Auf dem Nadelkissen und andere Märchen (eBook)
192 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4100-4 (ISBN)
Mary De Morgan (1850-1907) war zu ihrer Zeit eine angesehene Schriftstellerin, deren Werke sowohl Kinder als auch Erwachsene begeisterten. Heute gelten ihre drei Märchenbücher noch immer als wertvolle Schätze der englischen Literatur. Mary De Morgans Märchen weichen ein Stück weit von den Märchentraditionen ab und beleuchten auch gesellschaftliche und politische Themen ihrer Zeit. In ihren Geschichten finden sich ungewöhnlich starke Frauenfiguren, die mutig ihren eigenen Weg gehen. Die künstlerische und literarische Entwicklung von Mary De Morgan wurde durch ihren Bruder William De Morgan und seine Verbindung zur Arts and Crafts Movement rund um William Morris beeinflusst. Die Mitglieder verstanden sich als Nachfolger der Präraffaeliten und setzten sich für die traditionelle Handwerkskunst und gegen die Auswüchse der Industrialisierung ein. Mary De Morgan war regelmäßig zu Besuch bei William Morris und erzählte ihm, seinen Kindern sowie dem jungen Rudyard Kipling ihre Märchen und Geschichten. Als ein Juwel der englischen Literatur sind Mary De Morgans Werke ein Muss für alle, die sich für ungewöhnliche Märchen interessieren.
DIE GESCHICHTE VON DER
EINGEBILDETEN LAMORNA
Ein hübsches junges Mädchen stand an einem Bach, beugte sich über ihn und sprach mit ihrem Spiegelbild. »Du bist so hübsch!«, sagte sie. »So ein hübsches Gesicht wie deines gibt es im ganzen Dorf nicht.«
DasMädchen hieß Lamorna, und sie war die Tochter eines Bauern. Alle sagten ihr, sie sei sehr hübsch, und das war sie auch. Sie hatte hellbraunes Haar, große braune Augen und einen Mund wie eine Rosenknospe. Der Bach, an dem sie stand, mündete etwa eine halbe Meile weiter unten ins Meer, und er war voller Wasserleute. Die Wassermenschen sind eine Art Elfen, die unter dem Wasser leben und nie an die Oberfläche kommen, denn wenn sie die Luft einatmen würden, müssten sie sterben.
Sie sind keine Meerjungfrauen, sondern haben genau die gleiche Gestalt wie Menschen, nur sind sie nie größer als zwei oder drei Zoll. Sie sind den Menschen gegenüber sehr freundlich und wohlgesinnt und tun niemandem etwas zuleide, der ihnen nichts tut.
Als die kleinen Wasserbewohner unter Wasser auf- und abhuschend hörten, was Lamorna sagte, als sie sich über den Bach beugte, schüttelten sie den Kopf und seufzten und sagten: »Lamorna! Lamorna! Wenn du so eingebildet bist, wird es mit dir kein gutes Ende nehmen.«
Aber Lamorna hörte nicht auf sie und ging einfach weiter, beobachtete ihr schönes Gesicht und lächelte, um ihre hübsche Reihe weißer Zähne zu sehen; und dort blieb sie, bis die Uhr sechs schlug und sie erschrocken loslief, weil sie wusste, dass sie zu spät kommen würde, um ihrem Vater das Abendessen zu bringen und er ihr deshalb böse wäre.
Kaum war sie weg, kam ein junger Fischer, der sie unbemerkt beobachtet hatte, an das Ufer des Baches. Er ging zu seinem Boot, stieß es ab, ruderte aufs Meer hinaus und begann zu fischen. Sein Name war Erick, und die Wasserbewohner kannten ihn gut. Sie hatten ihn oft beobachtet und wussten, dass er weder grausamnoch böse war, sondern immer darauf achtete, die gefangenen Fische sofort zu töten, damit sie nicht lange leiden mussten. So mochten sie ihn alle und warfen die besten Fische nur unter sein Boot. Heute jedoch schien er sehr traurig zu sein, er stützte den Kopf auf seine Hand und beachtete seine Leinen kaum.
»Ach, Lamorna! Als wir noch Kinder waren, hast du gesagt, dass du mich liebst, und mir versprochen, meine Frau zu werden, und jetzt sprichst du nicht mehr mit mir, obwohl du weißt, wie sehr ich dich liebe.«
Als die Wassermänner, die sich um sein Boot versammelt hatten, das hörten, schüttelten sie den Kopf und sahen sehr ernst aus.
»Es ist also alles für Lamorna«, rief einer, »die dumme Lamorna, die nichts anderes tut, als ihr eigenes Spiegelbild zu betrachten, und nichts so sehr liebt wie sich und ihr eigenes hübsches Gesicht.«
»Wer ist sie«, sagte ein anderer, »dass sie die Liebe eines guten jungen Mannes wie Erick verschmäht? Sie hat nichts als ihr gutes Aussehen, und das wird sie bald verlassen. Könnten wir sie nicht bestrafen?«
»Nein«, sagte ein dritter, »was würde es Erick nützen, wenn wir sie bestrafen würden? Lasst uns lieber überlegen, wie wir sie von ihrer Eitelkeit heilen und ihre Liebe für ihn gewinnen können.«
»Aber ihr könnt sie niemals von ihrer Eitelkeit heilen«, sagte der erste, »solange sie sich in ihremSpiegel oder im Bach sehen kann; solange sie ihr eigenes Gesicht sehen kann, wird sie weiterhin eingebildet und eitel sein.«
»Was soll man dann tun?«, riefen sie gemeinsam, und es herrschte Stille, bis endlich ein sehr weiser alter Wasserelf das Wort ergriff und sagte: »Wir können sie nicht davon abhalten, in Spiegel oder in das Wasser zu schauen. Es gibt also nur eines, was zu tun ist. Es wird schwierig sein, aber es ist durchaus möglich. Wir müssenwarten, bis sie sich über dasWasser beugt und sich selbst ansieht, und dann müssen wir ihr Spiegelbild stehlen.«
Als die Elfenwesen dies hörten, jubelten sie laut. »Ihr habt recht«, riefen sie. »Ach, wie gut ist es doch, einen solchen Verstand zu haben! «
»Wäre mein armer lieber Sohn nicht unvorsichtigerweise einem fliegenden Fisch hinterhergelaufen und dabei erstickt, wäre er auch so geworden«, sagte eine Elfin seufzend.
»Mit einem solchen Verstand«, sagte eine andere alte Elfendame feierlich, »könnte man Länder regieren oder Städte einnehmen.«
Daraufhin verbeugte sich der alte Elf, der den Vorschlag gemacht hatte, und lächelte freundlich, denn er war bei den Elfenfrauen sehr beliebt und rühmte sich seiner guten Manieren.
»Wir müssen uns nun überlegen«, fuhr er fort, »wie wir das machen können, denn Spiegelungen sind schwierig unter Wasser zu halten, wenn man sie hat – sie steigen wie Seifenblasen wieder nach oben. Wir müssten eine Reihe von Sandseilen machen, um sie aufzufangen, und sie auf ein bestimmtes Signal hin alle zusammen herunterziehen.«
»Aber«, sagte eine sehr junge Elfe, »sie kann sich immer noch in ihrem Spiegel betrachten.«
Als die Elfen dies hörten, brachen sie alle in ein höhnisches Lachen aus und hätten den jungen Elfen dafür gescholten, dass er über etwas sprach, was er nicht verstand. Aber der weise alte Elf hielt sie mit einer Handbewegung davon ab und sagte, dass er selbst dem jungen Elfen seinen Irrtum erklären würde, denn er sei nie böse über die Unwissenheit der Jungen und wolle sie eher berichtigen als tadeln.
»Nimm nicht an, mein junger Freund«, sagte er sanft, »dass die Menschen mehr als ein Spiegelbild haben. Das anzunehmen, ist ein verbreiteter Irrtum. In Wirklichkeit gibt es zu jedem Gegenstand nur ein einziges Spiegelbild; nur, wenn sich der Gegenstand vor einem Glas bewegt, bewegt sich auch das Spiegelbild, so dass alle Seiten des Gegenstandes zu sehen sind. Wenn wir das Bild dieses eingebildeten Mädchens stehlen können, während sie sich über den Bach lehnt, wird sie sich in keinem Spiegel mehr sehen können.« Als er innehielt, bewunderten alle Elfen erneut seine Weisheit; und der junge Elf schämte sich für seinen Fehler.
Aber nun begannen alle zu überlegen, wie das zu bewerkstelligen sei, und alle beschäftigten sich mit der Herstellung von Sandseilen, mit denen das Spiegelbild gefangen und angebunden werden sollte. Sie waren sich einig, daß man das Spiegelbild am besten mit Mondschein sichern könne, wenn das Wasser sehr glatt war; und in jeder Mondnacht warteten einige von ihnen nahe der Oberfläche, um zu sehen, ob es auftauchte, und die anderen zu alarmieren.
Lamorna wusste natürlich nichts von all diesen Plänen und war immer noch glücklich, wenn sie sich in ihrem Spiegel betrachtete und nicht an den armen Erick dachte. Wenn er abends zu ihr kam und amFeuer saß und sie beobachtete, bemerkte sie ihn nicht, sondern richtete ihre Augen auf den Spiegel über dem Kamin, und wenn er ihr von seiner Liebe erzählte, lachte sie und wandte sich ab.
Wenn er dann seufzte, lachte sie nochmehr und sagte: »Schau’ nach einer Frau, mein guter Erick, dann hörst du auf zu seufzen.«
»Ich will nie eine andere Frau haben als dich, Lamorna«, antwortete er.
»Dann wirst du lange allein warten müssen«, erwiderte sie fröhlich, »ich habe nicht vor zu heiraten, vielleicht nie, schon gar nicht einen Fischer.«
Als er eines Abends zu ihr kam, stand sie an der Tür und betrachtete den hell leuchtenden Mond betrachten.
»Lass uns spazieren gehen«, sagte er, »lass uns zum Meer hinuntergehen.«
»Ja«, sagte Lamorna, »ich komme mit«, und als erstes lief sie ins Haus, holte ein scharlachrotes Tuch und band es sich um den Kopf, nicht weil ihr kalt war, sondern weil sie fand, dass es sie hübscher aussehen ließ.
»Lass uns zum Ufer hinuntergehen«, sagte sie und nahm Ericks Arm; dann schlenderten sie gemeinsam zum Strand hinunter.
Das Meer war glatt wie Glas, und der helle, große Mond machte es fast so hell wie am Tag. Eine Reihe steiler Felsen ragte ins Meer hinaus, und dorthin wollte Lamorna gehen, um sich vorwärtszubeugen und ihr Spiegelbild mit ihrem scharlachroten Tuch im Mondlicht zu sehen. So setzten sie sich auf den Rand der Felsen und Lamorna beugte sich vor, bis sie ihre ganze Gestalt und ihr hübsches Gesicht in dem tiefen, klaren Wasser sehen konnte. Als sie über dem Wasser auftauchte, gaben die Elfen, die sie beobachteten, allen anderen Bescheid, die mit ihren Seilen in der Hand beisammen standen und warteten.
»Sieh dir den Mond an, lieber Lamorna«, sagte Erick. »Sieh, wie schön er ist!«
»Ja, er ist schön«, sagte sie. Aber sie hob nicht den Blick von ihrem eigenen Ebenbild. Auf ein Zeichen hin warfen die Wassergeister ihre Sandseile hoch, fingen das Spiegelbild ein und zogen...
Erscheint lt. Verlag | 11.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-7597-4100-2 / 3759741002 |
ISBN-13 | 978-3-7597-4100-4 / 9783759741004 |
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