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Das Schweigen der Knochen (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
CroCu (Verlag)
978-3-98743-130-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Schweigen der Knochen -  June Hur
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1800, Joseon (Korea): Die verwaiste sechzehnjährige Seol ist bei der Polizei angestellt und soll einen angesehenen jungen Inspektor bei der Untersuchung des politisch brisanten Mordes an einer Adeligen unterstützen. Während sie immer tiefer in die Geheimnisse der toten Frau eindringen, entwickelt Seol allmählich eine Freundschaft mit dem Inspektor. Ihre Loyalität wird auf die Probe gestellt, als er zum Hauptverdächtigen wird und Seol vielleicht die Einzige ist, die herausfinden kann, was in der Mordnacht wirklich passiert ist. Doch in einem Land, in dem Schweigen und Gehorsam über alles gehen, kann Neugier tödlich sein.

1


In der Hauptstadt war es totenstill.

Normalerweise herrschte morgens auf der staubigen Straße vor dem Changdeok-Palast reges Treiben: Frauen drängelten sich um Fischstände; Bauern karrten Obst und Gemüse; man traf auf Gelehrte in Seidengewändern und Mönche mit Gebetsperlen um den Hals. Und natürlich wuselte immer eine Schar Kinder umher – mit sonnenverbrannten, in der schwülen Hitze glänzenden Gesichtern –, die entlang der Straße Fangen spielten. Heute jedoch nicht.

»Meint Ihr, an den Gerüchten ist was dran, Wachtmeister Kyŏn?« Laut prasselte der Regen auf die schwarzen Dachziegel. Ich zog mir den Satgat tiefer ins Gesicht, sodass die Tropfen von der Strohspitze aus über die breite Krempe abperlten. »Von wegen, der König sei ermordet worden?«

Die Polizisten stapften weiter, unter ihren Stiefeln schmatzte der Schlamm.

Wachtmeister Kyŏn, der das Schlusslicht bildete und der Jüngste von ihnen war, warf mir einen grimmigen Schulterblick zu. »Hütet Eure Zunge. Hier in der Hauptstadt geht es anders zu als bei Euch auf dem Land.«

Damit spielte er auf die Präfektur Inchon an. Vor ein paar Monaten hatte ich mein Zuhause dort verlassen, um mich in der Hauptstadt zur Damo ausbilden zu lassen – einer Dienerin der Polizei, sozusagen Mädchen für alles.

»Aber, äh, eines kann ich Euch verraten.« Wachtmeister Kyŏn besah sich die graue Umgebung und zog den Stoffgürtel um sein schwarzes Gewand enger. »Als König Chŏngjo starb, kam vom Berg Samgaksan her ein schreckliches Wehklagen, und dann bündelten sich die Sonnenstrahlen und versprühten Funken!«

»Ein Omen?«, flüsterte ich.

»Ein schlechtes. Die alte Ordnung gibt es nicht mehr, und die neue wird von einem Strom aus Blut eingeläutet werden.«

Der König war tot. Nun würde sich unser Leben grundlegend ändern. Das hatte ich erfahren, als ich den Polizisten Reiswein eingeschenkt und dabei ihren Ausführungen über Politik und Verrat gelauscht hatte, die mich oft ganz aufgekratzt zurückließen. Obwohl wir gerade auf Geheiß des Inspektors unterwegs zu einem Tatort waren, konnte ich an nichts anderes denken.

»Da Ihr neu seid, lasst mich Euch etwas über die Hauptstadt erzählen: Hier ist jeder nur auf Macht aus; entweder will man sie an sich reißen oder festigen. Aber was geht das eine Damo an? Für eine Frau quatscht Ihr sowieso zu viel.« Er schnalzte mit der Zunge und scheuchte mich weg.

Ich ärgerte mich ein wenig und ich hielt mich im Schatten hinter ihm. Er hatte natürlich recht – auch wenn ich mich noch nicht als Frau bezeichnet hätte. Ich war schließlich erst sechzehn. Trotzdem wusste ich bereits, dass Geschwätzigkeit zu den sieben Sünden der Frauen gehörte. Für einen Mann war das sogar ein anerkannter Scheidungsgrund.

An meinem unersättlichen Wissensdurst war meine Schwester schuld. Für eine Bedienstete war sie ungewöhnlich belesen und in buddhistischen wie konfuzianischen Lehren bewandert – auch wenn sie stets versucht hatte, das vor mir und den Dorfbewohnern geheim zu halten. Oft hatte ich an ihren langen Ärmeln gezupft und sie darum gebeten, mir mehr darüber zu erzählen, aber sie hatte sich jedes Mal losgerissen und gesagt: »Es ist besser, wenn du nichts von alledem weißt. Falle nicht auf, sei nicht so neugierig, dann wird dir ein langes Leben vergönnt sein, Seol.« Ich hatte ihr das stets verübelt; jetzt allerdings begriff ich, was sie damit gemeint hatte. In letzter Zeit brockte ich mir mit meinem Wissensdurst nichts als Ärger ein.

»Ihr da.«

Ich hob den Kopf. Inspektor Han stand ganz in der Nähe. Er beobachtete mich unter der breiten Krempe seines schwarzen Polizeihutes. Die mit Perlen geschmückte Hutschnur unter seinem Kinn schaukelte in den nassen Böen. Gleich hinter ihm warteten seine Männer, die vor uns am Schauplatz angekommen sein mussten: zwei Wachtmeister, der Gehilfe des Leichenbeschauers, ein Gerichtsschreiber und der Polizeizeichner. Während ich zum Inspektor eilte, blieben die sechs Polizisten, mit denen ich hergekommen war, in Hörreichweite und unterhielten sich leise:

»Wurde von einem Wachmann entdeckt.«

»Wann?«

»Er war gerade am Südtor auf Patrouille, und am Ende seiner Schicht lag sie einfach da.«

Ich faltete die Hände und verbeugte mich vor Inspektor Han – tiefer, als nötig gewesen wäre. Er war einer der wenigen, die es würdig waren, meinen Scheitel zu sehen. Er erinnerte mich an den kräftigen, getupften Leoparden aus meinem Heimatdorf – ein blitzschneller, muskelbepackter Jäger, der klettern und springen konnte wie kaum ein anderer und so lautlos durchs Gras glitt, dass dabei kaum ein Halm zitterte.

»Ihr habt nach mir geschickt, Inspektor.«

»Seht sie Euch an.«

Er zeigte auf die Tote, die ein paar Schritte entfernt lag. Ich trat in den gewaltigen Schatten der Stadtmauer Hanyangs, der Hauptstadt Joseons. Sie war so hoch, dass die Berge dahinter verschwanden, und so dick, dass ein Eindringling tausend Jahre gebraucht hätte, um sich durch die massiven Steinblöcke zu kämpfen. Die Welt dort draußen war gefährlich, doch in der Festung war es offenbar nicht viel sicherer.

Beim Anblick der jungen Frau drehte sich mir der Magen um. Die Arme und Beine von sich gestreckt, lag sie mit dem Gesicht nach unten im Regen, völlig durchweicht. Ihrer Kleidung zufolge musste sie eine Adelige sein: Sie trug ein langes Kleid, dazu eine Jacke aus seidiger Ramiefaser. Ärmel und Kragen waren mit prächtigen Blumenmustern bestickt.

»Dreht sie um«, befahl Inspektor Han. »Wir müssen uns noch ihre Wunde ansehen.«

Ich stieg über die Leiche, ging in die Hocke und packte sie an der Schulter. Genau deswegen beschäftigte die Hauptstadtpolizei Dienerinnen wie mich: Ich war sozusagen der verlängerte Arm der Wachtmeister; durch mich untersuchten sie weibliche Opfer und nahmen Verbrecherinnen fest. Männern war es offiziell verboten, Frauen zu berühren, mit denen sie weder verheiratet noch verwandt waren. Eine ungünstige Komplikation, aber so lautete nun einmal das Gesetz des Konfuzius.

Als ich die Tote auf den Rücken drehte, raschelte ihr wallender Rock, und ich zuckte fast zusammen, als ihr langes, nasses Haar an meinem Ärmel kleben blieb. Bloß nicht schreien.

Ich schloss die Augen. In mir stieg Panik hoch. Nie zuvor hatte ich ein Mordopfer angefasst, schließlich arbeitete ich erst seit ein paar Monaten im Revier. Ich holte tief Luft und zupfte mir die durchweichten Leichensträhnen vom Ärmel, dann zwang ich mich, wieder nach unten zu schauen. Ihr weißer Kragen war voller Blutflecken. Über die bleiche Kehle zog sich eine tiefe, ausgefranste Schnittwunde. Ihre Augen waren trüb. Außerdem klaffte mitten im Gesicht statt der Nase ein blutiges Loch, wie bei einem Totenschädel.

»Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten«, stellte Inspektor Han fest. Dann deutete er auf den Zieranhänger mit Quaste, der am Rock des Opfers befestigt war. »Ihr Norigae wurde nicht entwendet; auch die Schmucknadel steckt noch im Haar. Das hier war kein Raubüberfall. Und was ist das da unter der linken Schulter?«

Ich hob sie an. Ein kleines, blutverschmiertes Ziermesser mit Silbergriff …

Erneut wandte ich mich dem Norigae zu. Auf den zweiten Blick fiel mir die zugehörige Hülle auf, die mit einem Zierknoten am Norigae festgebunden war: ein Paedo – oder genauer gesagt nur die Scheide. Meine Hände bewegten sich wie von selbst; ich nahm die Mordwaffe und steckte sie in die mit türkisen Edelsteinen besetzte Hülle.

»Das Messer hat ihr gehört«, flüsterte der Inspektor erstaunt. »Gebt das dem Schreiber.«

Ich tat wie geheißen, verblüfft darüber, dass die Frau mit ihrem eigenen Messer ermordet worden war.

»Und jetzt sucht nach der Kennmarke.«

»Neh.« Ich tastete die Leiche ab, vergrub meine Hand in ihrem Rock und holte schließlich eine gelbe Marke aus Pappelholz hervor. Bei den eingravierten Schriftzeichen handelte es sich vermutlich um den Namen der Trägerin, ihren Geburts- und Wohnort sowie ihren Stand in der Gesellschaft. Sicher war ich mir dessen aber nicht, denn für mich waren Buchstaben nur bedeutungsloses Gekrakel. Hier handelte es sich wahrscheinlich um Hanja – klassische chinesische Schriftzeichen –, die offizielle Schrift des Königreichs. Was hätte es sonst sein sollen? Unsere landeseigene Schrift, Hangul, wies mehr Kreise und gerade Linien auf.

Der Inspektor hielt die Hand auf. Als ich ihm die Marke übergab, sah ich zu ihm hoch, neugierig, wie er wohl auf den Namen reagieren würde, der dort geschrieben...

Erscheint lt. Verlag 7.11.2024
Übersetzer Elena Helfrecht
Verlagsort Ludwigsburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Adel • Der Rote Palast • Freundschaft • Geheimnis • Heimweh • historisch • Inspektor • Korea • Manwha • Mord • Waisenkind
ISBN-10 3-98743-130-X / 398743130X
ISBN-13 978-3-98743-130-2 / 9783987431302
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