Das Lied von Eis und Feuer 1
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-442-24729-5 (ISBN)
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George R. R. Martin, 1948 in Bayonne/New Jersey geboren, veröffentlichte seine ersten Kurzgeschichten im Jahr 1971 und gelangte damit in der Science-Fiction-Szene zu frühem Ruhm. Gleich mehrfach wurde ihm der renommierte Hugo Award verliehen. Danach arbei
»Wir sollten umkehren«, drängte Gared, als es im Wald um sie zu dunkeln begann. »Die Wildlinge sind tot.«
»Machen euch die Toten angst?« fragte Ser Waymar Royce mit nur dem Anflug eines Lächelns.
Gared ließ sich darauf nicht ein. Er war ein alter Mann, über fünfzig, und junge Lords hatte er schon so manchen kommen und gehen sehen. »Tot ist tot«, sagte er. »Die Toten sind nicht unsere Sache.«
»Sind sie denn tot?« fragte Royce leise. »Welchen Beweis haben wir?«
»Will hat sie gesehen«, sagte Gared. »Wenn er sagt, daß sie tot sind, dann ist mir das Beweis genug.«
Will hatte es gewußt. Früher oder später würde man ihn in den Streit hineinziehen. »Meine Mutter hat mich gelehrt, daß Tote keine Lieder singen«, warf er ein.
»Das hat meine Amme auch gesagt«, erwiderte Royce. »Glaub nie etwas, das du an der Zitze einer Frau hörst. Selbst von den Toten kann man etwas lernen.« Seine Stimme hallte nach, zu laut im dämmrigen Wald.
»Wir haben noch einen langen Ritt vor uns«, erklärte Gared. »Acht Tage, vielleicht neun. Und es wird Nacht.«
Unbeeindruckt sah Ser Waymar Royce zum Himmel auf. »Das wird es jeden Tag um diese Zeit. Beraubt dich die Dunkelheit deiner Manneskraft, Gared?«
Will konnte den angespannten Zug um Gareds Mund erkennen, den kaum unterdrückten Zorn in seinen Augen unter der dicken, schwarzen Kapuze seines Umhangs. Gared gehörte der Nachtwache seit vierzig Jahren an, als Mann und schon als Junge, und er war es nicht gewohnt, daß man sich über ihn mokierte. Doch war es mehr als das. Hinter dem verletzten Stolz bemerkte Will noch etwas anderes bei diesem alten Mann. Man konnte es wittern, eine nervöse Anspannung, die der Angst gefährlich nahe kam.
Will teilte sein Unbehagen. Vier Jahre war er auf der Mauer. Als man ihn zum ersten Mal auf die andere Seite geschickt hatte, waren ihm all die alten Geschichten wieder eingefallen, und fast war ihm das Herz in die Hose gerutscht. Später hatte er darüber gelacht. Inzwischen war er ein Veteran, hatte hundert Patrouillen hinter sich, und die endlose, finstere Wildnis, welche die Südländer den Verwunschenen Wald nannten, konnte ihn nicht mehr schrecken.
Bis zum heutigen Abend. Heute war irgend etwas anders. Eine Schärfe lag in dieser Finsternis, bei der sich ihm die Nackenhaare sträubten. Neun Tage waren sie geritten, nach Norden und Nordwesten und dann wieder nach Norden, immer weiter von der Mauer fort, hart auf den Fersen einer Bande von Plünderern. Jeder Tag war schlimmer als der Tag zuvor gewesen. Heute war der schlimmste von allen. Kalter Wind wehte von Norden her und ließ die Bäume rascheln, als wären sie lebendig. Den ganzen Tag schon schien es Will, als würden sie beobachtet, von etwas Kaltem, Unerbittlichem, das ihn nicht mochte. Auch Gared hatte es gespürt. Will wollte nichts lieber als schnellstmöglich in den Schutz der Mauer reiten, nur war das nichts, was man seinem Vorgesetzten anvertraute.
Besonders nicht einem Vorgesetzten wie diesem.
Ser Waymar Royce war der jüngste Sohn eines alten Geschlechts mit allzu vielen Erben. Er war ein hübscher Junge von achtzehn Jahren, mit grauen Augen, anmutig und schlank wie eine Klinge. Auf seinem mächtigen, schwarzen Streitroß ragte der Ritter über Will und Gared mit ihren kleineren Kleppern hoch auf. Er trug schwarze Lederstiefel, schwarze Wollhosen, schwarze Handschuhe aus Moleskin und ein feines, geschmeidiges Hemd aus schimmernden, schwarzen Ketten über Schichten von schwarzer Wolle und hartem Leder. Ser Waymar gehörte noch kein halbes Jahr zu den Brüdern der Nachtwache, doch konnte niemand behaupten, er hätte sich auf seine Berufung nicht vorbereitet. Zumindest was seine Garderobe anging.
Sein Umhang war die Krönung. Zobel, dick und schwarz und weich wie die Sünde. »Ich wette, die hat er alle eigenhändig gemeuchelt, der Mann«, hatte Gared beim Wein in der Kaserne erklärt, »hat den kleinen Biestern die Hälse umgedreht, unser großer Krieger.« In sein Lachen hatten alle mit eingestimmt.
Es fällt schwer, Befehle von einem Mann anzunehmen, über den man lachen mußte, wenn man einmal zu tief ins Glas geschaut hat, dachte Will, während er zitternd auf seinem Klepper saß. Gared mußte wohl ebenso empfinden.
»Mormont hat gesagt, wir sollten sie verfolgen, und das haben wir getan«, sagte Gared. »Sie sind tot. Die werden uns keinen Ärger mehr machen. Vor uns liegt ein harter Ritt. Nur das Wetter gefällt mir nicht. Wenn es schneit, könnte der Rückweg zwei Wochen dauern, und über Schnee könnten wir uns noch freuen. Schon mal einen Eissturm erlebt, Mylord?«
Der junge Herr schien ihn nicht zu hören. Er betrachtete die herabsinkende Dämmerung, auf diese halb gelangweilte, halb abwesende Art und Weise, die er meist an den Tag legte. Will war lange genug mit dem Ritter unterwegs gewesen, um zu wissen, daß man ihn am besten nicht störte, wenn er so dreinblickte. »Erzähl mir noch einmal, was du gesehen hast, Will. Sämtliche Einzelheiten. Laß nichts aus.«
Will war Jäger gewesen, bevor er sich der Nachtwache angeschlossen hatte. Nun, eigentlich Wilderer. Reiter hatten ihn in Mallisters Wald auf frischer Tat ertappt, als er gerade einen Hirsch häutete, der dem Mallister gehörte, und ihm war nur die Wahl geblieben, Schwarz zu tragen oder eine Hand einzubüßen. Niemand konnte so lautlos durch die Wälder streifen wie Will, und die schwarzen Brüder hatten nicht lange gebraucht, um sein Talent zu erkennen.
»Das Lager liegt zwei Meilen von hier, hinter diesem Kamm, gleich neben einem Bach«, sagte Will. »Ich war so nah dran, wie ich mich traute. Sie sind zu acht, Männer wie Frauen. Kinder konnte ich keine sehen. An den Fels haben sie einen Unterstand gebaut. Mittlerweile ist er ziemlich schneebedeckt, aber ich konnte ihn trotzdem erkennen. Es brannte kein Feuer, aber die Feuerstelle war nicht zu übersehen. Niemand hat sich gerührt. Ich habe sie lange beobachtet. Kein Lebender kann so lange still liegen.«
»Hast du Blut gesehen?«
»Nein, das nicht«, räumte Will ein.
»Hast du Waffen gesehen?«
»Ein paar Schwerter, ein paar Bögen. Ein Mann hatte eine Axt. Sah schwer aus, mit doppelter Klinge, ein grausiges Stück Eisen. Es lag neben ihm, direkt bei seiner Hand.«
»Hast du darauf geachtet, wie die Leichen lagen?«
Will zuckte mit den Achseln. »Einige sitzen an den Stein gelehnt. Die meisten liegen am Boden. Als wären sie gestürzt.«
»Oder als würden sie schlafen«, vermutete Royce.
»Als wären sie gestürzt«, beharrte Will. »Eine Frau liegt da im Eisenholz, halb verborgen von den Zweigen. Mit abwesendem Blick.« Er lächelte leise. »Ich habe darauf geachtet, daß sie mich nicht sieht. Als ich näher kam, habe ich gesehen, daß auch sie sich nicht mehr rührt.« Unwillkürlich ging ihm ein Schauer über den Rücken.
»Ist dir kalt?« fragte Royce.
»Ein wenig«, murmelte Will. »Der Wind, Mylord.«
Der junge Ritter wandte sich zu seinem ergrauten Krieger um. Erfrorene Blätter umflüsterten sie, und Royces Streitroß wurde unruhig. »Was, glaubst du, hat diese Leute getötet, Gared?« fragte Ser Waymar beiläufig. Er strich über seinen langen Zobelmantel.
»Es war die Kälte«, sagte Gared mit eiserner Bestimmtheit. »Ich habe im letzten Winter gesehen, wie Menschen erfrieren, und auch in dem davor, als ich fast noch ein Junge war. Alle reden von vierzig Fuß hohem Schnee und daß der Wind von Norden her heult, doch der eigentliche Feind ist die Kälte. Sie schleicht sich leise an als Wind, und anfangs zittert man, und die Zähne klappern, und man stampft mit den Füßen und träumt von Glühwein und hübschen, heißen Feuern. Sie brennt, das tut sie. Nichts brennt wie die Kälte. Doch nur eine Weile. Dann kriecht sie in dich hinein und fängt an, dich auszufüllen, und nach einer Weile hast du keine Kraft mehr, dich zu wehren. Es fällt leichter, sich hinzusetzen oder einzuschlafen. Man sagt, man spürt am Ende keine Schmerzen. Erst wird man schwach und müde, und alles läßt nach, und dann ist es, als würde man in einem Meer aus warmer Milch versinken. Friedlich eigentlich.«
»Diese Beredsamkeit, Gared«, bemerkte Ser Waymar. »Nie hätte ich so etwas bei dir vermutet.«
»Ich hatte die Kälte selbst schon in mir, junger Herr.« Gared schob seine Kapuze zurück und ließ Ser Waymar einen langen, gewissenhaften Blick auf die Stümpfe werfen, wo einst seine Ohren gesessen hatten. »Zwei Ohren, drei Zehen und der kleine Finger meiner linken Hand. Ich bin noch gut weggekommen. Meinen Bruder haben wir erfroren auf seinem Posten gefunden, mit einem Lächeln auf dem Gesicht.«
Ser Waymar zuckte mit den Schultern. »Du solltest dich wärmer anziehen, Gared.«
Gared warf dem jungen Lord einen bösen Blick zu, und die Narben um seine Ohrlöcher, wo Maester Aemon ihm die Ohren abgeschnitten hatte, wurden rot vor Zorn. »Wir werden sehen, wie warm Ihr Euch kleiden könnt, wenn der Winter kommt.« Er zog seine Kapuze hoch und kauerte auf seinem Klepper, schweigend und brütend.
»Wenn Gared sagt, daß es die Kälte war . . .«, setzte Will an.
»Hast du letzte Woche Wache geschoben, Will?«
»Ja, Mylord.« Es verging keine Woche, in der er nicht ein ganzes dutzendmal Wache schob. Worauf wollte der Mann hinaus?
»Und was hat die Mauer getan?«
»Geweint«, sagte Will. Jetzt war alles klar, nachdem der junge Lord ihn darauf hingewiesen hatte. »Sie hätten nicht erfrieren können. Nicht, wenn die Mauer weint. Es war nicht kalt genug.«
Royce nickte. »Kluger Kopf. Wir hatten in dieser Woche ein paarmal leichten Frost, und hin und wieder einen leichten Schneeschauer, doch sicher keinen Frost, der so hart war, daß er acht erwachsene Menschen töten konnte. Menschen in Fell und Leder, wenn ich euch erinnern darf, mit Obdach in der Nähe und der Möglichkeit, ein Feuer zu machen.« Das Grinsen des Ritters war anmaßend. »Will, bring uns dorthin. Ich möchte diese Toten mit eigenen Augen sehen.«
Und dann war nichts mehr zu ändern. Der Befehl war erteilt, und die Ehre hieß sie, sich zu fügen.
Will ritt voraus, und sein zottiger, kleiner Klepper suchte sich sorgsam einen Weg durchs Unterholz. In der Nacht zuvor war ein wenig Schnee gefallen, und Steine und Wurzeln und verborgene Mulden lagen gleich unter der Kruste und warteten auf die Sorglosen und Unachtsamen. Dahinter kam Ser Waymar, und sein großes, schwarzes Streitroß schnaubte voller Ungeduld. Ein Streitroß war das falsche Reittier für Patrouillen, nur war das einem jungen Lord nicht beizubringen. Gared bildete die Nachhut. Beim Reiten murmelte der alte Krieger vor sich hin.
Immer dunkler wurde es. Der wolkenlose Himmel wandelte sich zu einem dunklen Rot, die Farbe einer alten Prellung, dann schließlich war er schwarz. Die ersten Sterne kamen hervor. Die Sichel des Mondes stieg auf. Will war dankbar für das Licht.
»Wir können doch bestimmt auch schneller vorankommen«, sagte Royce, nachdem der Mond ganz aufgegangen war.
»Nicht mit diesem Pferd«, sagte Will. Die Angst machte ihn unverschämt. »Vielleicht möchte Euer Lordschaft vorausreiten?«
Ser Waymar Royce geruhte nicht zu antworten.
Irgendwo tief in den Wäldern heulte ein Wolf.
Will lenkte seinen Klepper zu einem alten, knorrigen Stück Eisenholz und stieg ab. »Wieso hältst du an?« fragte Ser Waymar. »Am besten gehen wir den Rest des Weges zu Fuß, Mylord. Es ist gleich dort hinter diesem Kamm.«
Royce wartete einen Moment lang, starrte in die Ferne, mit nachdenklicher Miene. Kalter Wind flüsterte durch die Bäume. Sein großer Zobelmantel wehte hinter ihm, als steckte Leben darin.
»Irgend etwas stimmt hier nicht«, murmelte Gared.
Der junge Lord warf ihm ein verächtliches Lächeln zu. »Ist das so?«
»Spürt Ihr es denn nicht?« fragte Gared. »Lauscht der Finsternis!«
Will konnte es spüren. Vier Jahre war er bei der Nachtwache, und noch niemals hatte er sich so sehr gefürchtet. Was war das?
»Wind. Raschelnde Bäume. Ein Wolf. Was davon beraubt dich deiner Manneskräfte, Gared?« Als Gared nicht antwortete, glitt Royce elegant aus seinem Sattel. Er band das Streitroß an einem tiefhängenden Ast fest, abseits der anderen Pferde, zog sein Langschwert aus der Scheide, und Mondlicht lief am schimmernden Stahl hinab. Es war eine prachtvolle Waffe, auf einer Burg geschmiedet, und allem Anschein nach nagelneu. Will bezweifelte, ob es je im Zorn des Kampfes geschwungen worden war.
»Die Bäume stehen eng«, warnte Will. »Das Schwert wird Euch behindern, Mylord. Greift besser zum Messer.« »Wenn ich Anleitung bräuchte, würde ich darum bitten«, sagte der junge Lord. »Gared, bleib hier. Bewach die Pferde.« Gared stieg ab. »Wir brauchen ein Feuer. Ich kümmere mich darum.« »Wie dumm bist du, alter Mann? Wenn Feinde in diesem Wald sind, ist ein Feuer das letzte, was wir brauchen.« »Es gibt auch Feinde, die ein Feuer fernhält«, sagte Gared. »Bären und Schattenwölfe und . . . und andere . . .« Ser Waymars Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Kein Feuer.« Gareds Kapuze verbarg sein Gesicht, doch Will konnte das harte Funkeln in seinen Augen sehen, als er den Ritter anstarrte.
Einen Moment lang fürchtete er, der ältere Mann könne zum Schwert greifen. Es war ein kurzes, häßliches Ding, der Griff vom Schweiß entfärbt, die Klinge vom vielen Gebrauch gekerbt, doch Will hätte keinen Eisenschilling für das Leben des Lords gegeben, wenn Gared es aus seiner Scheide gezogen hätte.
Schließlich sah Gared zu Boden. »Kein Feuer«, murmelte er leise.
Royce nahm es als Einwilligung und wandte sich ab. »Geh voraus«, wies er Will an.
Will bahnte ihnen einen Weg durchs Dickicht, dann stieg er den Hang zum flachen Kamm hinauf, wo er seinen Aussichtspunkt unter einem Wachbaum gefunden hatte. Unter der dünnen Schneekruste war der Boden feucht und matschig, rutschig, mit Steinen und verborgenen Wurzeln, über die man stolpern konnte. Lautlos kletterte Will voran. Hinter sich hörte er das sanfte, metallische Rasseln vom Kettenhemd seines Herrn, das Rascheln der Blätter und unterdrückte Flüche, als lange Äste nach seinem Langschwert griffen und an seinem prachtvollen Zobel zerrten.
Der große Wachbaum stand genau dort oben auf dem Kamm, wo Will ihn in Erinnerung hatte, die untersten Äste kaum einen Fuß über dem Boden. Will schob sich darunter, flach auf dem Bauch durch Schnee und Schlamm, und blickte auf die leere Lichtung unter sich hinab.
Ihm stockte das Herz. Einen Moment lang wagte er nicht zu atmen. Mondlicht schien auf die Lichtung hinab, die Asche der Feuerstelle, den schneebedeckten Unterstand, den großen Felsen, den kleinen halb gefrorenen Bach. Alles war genau so, wie er es noch wenige Stunden zuvor verlassen hatte.
Nur war keiner mehr da. Alle Leichen waren verschwunden.
»Bei allen Göttern!« hörte er hinter sich. Ein Schwert schlug gegen einen Ast, als Ser Waymar Royce den Kamm erklomm. Er stand neben dem Wachbaum, das Langschwert in der Hand, der Umhang wehte in seinem Rücken, da Wind aufkam, edel und für jedermann im Licht der Sterne gut zu sehen.
»Runter!« flüsterte Will aufgebracht. »Irgendwas stimmt hier nicht.«
Royce rührte sich nicht von der Stelle. Er sah auf die leere Lichtung hinab und lachte. »Deine Toten scheinen ihr Lager abgebrochen zu haben, Will.«
Wills Stimme versagte ihm den Dienst. Er rang um Worte, die nicht kommen wollten. Es war nicht möglich. Sein Blick ging über das verlassene Lager hin und her, blieb an der Axt hängen. Die riesenhafte Streitaxt mit doppelter Klinge lag noch immer da, wo er sie zuletzt gesehen hatte, unangetastet. Eine wertvolle Waffe . . .
»Steh auf, Will!« befahl Ser Waymar. »Da ist niemand. Ich will nicht, daß du dich unter einem Busch versteckst.«
Widerstrebend fügte sich Will.
Ser Waymar musterte ihn mit offener Verachtung. »Ich werde nicht von meinem ersten Streifzug nach Castle Black zurückkehren, ohne einen Erfolg vorweisen zu können.« Er sah sich um. »Auf den Baum. Beeil dich! Such nach einem Feuer.«
Will wandte sich wortlos ab. Es hatte keinen Sinn zu streiten. Der kalte Wind fuhr ihm in die Glieder. Will trat an den Baum, einen gewölbten, graugrünen Wachbaum, und begann zu klettern. Bald schon klebten seine Hände vom Harz, und er hatte sich in den Nadeln verirrt. Wie eine Mahlzeit, die er nicht verdauen konnte, breitete sich Angst in seiner Magengrube aus. Er flüsterte ein Gebet an die namenlosen Götter des Waldes und befreite seinen Dolch aus dessen Scheide. Er klemmte ihn zwischen die Zähne, um beide Hände zum Klettern frei zu haben. Der Geschmack von kaltem Eisen schenkte ihm Trost.
Weit unten rief plötzlich der junge Lord: »Was gibt es da?« Will spürte die Unsicherheit in seiner Stimme. Er hörte auf zu klettern. Er lauschte. Er suchte.
Der Wald gab Antwort: das Rascheln des Laubs, das eisige Rauschen des Baches, der ferne Schrei einer Schneeeule.
Die Anderen machten kein Geräusch.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Will eine Bewegung. Fahle Formen glitten durch den Wald. Er wandte den Kopf um, sah einen weißen Schatten in der Dunkelheit. Dann war er wieder verschwunden. Zweige schwankten sanft im Wind. Will öffnete den Mund, um einen Warnruf auszustoßen, doch die Worte erfroren ihm in der Kehle. Vielleicht täuschte er sich. Vielleicht war es nur ein Vogel gewesen, ein Schatten auf dem Schnee, das Mondlicht, das ihn täuschte. Was hatte er denn schon gesehen?
»Will, wo bist du?« rief Ser Waymar herauf. »Kannst du etwas erkennen?« Langsam drehte er sich um, das Schwert in seiner Hand. Er mußte sie gespürt haben, ganz wie Will sie spürte. Es war nichts zu sehen. »Antworte mir! Warum ist es so kalt?«
Es war kalt. Zitternd klammerte sich Will fester an seinen Sitz. Sein Gesicht preßte sich hart an den Stamm des Wachbaumes. Er konnte das süße, klebrige Harz an seiner Wange fühlen.
Ein Schatten trat aus dem Dunkel des Waldes. Er blieb direkt vor Royce stehen. Hoch ragte er vor ihm auf, hager und hart wie alte Knochen, mit Haut so weiß wie Milch. Seine Rüstung schien die Farbe zu verändern, wenn er sich bewegte. Hier war er weiß wie frischer Schnee, dort schwarz wie ein Schatten, überall gesprenkelt mit dem dunklen Graugrün der Bäume. Mit jedem Schritt verliefen die Muster wie Mondlicht auf dem Wasser.
Will hörte Ser Waymar Royce seinen Atem mit langem Zischen ausstoßen. »Kommt nicht näher«, warnte der junge Lord. Seine Stimme überschlug sich wie die eines Kindes. Er warf den langen Zobelmantel über seine Schulter, um die Arme für den Kampf frei zu haben, und nahm sein Schwert in beide Hände. Der Wind hatte sich gelegt. Es war sehr kalt.
Mit lautlosen Schritten trat der andere vor. In seiner Hand hielt er ein Langschwert, wie Will es nie zuvor gesehen hatte. Kein den Menschen bekanntes Metall war zu dieser Klinge geschmiedet worden. Es lebte im Mondlicht, durchscheinend, eine kristallene Scherbe, so dünn, daß sie fast zu verschwinden schien, wenn man sie von der Seite sah. Ein schwacher, blauer Schimmer lag über dieser Waffe, gespenstisches Licht, das seinen Rand umspielte, und irgendwie wußte Will, daß es schärfer als jedes Barbiermesser war.
Ser Waymar trat ihm tapfer entgegen. »Dann tanzt mit mir.« Herausfordernd hob er sein Schwert hoch über den Kopf. Die Hände zitterten vom Gewicht oder vielleicht auch von der Kälte. Doch in diesem Augenblick, so dachte Will, war er kein Junge mehr, sondern ein Mann der Nachtwache.
Der Andere zögerte. Will sah seine Augen, dunkler und blauer, als Menschenaugen jemals sein konnten, ein Blau, das brannte wie Eis. Sie richteten sich auf das Langschwert, das dort oben bebte, betrachteten das Mondlicht, das kalt über das Metall lief. Einen Herzschlag lang wagte er zu hoffen.
Lautlos traten sie aus der Dunkelheit hervor, Zwillinge des ersten. Drei von ihnen . . . vier . . . fünf . . . Ser Waymar mußte die Kälte gespürt haben, die mit ihnen kam, doch sah er sie nicht, hörte sie nicht mehr. Will hätte schreien müssen. Es war seine Pflicht. Und sein Tod, wenn er es täte. Er zitterte, klammerte sich an den Baum und schwieg.
Das helle Schwert schnitt durch die Luft.
Ser Waymar trat ihm mit Stahl entgegen. Als sich die Klingen trafen, erklang kein Singen von Metall auf Metall, nur ein hoher, dünner Ton, den man kaum hören konnte, wie ein Tier, das vor Schmerzen schrie. Royce hielt einem zweiten Hieb stand, und einem dritten, dann wich er einen Schritt zurück. Ein weiteres Blitzen von Hieben, und wieder wich er zurück.
Hinter ihm, rechts von ihm und links, überall um ihn herum, standen schweigend Zuschauer, und die sich wandelnden Muster auf ihren feinen Rüstungen machten sie im Wald fast unsichtbar. Dennoch rührten sie sich nicht, um einzugreifen.
Wieder und wieder trafen die Schwerter aufeinander, bis Will sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, um das seltsam gequälte Klagen der Hiebe nicht hören zu müssen. Schon keuchte Ser Waymar von den Mühen, und sein Atem dampfte im Mondlicht. Seine Klinge war weiß vom Frost, doch die des Anderen tanzte mit blaßblauem Licht.
Dann kam Royces Parade um einen Herzschlag zu spät. Das helle Schwert schnitt unter seinem Arm durchs Kettenhemd. Vor Schmerzen schrie der junge Lord. Blut quoll zwischen den Ketten hervor. Es dampfte in der Kälte, und die Tropfen leuchteten rot wie Feuer, als sie in den Schnee tropften. Ser Waymar strich mit der Hand über seine Seite. Als er sie wieder fortnahm, waren seine Moleskin-Handschuhe blutdurchtränkt.
Der Andere sagte etwas in einer Sprache, die Will nicht kannte. Seine Stimme klang wie das Knacken von Eis auf einem winterlichen See, und die Worte waren voller Hohn.
Ser Waymar geriet in Wut. »Für Robert!« rief er und richtete sich ächzend auf, hob das eisbedeckte Langschwert und schwang es mit seinem ganzen Gewicht in flachem Bogen. Die Parade des Anderen kam beinah träge.
Als sich die Klingen trafen, barst der Stahl.
Ein Schrei hallte durch den nächtlichen Wald, und das Langschwert sprang in hundert spröde Teile, deren Scherben wie ein Nadelregen niedergingen. Royce fiel auf die Knie, schrie und schützte seine Augen. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
Wie ein Mann traten die Zuschauer vor, als hätte jemand ein Zeichen gegeben. Schwerter hoben sich und stießen herab, all das in tödlicher Stille. Es war ein kaltes Schlachten. Die blassen Klingen durchschnitten die Ketten wie Seide. Will schloß die Augen. Weit unter sich hörte er Stimmen und Gelächter, das spitz wie Eiszapfen klang.
Als er den Mut fand, wieder hinzusehen – und es war viel Zeit vergangen –, fand er den Kamm unter sich leer.
Reihe/Serie | BLA - Fantasy ; 24729 | Das Lied von Eis und Feuer ; BD 1 | 1.10 |
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Übersetzer | Jörn Ingwersen |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Game of Thrones |
Maße | 135 x 206 mm |
Gewicht | 562 g |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Fantasy • Taschenbuch / Belletristik/Fantasy • TB/Belletristik/Fantasy |
ISBN-10 | 3-442-24729-2 / 3442247292 |
ISBN-13 | 978-3-442-24729-5 / 9783442247295 |
Zustand | Neuware |
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