Der Brandstifter (eBook)
318 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-78189-9 (ISBN)
Wie konnte es zu diesem Wahnsinn kommen?
Er war der geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus. Sein Name gilt als Inbegriff des skrupellosen Demagogen und der Massenmanipulation: Joseph Goebbels.
Was wir heute als »fake news« und »Verschwörungstheorien« kennen, hat er als »Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda« in einer bis dahin unbekannten Weise als Mittel der Politik eingesetzt und perfektioniert. Der »Triumph der Lüge«, den er anstrebte, führte zu Terror, Krieg und Massenmord.
Wer die Mechanismen der Täuschung und Desinformation verstehen will, muss auch die Lebensgeschichte dieses Mannes kennen, der zum Meister der Verführung nur werden konnte, weil er gelernt hatte, sich selbst zu betrügen.
Alois Prinz, 1958 geboren, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München und lebt heute mit seiner Familie bei München. Er veröffentlichte Biografien über Hermann Hesse, Ulrike Meinhof, Franz Kafka, Dietrich Bonhoeffer und andere. 2012 erschien sein Buch <em>Hannah Arendt</em> oder <em>Die Liebe zur Welt</em>, das sich über 130.000 Mal verkaufte.
In der Nacht zum 28. Oktober 1944 heulten wieder die Sirenen. Englische Kampfbomber vom Typ Moskito näherten sich Berlin. Die Schäden, die sie anrichteten, waren gering, doch diese nächtlichen Angriffe zehrten an den Kräften der Menschen. Die feindlichen Flieger sorgten dafür, dass den Bewohnern keine langen Atempausen vergönnt waren. Sie mussten in Luftschutzräumen Zuflucht suchen, wurden um ihren Schlaf gebracht und saßen viele Stunden in dunklen Kellern, immer in der Angst, dass dieses Mal ihr Haus getroffen werden könnte.
Viel schlimmer als diese Nadelstiche der englischen Moskitos waren die flächendeckenden Bombardements der amerikanischen Luftwaffe, mit denen seit Anfang März auch tagsüber gerechnet werden musste. Verbände von Hunderten von Flugzeugen verdunkelten den Himmel und entluden ihre Bombenlast auf die Stadt. Begleitet und gesichert wurden diese Bomber von neuen Jagdflugzeugen, gegen die die schwerfälligen deutschen Jäger wenig ausrichten konnten. Auch in der Luft war das deutsche Militär in die Defensive geraten.
Viele Einwohner hatten die Stadt verlassen oder zumindest ihre Kinder aufs Land geschickt. Wer geblieben war, der versuchte irgendwie zu überleben. Die Menschen hausten in einsturzbedrohten Häusern, in Zimmern ohne Heizung und Strom. Brot war Mangelware. Die Versorgung der Bevölkerung war auf das Notwendigste beschränkt. Das gehörte zur totalen Mobilmachung, die von den nationalsozialistischen Machthabern ausgerufen worden war. Auf alles Überflüssige, nicht Notwendige sollten die Menschen verzichten, um ihre ganze Kraft und Energie einzusetzen für den Kampf gegen den Feind. Nur mit äußerster Entschlossenheit und strengster Disziplin, so die verbreitete Botschaft, sei die entscheidende Wende in diesem Krieg herbeizuführen. Aber wer glaubte noch an diese Wende, an die Wunderwaffe und an den Endsieg?
Im Stadtzentrum, im Regierungsviertel, hatte man schon vor den ersten Luftangriffen Vorkehrungen getroffen, um die Verwaltungsgebäude und kulturhistorischen Bauwerke zu schützen. Vom Brandenburger Tor bis zum Tiergaren waren riesige Tarnnetze gespannt worden. Auf dem Adolf-Hitler-Platz hatte man Hausattrappen aufgestellt, um die feindlichen Flieger zu täuschen. Genutzt hatte es nicht viel. Vom Rüstungsministerium am Pariser Platz standen nur noch ein paar Mauern. Die alte Reichskanzlei, der Firmensitz der IG Farben, das Hotel Bristol, die Zentrale der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und das Haus des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße – alle waren schwer beschädigt oder ausgebrannt.
Einige Ministerien hatten ihre Büros nach außerhalb verlagert. Doch im Propagandaministerium an der Wilhelmstraße gingen die Mitarbeiter noch ein und aus. Das altehrwürdige Gebäude hatte noch nicht viel gelitten. Kleinere Schäden waren schnell wieder repariert worden und die kaputten Fenster hatte man notdürftig mit Pappe und Brettern abgedeckt.
Chef dieser riesigen Behörde war der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Dr. Joseph Goebbels. Der kleine, schmächtige Mann mit dem Klumpfuß gehörte zu den engsten Vertrauten des »Führers« Adolf Hitler und war einer der mächtigsten Männer im nationalsozialistischen Deutschland, obwohl er selbst der Meinung war, dass seine Fähigkeiten unterschätzt wurden und er eine viel einflussreichere Position einnehmen müsste. Seit 1939 befand sich Deutschland im Krieg, und im Krieg standen die Generäle im Mittelpunkt. Er, Goebbels, hatte den Krieg in den Köpfen der Menschen vorbereitet, und er musste weiter dafür sorgen, dass sie an die Ideale der nationalsozialistischen Weltanschauung glaubten und vom Endsieg überzeugt waren. Nach der verheerenden Niederlage der deutschen Truppen in Stalingrad hatte Goebbels jedoch jeden Respekt vor den Militärs verloren. Wäre es nach ihm gegangen, dann wären die Russen nicht so weit nach Westen vorgerückt, dann würden amerikanische und englische Flieger jetzt nicht deutsche Städte bombardieren.
Im Februar 1943 hatte Goebbels in einer Rede im Berliner Sportpalast den »totalen Krieg« gefordert. Man hatte ihm dafür begeistert zugejubelt. Doch um seine Ideen auch in die Wirklichkeit umzusetzen, hatte es ihm an der nötigen politischen Macht gefehlt. Erst nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf den »Führer« Adolf Hitler war Goebbels zum »Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz« ernannt worden. Endlich konnte er geeignete Befehle geben und hart durchgreifen. Aber das alles kam, so befürchtete er, zu spät. »Zu spät«, das war die ständige Klage, die man von ihm zu hören bekam.
Trotzdem schrieb Goebbels weiter seine Artikel in der Wochen-Zeitung Das Reich und hielt Ansprachen im Rundfunk. Er wurde nicht müde, immer wieder zu erklären, dass die Menschen in Deutschland ihr Schicksal selber in der Hand hätten. Sie müssten nur mit wilder Entschlossenheit unbeirrbar an die eigenen Ziele glauben. Für Drückeberger, Zauderer und Mutlose sei dabei kein Platz. Ihnen drohte Goebbels mit den härtesten Strafen. Was er sich wünschte, das war, wie er schrieb, ein »Volk von Fanatikern«[1] .
Am Nachmittag des 28. Oktober ließ Goebbels seinen Chauffeur kommen. Er wollte den Abend mit seiner Familie und einigen Freunden verbringen. Es war der Vorabend seines Geburtstags. Am Sonntag wurde er 47 Jahre alt. Aus diesem Anlass hatte er eine kleine Runde von Weggefährten eingeladen. Die gepanzerte schwarze Mercedes-Limousine fuhr aus der Innenstadt in Richtung Norden. Eine knappe Stunde dauerte die Fahrt bis zum »Wochenendhäuschen«, wie Goebbels das weitläufige Anwesen mitten im Naturschutzgebiet nahe dem Dorf Lanke nannte. Das Grundstück war ein Geschenk der Stadt Berlin an ihren Gauleiter. Zu ihm gehörte ein Blockhaus am Bogensee, das allerdings den Ansprüchen des Ministers nicht genügte. Goebbels hatte am gegenüberliegenden Ufer einen Landsitz bauen lassen, der Platz genug bot für die Familie, für das Personal und für Gäste und der an Luxus nichts zu wünschen übrig ließ. Seit Kurzem war es, kriegsbedingt, zum Lebensmittelpunkt der Familie geworden.[2]
Der eigentliche Familiensitz der Goebbels war ein Anwesen auf der Havel-Insel Schwanenwerder im Westen Berlins. Aber nachdem der Aufenthalt dort durch die vielen Luftangriffe immer unangenehmer geworden war, hatten Goebbels und seine Frau Magda Anfang August 1943 den Umzug in das Haus am Bogensee beschlossen. Nur von ferne sah man dort manchmal den Feuerschein über Berlin und hörte das Bellen der Flakgeschütze und den Einschlag der Bomben.
Joseph Goebbels freute sich jedes Mal, seine sechs Kinder zu sehen. Sie waren, wie er in seinem Tagebuch beteuerte, sein größter Schatz. Schon vor vielen Jahren, als er noch kein Vater war, hatte er einmal geschrieben, Kinder seien »gute Gedanken Gottes«[3] , weil er sich mit ihnen unterhalten könne, ohne das dauernde Gefühl zu haben, betrogen zu werden. Seinen vorletzten Artikel für das Reich hatte Goebbels überschrieben mit Für unsere Kinder.
Darin forderte er seine Landsleute auf, für die Zukunft ihrer Kinder alle Leiden und Entbehrungen auf sich zu nehmen und bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Die »Kräfte der Finsternis« dürften nicht den Sieg davontragen. Den Kindern sei man es schuldig, dass die Kräfte des Lichtes sich als die stärkeren erwiesen. Denn sie hätten das Recht, in einem freien, souveränen Staat zu leben. Wenn aber der Krieg verloren würde, dann wäre die Zukunft ein unerträgliches »Dasein in der Hölle«. »Es ist also mehr als eine landläufige Phrase«, so schrieb Goebbels, »dass wir diesen schweren Kampf um unsere Existenz für unsere Kinder und alle kommenden deutschen Generationen auszufechten haben.«[4]
Goebbels hatte sich von Berlin aus schon telefonisch angemeldet, und als sein Mercedes vor dem Hause hielt, warteten zwischen den Säulen des Portals schon seine Frau Magda und die Kinder, nach Größe und Alter aufgereiht. Sie waren alle ausnehmend hübsch. Und ihre Vornamen begannen alle mit einem »H«. Helga, die Älteste, war zwölf Jahre alt und der ausgesprochene...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • ab 14 Jahre • Adolf Hitler • aktuelles Buch • Berliner Sportpalast • Biografie • Bücher Neuererscheinung • Bücher Neuerscheinung • buch-geschenk • Demagoge • Desinformation • Deutscher Jugendliteraturpreis (Sonderpreis Gesamtwerk) 2023 • Deutschland • Drittes Reich • EMYS-Jahrespreis für das beste Sachbuch im Jugendbuch 2018 • Fake News • Führer und Verführer • Geschenke für Jungs • Geschenke für Kinder • Geschenke für Mädchen • Großer Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur 2017 • insel taschenbuch 5117 • IT 5117 • IT5117 • Judenverfolgung • Jugendbuch • Manipulation • Massenmord • Medien • Mitteleuropa • Nationalsozialismus • Neuererscheinung • neuerscheinung 2024 • neues Buch • NSDAP • NS-Zeit • Propaganda • Reichskulturkammer • Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda • Täuschung • Triumph der Lüge • Verschwörungstheorien • Wollt ihr den totalen Krieg |
ISBN-10 | 3-458-78189-7 / 3458781897 |
ISBN-13 | 978-3-458-78189-9 / 9783458781899 |
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