glaubte, wenigstens im Tod mit dem Kind vereint zu sein, während Lina im Leben weilte. Denn sie tot zu wissen, war der schrecklichste Gedanke, den er zu hegen imstande war.
Es kam ihm so vor, als läge der Kampf gegen den letzten Jünger der Dunkelheit in den Hallen des Todes bereits Jahre zurück. Dabei war es erst gestern gewesen. Nachdem er ins Leben zurückgekehrt war, mithilfe einer magischen Träne, die er um sein totes Kind geweint hatte, hatte er sich Sonaht entgegengestellt. Zwar war es ihm mit Pans Hilfe gelungen, den Feind zu besiegen, doch gelang diesem die Flucht. Sonaht würde sich schon bald erholen und erneut zuschlagen.
Am darauffolgenden Tag hatte der Rat der Helden beschlossen, getrennte Wege zu gehen. Während Edward sein Volk in Sicherheit brachte, machte Zac sich auf den Weg in das verlassene Reich der Zwerge, um dort neues Gold für die kommende Schlacht zu beschaffen, und Tiny war aufgebrochen, in den Archiven der Feen nach einem Hinweis zu suchen, der ihnen Sonahts Plan offenbaren sollte.
Pan und William waren aufgebrochen, den Leichnam des kleinen, ungeborenen Kindes und Lavis Leichnam, die ihr Leben im Kampf gegen Sonaht gelassen hatte, zu den Neolithgräbern zu bringen, wo William die beiden eben bestattet hatte. Anschließend wollten sie sich erneut zur Kathedrale des Glaubens begeben, um mit dem Schöpfer über das weitere Vorgehen zu sprechen.
Pan hatte sich zurückgezogen, um nach möglichen Feinden Ausschau zu halten. So stand William nun allein vor dem winzigen Grab seiner Tochter, die niemals würde das Licht der Welt erblicken. Da niemand ihn in der Dunkelheit der Nacht sehen konnte, ließ er seinen Tränen freien Lauf. Es war nicht länger von Bedeutung, Stärke zu demonstrieren. An diesem Ort war er vollkommen für sich allein. Das erste Mal seit langer Zeit fand er zur Ruhe, obwohl sein Herz heftig in der Brust schlug.
Der Boden war von feinstem Nebel bedeckt und alles um ihn herum wirkte seltsam düster. Zeitgleich jedoch war es der friedlichste Ort auf der Welt. Hier, zwischen all den Toten, fühlte er sich nicht fremd. So viele Male war er bereits gestorben. Die Gräber fühlten sich wie Heimat an.
»Es tut mir so leid, Will«, hörte er die Stimme seines Bruders, George, in seinem Rücken. William wirbelte herum und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»George, wie …?«
»Dies ist ein Ort des Todes. Hier kann ich dir begegnen«, er hielt vor William an, »und ich bin gekommen, um dir Trost zu spenden, Bruder.«
»Dann bist du wirklich hier? Ist dies nicht nur ein Traum?«
George zog William in seine Arme und drückte ihn fest an sich. Tatsächlich, George war real. William wollte es kaum glauben. In den letzten Jahren waren sie sich oft in seinen Träumen begegnet. So viele Male waren sie sich nah gewesen und zeitglich so weit von einander entfernt. Nie hatten sie sich wirklich berühren können. Doch nun hielten sie einander im Arm und William spürte die Wärme seines Bruders. Sein Herz begann ruhiger zu schlagen.
»Ich habe alles verloren, George.«
»Nicht alles, William, noch hast du Lina und deine Freunde«, George hielt William an den Schultern und blickte ihm tief in die Augen.
»Sonaht hat mich dazu gezwungen, eine Entscheidung zu fällen.«
»Und das war grausam von ihm. Aber an diesem Ort wird deine Tochter Frieden finden, inmitten all jener, die bereits Frieden gefunden haben. Auch ich liege hier begraben. Ich werde über sie wachen, Bruder, das verspreche ich dir.«
»Ich war bereits oft hier«, meinte William, »weshalb hast du dich mir nicht früher gezeigt?«
»Weil es mir nicht gestattet war«, erklärte George. »Doch nun darf ich bei dir sein, für kurze Zeit.«
»Wer hat es dir ermöglicht? Ekin?«
»Ekin mag ein mächtiges Wesen sein, doch es existieren noch weitaus größere Mächte im Multiversum.«
»Die Allmutter!« William blickte gen Himmel.
»Etwas ist im Gange, Will, das alles verändern könnte.«
»Was meinst du damit? Hat die Allmutter dir das gesagt?«
»Sie schickt mich, um es dir zu sagen. Ich bin ihr Bote.«
»Was meint sie damit – es könnte alles verändern?«
»Das weiß ich nicht. Doch es hat mit Ekin und Sonaht zu tun. Ekin ist nicht die, die sie zu sein vorgibt. Die Allmutter vertraut ihr nicht länger.«
»Der Schöpfer ebenso wenig. Er hat mir geraten, nicht länger auf Ekin zu hören. Anstelle dessen sollte ich meinem Herzen vertrauen und meine eigenen Entscheidungen treffen. Der Schöpfer und ich haben einen Plan.«
»Es war ein riskanter Plan. Und er hat uns viel abverlangt, Will. Der Schöpfer mag das Multiversum geschaffen haben, aber sein Schicksal liegt nicht länger in seinen Händen. Auch Gabriel darfst du nicht blind vertrauen.«
»Er war ehrlich zu mir. Als Einziger von den Göttern!«
»Ja, das mag sein. Womöglich, weil er keine andere Wahl hatte. Du hast den Gedächtniszauber gebrochen und ihn in eine heikle Situation gebracht. Denkst du, er hätte euch das Wasser der Erinnerung gegeben, wenn er eine Wahl gehabt hätte?«
»Dann soll ich nicht zur Kathedrale des Glaubens zurückkehren?« William blickte verwirrt drein.
»Das sagte ich nicht«, meinte George, »aber du solltest auf der Hut sein. Auch der Allmutter darfst du nicht vertrauen, und mir, als ihrem Boten, ebenfalls nicht. Du musst damit anfangen, eigene Entscheidungen zu treffen. Werfe einen Blick in das Buch der Worte, bevor du zu Pan zurückkehrst. Du wirst sehen, das Schicksal der Welten ist zum ersten Mal nicht in Stein gemeißelt. Es gibt kein Ende im Buch der Worte. Nicht einmal die Allmutter weiß, wie all das ausgehen wird.
Du befindest dich nicht länger im Griff der Magie der Worte. Du kannst nun eigene Entscheidungen treffen. Das wolltest du doch immer. Du besitzt die Macht und die Fähigkeiten, Alba und unsere Freunde zu retten. Du kannst sie alle retten, Will!«
»Und wenn ich mich dazu entscheide, Sonaht siegen zu lassen?«, wollte William erfahren.
»Dann wird es so sein. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, dass die Magie der Worte durch seinen Sieg enden wird. Niemand weiß, was er vorhat, nicht einmal die Allmutter. Wir wissen nur, dass es mit der Magie der Weisheit zu tun hat.«
»Ja, das weiß der Rat bereits.«
»Wie gesagt, Will, es liegt nun an dir. Du wurdest vor langer Zeit dazu bestimmt, das Schicksal des Multiversums zu entscheiden. Alles liegt nun in deinen Händen. Wie du dich auch entscheidest, tue es aus freien Stücken heraus.«
Mit diesen Worten löste sich George im Nebel auf und William war wieder allein inmitten der Stille der Gräber. Wie George es sagte, zog er das Buch der Worte aus der Jackentasche und schlug die letzte Seite auf. Sie war leer.
Nachdem der Schöpfer das Multiversum neu erschaffen hatte, hatte er auch die Magie der Worte vom Buch der Worte getrennt. Fortan war nicht länger ein Schreiber zum Erhalt der Geschichte notwendig. Die Geschichte schrieb sich selbst. Doch nach dem letzten Punkt auf der...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
ISBN-10 | 3-7597-8237-X / 375978237X |
ISBN-13 | 978-3-7597-8237-3 / 9783759782373 |
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