Autobiografie eines Kraken (eBook)
187 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0994-8 (ISBN)
Vinciane Despret, 1959 im belgischen Anderlecht geboren, ist Professorin für Wissenschaftsphilosophie an den Universitäten Liège und Brüssel. Gemeinsam mit Isabelle Stengers, bei der sie 1997 promovierte, und Bruno Latour verfolgt sie das Ziel, Wissenschaftlern auf ihren Feldern und in ihrer Praxis zu folgen und zu verstehen, wie sie ihre Studienobjekte interessant machen. So untersuchte sie das Verhalten u. a. von Verhaltensforschern in Neuseeland und Israel. Im Jahr 2021 erhielt sie den Moron-Preis der Académie française für ihr Gesamtwerk.
Vinciane Despret, 1959 im belgischen Anderlecht geboren, ist Professorin für Wissenschaftsphilosophie an den Universitäten Liège und Brüssel. Gemeinsam mit Isabelle Stengers, bei der sie 1997 promovierte, und Bruno Latour verfolgt sie das Ziel, Wissenschaftlern auf ihren Feldern und in ihrer Praxis zu folgen und zu verstehen, wie sie ihre Studienobjekte interessant machen. So untersuchte sie das Verhalten u. a. von Verhaltensforschern in Neuseeland und Israel. Im Jahr 2021 erhielt sie den Moron-Preis der Académie française für ihr Gesamtwerk. Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray. 2021 erhielt sie den renommierten Prix Lémanique de la traduction.
Anmerkung der Verfasserin des vorliegenden Berichts
Das Studium des Tinnitus war ein Meilenstein in der Geschichte der Forschungen über die expressiven Künste in der Tier- und Pflanzenwelt. Es war eine lange, schwierige Spurensuche, doch das ihr zugrunde liegende Rätsel hat, wie auch seine spätere Auflösung, das Wissensfeld radikal verändert und neuen Untersuchungsmethoden geöffnet. Bis dato hatte sich der historische Verein für Therolinguistik der Übersetzung und Analyse der wilden Literaturen angenommen. Irgendwann aber stellte sich heraus, dass seine Methoden und die Definition seines Forschungsfeldes zwar heuristisch fruchtbar sein mochten, aber viele Arten, die offenbar romanhafte, poetische, lyrische oder pamphletistische Formen ausgebildet hatten, von der literarischen Praxis ausschlossen. Diese Infragestellung war für den Erfolg des Tinnitus-Studiums ausschlaggebend. Wir haben also beschlossen, dessen Geschichte mithilfe der gefundenen Dokumente zu rekonstruieren. In diese umfangreiche Akte haben wir allerdings nur Archivunterlagen aufgenommen, die uns für das Verständnis grundlegend erschienen.
Archiv Nr. 324 (Bestände der Gesellschaft für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften)
Auszug aus dem Protokoll der Gründungsversammlung für eine neue, von der Gesellschaft für Therolinguistik unabhängige Gesellschaft
Den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Ausschusses war es zunächst ein Anliegen, die erheblichen, bisher vom Verein für Therolinguistik erbrachten Fortschritte zu würdigen. Besonders jene, die durch die Entdeckung fragmentarischer Botschaften von Ameisen ermöglicht wurden, welche in Form von Drüsenausschwitzungen auf sorgfältig arrangierten Akaziensamen gefunden worden waren.3 Davon auszugehen, dass es sich um eine absichtlich von einer anonymen Ameise hinterlassene Botschaft handelte, war ebenso riskant wie letztendlich erfolgversprechend. Natürlich sorgten die Analyse der Fragmente und erst recht ihre Übersetzung in der Therolinguistik für Kontroversen – da die Ameisen weder die erste noch die zweite Person im Gebrauch der Verben kennen, ließen sich Äußerungen wie »Eier essen!« nur schwer übersetzen. Ähnlich problematisch schien der Ausruf »Die Königin nach oben!« in einer Welt, in der das Oben ausgerechnet für die Gefahr und das zu Vermeidende steht – ob man ihn besser nicht-ethnozentrisch, als Ausdruck einer Revolte hätte fassen sollen: »Nieder mit der Königin!«? Die bis dato undenkbare Vorstellung einer pamphletistischen Poesie bei den Ameisen stellte einen entscheidenden Schritt dar und öffnete das Feld der Theroliteratur für zahlreiche, bisher vernachlässigte Ausdrucksformen. Außerdem beglückwünschen wir unsere Kolleg:innen zu der brillanten Untersuchung des kinetischen Gemeinschaftsschreibens bei den Adeliepinguinen.
Leider können wir hier nicht alle Erfolge einzeln aufführen. Der schönste besteht zweifellos darin, dass den Spinnen nach langer Zeit endlich Gerechtigkeit widerfahren ist: Man hat ihnen die Urheberschaft der Methode schlechthin aller historischen Wissenschaften zuerkannt – die Erfindung des Archivs. Ja, diese wunderbare Erfindung ist tatsächlich den Spinnen zu verdanken. Eine wegweisende Entdeckung der und für die Geschichte. Die Spinnen waren die Ersten, die eine Archivierungstechnologie für Ereignisse ausgefeilt haben, da ihre Netze, noch bevor sie Fallen, Architektur oder Territorium werden, das materielle, ausgelagerte Gedächtnis von Verhaltensweisen, Techniken und Stilen darstellen4 – seidige Kartografien stets in Entwicklung begriffener Gedächtnisse. Treffender kann man das Archiv nicht definieren. Dank dieser Anerkennung haben die Spinnennetze endlich auf die Liste des UNESCO-Welterbes gefunden.
Doch die Ermahnung, die unser zu früh verstorbener Präsident in seinem letzten Leitartikel vorgebracht hat, ist weder befolgt noch überhaupt gehört worden. Seine Forschungen zu tierischen linguistischen (poetischen, lyrischen oder sogar wissenschaftlichen) Formen mögen zwar interessant sein, wendete er ein, hätten jedoch mit einem erheblichen Hemmschuh zu kämpfen: Sie bevorzugten von jeher die Kinetik. Und das Privileg der Kinetik, des in Bewegung befindlichen Ausdrucks, ist das Privileg des Sichtbaren. Sicher, dieses Privileg beruht auf der Existenz von Spuren und ihrer potenziellen Konservierung (vor allem mithilfe von Fotos oder Videoaufnahmen), es hat die Geolinguistik aber dazu verleitet, einen unschätzbaren Teil des Kommunikationssystems der Tiere zu vernachlässigen. Ganz zu schweigen von dem der Pflanzen: Erfassen Sie mit dieser Methode nur mal »die raffinierten und ephemeren Gesänge der Flechte«5. Man erinnere sich an die Worte der präsidialen Ermahnung: »In früheren Zeiten haben wir die lobenswerte und nötige Anstrengung unternommen, auf das Privileg des Hörbaren zu verzichten, das die linguistische Forschung kontaminiert und den Tieren das begrenzte Feld der oralen Literaturen zugewiesen hat.« Wir müssen gegenwärtig unser Forschungsgebiet erweitern und unseren Ehrgeiz daransetzen, nicht-sichtbare Werke ausfindig zu machen.
Natürlich zwingt uns die historische Wahrheitspflicht zu erwähnen, dass die vom Präsidenten zitierte »lobenswerte und nötige Anstrengung, auf das Privileg des Hörbaren zu verzichten« allem Anschein nach keineswegs so freiwillig oder friedlich war wie es die Bezeichnung »Anstrengung« suggeriert: Immerhin endete sie mit dem Abschied der Ornotholinguistik aus unserer Gesellschaft.6 Wir müssen jedoch nicht zwingend auf diese traurige Begebenheit zurückkommen, konzentrieren wir uns lieber auf das eigentlich Revolutionäre am Vorschlag des Präsidenten: Es gelte unter allen Umständen mit dem Privileg des Sichtbaren zu brechen, das die Zukunft der Forschung erheblich einschränke. Es sei fortan Aufgabe der Therolinguistik, sich mit der Entdeckung und Übersetzung der nichthörbaren und nicht-sichtbaren Spuren zu beschäftigen. Für den Präsidenten bestand kein Zweifel: Solche Spuren musste es geben, und sie hatten einen Sinn. Dieser Sinn kann indes nur erkannt werden, wenn man die Auswirkungen untersuchte, deren Ausmaß selbst zu dieser Zeit noch kaum vorstellbar war.
Der Präsident fand kein Gehör. Die Therolinguist:innen waren der Aufgabe einer solchen Methodenerneuerung nicht gewachsen, diese Wissenschaft stieß an ihre eigenen Grenzen, ja wurde geradezu obsolet. Entsprechend wurde beschlossen …
[Die folgenden Blätter sind verloren gegangen. In Anbetracht der späteren Ereignisse können wir allerdings annehmen, dass in diesem Moment die Entscheidung gefallen ist, eine neue Gesellschaft zu gründen: für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften. Die Gesellschaft für Therolinguistik setzte ihre Forschungen fort – und profilierte sich mit ihrem neuen Namen »klassische Therolinguistik« –, ohne sich jedoch an der Studie beteiligen zu wollen, um die es in den vorliegenden Unterlagen geht.]
Archiv Nr. 451 (Bestände der Gesellschaft für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften)
Auszug aus einem Brief von Misses Frederic Lyman Wells an Doktor A. Bishop, Psychiater, Professor an der Harvard Medical School, 15. Februar 1936
Lieber Doktor Bishop, gerne antworte ich auf Ihre Frage und informiere Sie hiermit über den Gesundheitszustand meines Mannes, Ihres Kollegen Frederic Lyman Wells. Er ist offen gestanden bedenklich, ja hat sich sogar noch weiter verschlimmert. Gegen Ihre ausdrückliche Warnung wollte er die im vergangenen Sommer begonnenen Forschungen unbedingt wiederaufnehmen. Sie hatten die Vermutung geäußert, dass der übermäßige Gebrauch der Stimmgabel möglicherweise für seinen damals aufgekommenen Tinnitus verantwortlich sein könne. Doch er bestreitet nicht nur diese Vermutung, sondern behauptet außerdem, es handle sich gar nicht um einen Tinnitus7. Er bricht jeden Morgen in aller Frühe zu dem etwa 40 Kilometer entfernten Feld bei Hopkinton auf und bleibt dort den ganzen Tag. Man bekommt ihn kaum noch zu sehen, weder im Labor für Psychologie noch in der Klinik, wo er eigentlich seine Testauswertungen durchführen sollte. Manchmal bin ich ihm nachgegangen und habe ihn angefleht, wieder nach Hause zu kommen. Er schlug jedoch nur die Stimmgabel an und notierte fieberhaft jede einzelne Reaktion der Spinnen auf die Vibrationen. Mittlerweile bezeichnet er sich als ihr experimenteller Choreograf und beteuert, dass die Vibrationen, denen er sie aussetzt, indem er die Stimmgabel mal auf einen Faden des Netzes, mal auf eine seiner Halterungen, mal direkt an den Körper der Spinne hält, elegante Bewegungen auslösen, die er sich vorherzusehen bemüht. Die Spinnen tanzen zu stummen Klängen, sagt er. Doch meine eigentliche Sorge betrifft seinen Tinnitus, der sich trotz aller gegenteiligen Beteuerungen erheblich verschlimmert zu haben scheint. Mein Mann behauptet mittlerweile, dass die den Vibrationen ausgesetzten Spinnen Botschaften senden, die er hören kann. Angeblich antworten sie ihm! Auf Ihren Rat hin habe ich mir seine Notizbücher angeschaut und darin so sonderbare Dinge gefunden, dass ich das Schlimmste befürchten muss. Am 21. Dezember: »Respekt für die Rechte der Wirbellosen!« (*)8; am 3. Januar: »Hüte dich vor der geologischen Vergeltung, wenn du redest, ohne zu fragen!« (*). Wenn ich mich genauer erkundige, behauptet er, es handle sich um Orakel oder vielmehr orakelhafte Warnungen. Letzten Montag bekam er die...
Erscheint lt. Verlag | 31.10.2024 |
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Übersetzer | Nicola Denis |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Anthropologie • Anthropozentrismus • Fakten • Gedankenexperiment • Kommunikation • Kreativität • Linguistik • Meerestiere • Naturwissenschaft • Philosophie • Spinnen • Staunen • Tiere • Tierwelt |
ISBN-10 | 3-7518-0994-5 / 3751809945 |
ISBN-13 | 978-3-7518-0994-8 / 9783751809948 |
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Größe: 351 KB
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