Himmel & Erde (eBook)
464 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-31893-2 (ISBN)
Pottstown, Pennsylvania, 1972: Beim Ausheben der Fundamente für ein neues Baugebiet stoßen die Arbeiter am Grund eines Brunnens auf ein Skelett. Wem es gehörte und wie es dorthin kam, kann nur wissen, wer in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Chicken Hill gelebt hat, einem heruntergekommenen Viertel, in dem eingewanderte Juden und Afroamerikaner das Glück teilten ebenso wie die Sorgen. Es war auch das Viertel von Moshe und Chona Ludlow, die dort ein Theater und ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Bis eines Tages ein tauber Waisenjunge auftauchte, den die staatlichen Behörden in eine Anstalt einweisen wollten. Und seine letzte Hoffnung ruhte auf Moshe und Chona und der Gemeinde von Chicken Hill ...
James McBride taucht tief hinab in die Geschichte dieses Viertels und seiner Figuren, in den alltäglichen Kampf am Rande der Gesellschaft, und erzählt durch die Augen der gerade erst Eingewanderten von einem sich rasend schnell verändernden Amerika, das gerade erst dabei war zu werden, was es heute ist. Bis am Ende schließlich die Wahrheit über die Geschehnisse auf dem Chicken Hill ans Licht kommt - und sich einmal mehr zeigt, dass nur die Liebe und die Gemeinschaft - Himmel und Erde - in dunklen Zeiten Halt geben können.
James McBride – Autor, Musiker, Drehbuchschreiber, Journalist – wurde weltberühmt durch seinen autobiografischen Roman "Die Farbe von Wasser". Das Buch gilt inzwischen als Klassiker in den Vereinigten Staaten, es stand zwei Jahre lang auf der New York Times-Bestsellerliste. Sein Debüt "Das Wunder von St. Anna" wurde vom amerikanischen Kultregisseur Spike Lee verfilmt. Für "Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford" erhielt James McBride den renommierten National Book Award. 2015 wurde er von Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.
Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist der Übersetzer von u.a. Ethan Canin, Patricia Duncker, Michael Ignatieff, Jane Urquhart.
»James McBride schreibt mit ›Himmel und Erde‹ einen großen amerikanischen Roman, den er in einem Krimi verpackt.«
»Das neue Werk des Bestsellerautors übertrifft alle Vorschusslorbeeren dank einer meisterlichen Verknüpfung aus Vielseitigkeit, Tiefgang, Spannung, aber auch Humor und – vor allem – Menschlichkeit.«
2
EIN SCHLECHTES ZEICHEN
Siebenundvierzig Jahre bevor die Bauarbeiter das Skelett in dem alten Bauernbrunnen auf dem Chicken Hill entdeckten, hatte ein jüdischer Theatermanager namens Moshe Ludlow in Pottstown, Pennsylvania, eine Erleuchtung.
Moshe hatte diese Erleuchtung an einem Montagmorgen im Februar, als er, nach einem einmaligen Auftritt von Chick Webb, sein All-American Dance Hall & Theater in der Main Street sauber machte. Webb und seine fulminante zwölfköpfige Band hatten den größten Musical-Abend hingelegt, den Moshe je erlebt hatte, ausgenommen nur das eine Mal vor zwei Monaten, als es ihm gelungen war, Mickey Katz, das brillante, aber launische Klezmer-Genie aus Cleveland, zu holen, um sein All-American Dance Hall & Theater ein komplettes Wochenende mit jüdischem Spaß für die ganze Familie zu füllen. Also, das war eine Sache. Katz, das Wunderkind an der Klarinette, und sein neu geformtes siebenköpfiges Ensemble trotzten einem wilden Dezemberschneesturm in den östlichen Bergen Pennsylvanias, um es zu ihrem Auftritt zu schaffen, und Gott sei Dank taten sie das, denn Moshe zählte zweihundertneunundvierzig jüdische Schuhverkäufer, Ladenbesitzer, Schneider, Schmiede, Eisenbahnmaler, Feinkostladenbesitzer und ihre Frauen aus unterschiedlichen Staaten, einschließlich Upstate New York und Maine, die zu dem Konzert kamen. Es waren sogar vier Paare aus Tennessee da, die drei Tage lang durch die Blue Ridge Mountains gefahren waren, sich von Käse und Eiern ernährt und aufs Koscher-Sein am Sabbat verzichtet hatten, um mit ihren Judenfreunden zusammen zu sein – und das auch noch direkt vor Chanukka, zu dem sie für acht Tage alle zu Hause sein und Kerzen entzünden sollten. Gar nicht zu reden von einem der Ehemänner, der ein Fanatiker war und glaubte, der Fastentag Tisha B’Av, der normalerweise im Juli oder August begangen wurde, sollte zweimal und nicht nur einmal im Jahr gefeiert werden, was bedeutete, im Dezember im Haus zu bleiben, zu hungern, die Wände drei Wochen lang mit Blumenbildern zu bedecken und so dem Schöpfer für seine Großzügigkeit zu danken, den Juden Osteuropas dabei zu helfen, vor den Pogromen in den relativen Frieden und Wohlstand des gelobten Landes Amerika zu fliehen. Dank ihm, dem fanatischen Ehemann, und dem Wetter waren alle vier Paare überaus mies gelaunt, als sie ankamen. Sie hatten sich in zwei uralte Packards gezwängt, einer war ohne Heizung, und durch den wilden Schneesturm gekämpft. Und als sie hörten, dass noch mehr Schnee kommen sollte, verkündeten sie, sie wollten gleich wieder fahren, doch Moshe redete es ihnen aus. Das war seine Gabe. Moshe konnte dem Teufel die Hörner vom Kopf reden. »Wie oft im Leben hat man die Chance, ein junges Genie zu hören?«, sagte er. »Es wird das größte Erlebnis eures Lebens sein.« Er brachte sie in sein winziges Zimmer in einem Wohnheim auf dem Chicken Hill, einem Viertel mit wackligen Häusern und unbefestigten Straßen, in dem die Schwarzen, die Juden und eingewanderten Weißen der Stadt wohnten, die sich nichts Besseres leisten konnten, setzte sie vor seinen bullernden Holzofen, füllte sie mit warmem Eistee und gefilte Fisch und heiterte sie mit der Geschichte seiner rumänischen Großmutter auf, die aus dem Fenster gesprungen war, um der Ehe mit einem Haskala-Juden zu entgehen – nur um auf einem chassidischen Rabbi aus Österreich zu landen.
»Sie stieß ihn in den Dreck«, rief er, »und als er aufblickte, las sie ihm aus der Hand. Also haben sie geheiratet.«
Das zauberte ihnen ein Schmunzeln und Kichern ins Gesicht, wussten doch alle, dass die Rumänen verrückt waren. Ihr Lachen in den Ohren eilte Moshe zurück zur Menge draußen im Schnee, die nervös darauf wartete, dass sich die Theatertüren öffneten.
Als Moshe über die vermatschten Straßen Chicken Hills zu seinem Theater in der Main Street ging und sah, dass die Schlange, die sich eine Stunde zuvor gebildet hatte, zu einer Menge von fast dreihundert Leuten angewachsen war, sank ihm der Mut. Zudem wurde er informiert, Katz, das launische Genie, sei angekommen und im Theater, aber äußerst schlechter Stimmung, nachdem er sich durch den schrecklichen Schneesturm habe kämpfen müssen, und er drohe damit, wieder abzufahren. Moshe rannte nach drinnen und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sein immer verlässlicher Helfer, ein farbiger Mann namens Nate Timblin, Katz und seine Band hinten vor den warmen Ofen gesetzt hatte und sie mit heißem Tee in Wassergläsern, koscheren frischen Eiern, gefilte Fisch und Challa bewirtete, alles ordentlich im Büfettstil angerichtet. Der junge Katz schien erfreut und verkündete, er und seine Band würden anfangen, sobald sie mit dem Essen fertig seien. Moshe ging hinaus, um die wartende Menge zu vertrösten.
Er sah, dass immer noch mehr Leute kamen, Nachzügler eilten mit Tornistern und Koffern vom Bahnhof herbei, und so griff er nach einer Leiter und stieg hinauf, um zu den Leuten zu sprechen. Er hatte in seinem Leben in Amerika noch nie so viele Juden auf einmal gesehen. Die liberalen Snobs aus Philadelphia in ihren Hemden mit geknöpften Kragen standen neben Stahlarbeitern aus Pittsburgh, die sich neben die sozialistischen Eisenbahner aus Reading mit ihren Kappen mit dem Logo der Pennsylvania Railroad drängten, die wiederum Schulter an Schulter mit den örtlichen Bergarbeitern mit ihren dunklen Gesichtern aus Uniontown und Spring City standen. Einige hatten ihre Ehefrauen dabei. Andere waren mit Begleiterinnen da, die angesichts ihrer Pelzmäntel, Lederstiefel und überwältigenden Frisuren sicher nicht mit ihnen verehelicht waren. Einer war mit einer blonden Goje gekommen, die fünfzehn Zentimeter größer als er und in ein knalliges irisches Grün gekleidet war, komplett mit einem Hut, der wie eine Kreuzung aus einem Kleeblatt und den Zacken der Krone der Freiheitsstatue aussah. Einige jammerten auf Deutsch vor sich hin, andere schwatzten auf Jiddisch miteinander. Moshe hörte bayerische Rufe und Polnisch. Als er verkündete, dass es eine kleine Verzögerung gebe, wurde die Menge noch unruhiger.
Ein gut aussehender junger Chassid mit einem Kaftan und einer Pelzmütze, einem Jutesack über der Schulter und unter die Mütze gestopften Locken – schräg auf der Seite trug er die Mütze, als wäre sie ein Fedora – verkündete, er sei den ganzen Weg von Pittsburgh hergekommen und würde mit keiner Frau tanzen. Das rief Lachen und ein paar grobe Worte hervor, einige davon auf Deutsch, über polnische Schwachköpfe, die sich wie Grünschnäbel anzögen.
Moshe war perplex. »Was machst du bei einem Tanz, wenn du mit keiner Frau tanzen willst?«, fragte er den Mann.
»Ich suche keine Tänzerin«, antwortete der gut aussehende Chassid knapp. »Ich suche eine Ehefrau.«
Die Menge lachte wieder. Später, im Bann von Katzens hinreißender musikalischer Hexerei, sah Moshe staunend zu, wie der Mann den ganzen Abend über wie ein Dämon herumwirbelte. Er tollte durch jeden Tanzschritt, den Moshe je gesehen hatte, und Moshe, der in seiner Kindheit als Fusgeyer – wandernder Jude – durch Rumänien gezogen war, kannte einige Tänze: Hora, Bulgar, Khosidl, Freylekhs, russische Märsche und Kosakentänze. Der Chassid war ein Wunder verwinkelter Ellbogen, ein rhythmischer Kreisel von elastischer Anmut und wilder Geschicklichkeit. Er tanzte mit jeder Frau, die in seine Nähe kam, und es gab viele. Moshe entschied später, dass der Bursche eine Art Zauberer sein musste.
Die nächsten vier Abende waren das größte, außergewöhnlichste, freudvollste jüdische Zusammentreffen, das Moshe je erlebt hatte. Er hielt es für ein Wunder, nicht zuletzt, weil beinahe alles schon vorbei gewesen wäre, bevor es überhaupt losgegangen war. Das Ganze hatte mit einer Reihe Flugblätter begonnen, die er Wochen zuvor verschickte, um den Kartenverkauf anzukurbeln. Ein jüdisches Adressbuch nutzend, in dem Synagogen und Privatunterkünfte für reisende Juden verzeichnet waren, schickte Moshe seine Informationen an jede einzelne Synagoge, jede jüdische Pension und jedes Hostel zwischen North Carolina und Maine. Die Flugblätter, auf denen er stolz verkündete, dass die große Mickey Katz Road Show für winterlichen jiddischen Spaß und Familienerinnerungen aus dem alten Land in das All-American Dance Hall & Theater komme, wurden in vier Sprachen gedruckt, Deutsch, Jiddisch, Hebräisch und Englisch. Leider nur hatte Moshe die organisatorischen Fähigkeiten jüdischer Rabbis auf dem Land fürchterlich überschätzt, und die meisten Flugblätter gingen im fortwährenden Fluss von Todesanzeigen, Bar-Mizwa-Verpflichtungen, einmaligen Verkaufsereignissen, Anfragen nach koscheren Kuhschlachtungen, Tallit-Schneidern, dem Schlichten von geschäftlichen Streitereien, Beschneidungsschlamassel und Ehearrangementschaos unter, kurz: dem täglichem Brot eines Rabbis auf dem Land. Die wenigen Seelen mit ausreichend Geistesgegenwart, Moshes Briefe mit den Flugblättern dennoch zu öffnen, trugen nicht selten noch zusätzlich zur allgemeinen Verwirrung bei, denn viele von ihnen kamen frisch aus Osteuropa und verstanden kein Englisch. Sie betrachteten jeden Brief mit einer maschinengeschriebenen Adresse als eine Art Regierungsmitteilung, mit der die sofortige Verschiffung von ihnen, ihren Familien, ihren Hunden und grünen Stempeln zurück in ihre alten Länder verfügt wurde, wo russische Soldaten mit einer Belohnung für ihre Teilnahme an der Ermordung des Zarensohnes auf sie warteten, den die Russen natürlich selbst umgebracht und dem sie obendrein noch die Augen ausgestochen hatten, aber wen interessierte das schon? Also wurden die Flugblätter weggeworfen.
Überdies hatte Moshe etlichen Gemeinden die falschen Flugblätter...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2024 |
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Übersetzer | Werner Löcher-Lawrence |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Heaven & Earth Grocery Store |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • barack obama #1 lieblingsbuch des jahres • eBooks • Geheimnis • Neuerscheinung • New-York-Times-Bestseller • Roman • Romane |
ISBN-10 | 3-641-31893-9 / 3641318939 |
ISBN-13 | 978-3-641-31893-2 / 9783641318932 |
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