Durch einen Trick haben sich die Nagas, telepathische Echsenwesen aus den Dschungeln im Süden, die Macht ihrer Göttin angeeignet und setzen sie jetzt im Krieg gegen die Völker des Nordens ein. Obwohl die nördlichen Armeen von Feuergöttern und Drachen angeführt werden, haben sie kaum eine Chance auf den Sieg, denn die Nagas sind praktisch unsterblich. Ihre einzige Hoffnung ist, dass eine Gruppe Abenteurer - der Lekon-Krieger Tinahan, Feuerwesen Bihyung und der Mensch Kaygon Draka - ihren geheimen Auftrag ausführen: Sie müssen die Reinkarnationen der Götter des Nordens finden ...
Lee Young-do, geboren 1972, studierte Koreanische Sprache und Literatur an der Kyungnam University. Seinen ersten Roman »Dragon Raja« veröffentlichte er zuerst in Fortsetzungen über eine der ersten Internet-Plattformen, ehe er 1998 in Korea als Buch veröffentlicht wurde. Er verkaufte sich millionenfach und läutete eine neue Ära der Fantasyliteratur in Korea ein. Seither hat Lee Young-do mehrere Romanserien veröffentlicht, darunter »Die Legende vom Tränenvogel«. Die Bücher um den »koreanischen Witcher« werden von Krafton Montreal Studios als Videospiel adaptiert. Lee Young-do lebt mit seiner Familie in Masan.
Nach drei Tagen lösten gelegentliche Schauer den sintflutartigen Regen ab, fast so, als gönnte sich der Himmel eine Pause. Obwohl es so wirkte, als würde es jeden Moment gänzlich aufhören, regnete es doch bis zum Nachmittag weiter. Die hartnäckigen Tropfen tränkten die Engger-Ebene und ließen sie schlammig und morastig zurück. Eine dünne Nebelschicht kroch über die Erde, und direkt darunter breitete sich eine scheußliche Mischung aus Schlamm und Asche aus.
Auf einem kleinen Hügel am Rande der Ebene ließ sich Gwalhaid Gyuriha auf dem Hocker nieder, den er selbst herangeschafft hatte, und wischte sich mit einer beiläufigen Handbewegung über die Stirn. Er fand das Wetter recht angenehm. Mit dem starken Regen waren die Temperaturen deutlich angestiegen. Es wäre freilich im Sinne der Naga-Truppen, wäre es hier annähernd so warm gewesen wie in Kiboren, doch um das zu erreichen, hätte man den Regen aufgeben und sich allein darauf konzentrieren müssen. So war das Ergebnis eine Temperatur, die für beide Seiten nicht allzu unangenehm war.
Gwalhaids Finger glitten über die Scheide seines Langschwertes. Er hatte darauf bestanden, dieses Schwert anstelle eines Harpunenschwertes zu verwenden, und natürlich hatte niemand seiner Sturheit etwas entgegenzusetzen gehabt. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sein Langschwert die Arbeit Dutzender Harpunenschwerter übernehmen konnte.
Das vertraute Gefühl des Leders unter seinen Fingerspitzen rief in dem alten Krieger eine gewisse Aufregung und Nostalgie hervor. An dieses Gefühl gewöhnte man sich nie vollkommen.
»Keine Sorge, mein alter Freund«, sagte Gwalhaid lächelnd, »heute wirst du wieder köstlich speisen.«
Ein wildes Grinsen breitete sich auf den Gesichtern der anderen Kämpfer aus, die ringsumher auf dem Hügel standen. Niemand von ihnen pflichtete Gwalhaids Worten bei oder fügte noch eine witzige Bemerkung hinzu. Dieser Umstand stimmte Gwalhaid auf der einen Seite froh, doch auf der anderen Seite schmerzte es ihn – es war der unumstößliche Beweis dafür, dass zu viele der unbeschwerten jungen Männer verschwunden waren. Sie hatten es nicht geschafft, ihren jugendlichen Übermut zu bremsen – das war wohl das Privileg und der Fluch der Jugend zugleich. Gwalhaid erinnerte sich gut an die Namen eines jeden dieser liebenswerten Rabauken: Fangschrecke Pesoda, Grimols der Verrückte, der liebeskranke Digur, Goha der Zwerg, der schlummernde Gwihatz …
Ein melancholisches Lächeln breitete sich auf Gwalhaids Gesicht aus, als er sich an Gwihatz’ Spitznamen erinnerte.
Der schlummernde Gwihatz.
Gwihatz Shinbyure aus Schrados hatte immer wieder seine einzigartige Einstellung zum Krieg kundgetan: Mit den Worten »das Schlachtfeld ist mein Bett, und ich muss dringend Schlaf nachholen« hatte der gut aussehende Kerl seine Kameraden aus dem Konzept gebracht. Selbst dann, als die Hörner zum Angriff geblasen hatten, hatte Gwihatz nur gemurmelt: »Das ist das Signal. Hoffentlich ist es auch Zeit für ein paar süße Träume?« Einige seiner nervösen Mitstreiter hatten gelacht, während andere – diejenigen, die vor Angst wie gelähmt schienen – ihm beeindruckte Blicke zugeworfen hatten. Bedauerlicherweise gab Gwihatz nie eine Antwort auf die neckende Frage, ob er denn mehr Frauen im Bett gehabt oder mehr Gegner auf dem Schlachtfeld niedergestreckt habe. Und nun konnte man ihn gar nichts mehr fragen, denn er hielt sein ewiges Schläfchen auf dem Schlachtfeld.
Doch Gwalhaid kannte den wahren Grund dafür, wieso Gwihatz den Kriegsschauplatz als sein Bett bezeichnet hatte: Er war stets ein nachdenklicher Mann gewesen und wollte lieber als Frauenheld in Erinnerung bleiben, als zuzugeben, dass er von schrecklichen Albträumen heimgesucht wurde. Alles zum Wohle seiner Leute!
Keine Albträume mehr, wenn du schläfst, Gwihatz. Ruhe in Frieden.
Gwalhaid stieß ein tiefes Seufzen aus, während er den strömenden Regen beobachtete. Zu viele junge Männer waren gefallen. Wunderschöne Blüten, die begehrenswerte Früchte versprachen, waren von einem erbarmungslosen Sturm fortgerissen worden. Und es gab nichts, womit ein alter Soldat ihre Gräber hätte schmücken können. Schon zu lange dienten Gwalhaids Fähigkeiten einzig und allein dem Zweck, den Naga-Truppen zu entkommen, und nicht etwa einen großen Sieg herbeizuführen. Er nahm an, dass Pesoda, Grimols, Digur, Goha und Gwihatz ihn wohl zu sehr respektiert hatten, um diese ernüchternde Wahrheit auszusprechen.
Oder auf die Städte hinzuweisen, die er nicht hatte schützen können.
Die Schönheit von Schrados lebte inzwischen nur noch in alten Liedern weiter. Die legendäre Mauer Zaboros hatte das Vertrauen der Menschen dahinter letztlich enttäuscht. Zu sehen, wie die Sechs-Brüder-Türme Pansais – die größte der größten Städte des Alten Hochlandes – für immer im Wasser versanken, hatte Maripgan Bemion sogar den Verstand gekostet. Noch immer hörte er die Schreie der Ertrinkenden und hatte eine solche Angst vor Wasser, dass er sogar Lekons in den Schatten stellte.
Vergebt mir, ihr glorreichen Städte!
Gequält von Schuldgefühlen blickte Gwalhaid nach vorne und sah, dass jemand im Regen den Hügel heraufgerannt kam. Langsamer, sonst fällst du noch hin, dachte er, als er den Soldaten mit schmatzenden Schritten näher kommen hörte. Und Momente später, ganz so wie er befürchtet hatte, stürzte der Soldat auch schon mit dem Gesicht voraus in den Bodennebel. Gwalhaid schnalzte leise mit der Zunge, während er die Szene beobachtete, doch der Soldat sprang sofort wieder auf und marschierte unbekümmert weiter.
Er hielt vor Gwalhaid inne und schrie: »Generaloberst Gwalhaid! Ich soll Euch eine Nachricht vom Hauptquartier überbringen, Generaloberst!«
»Putz dir erst mal das Gesicht ab, dann rede.«
Der Soldat wischte sich etwa ein Kilo Schlamm aus dem Gesicht, woraufhin die roten Wangen eines Mädchens zum Vorschein kamen. Trotz aller bitteren Erfahrungen musste der Generaloberst schmunzeln. Als das Mädchen das sah, errötete es noch mehr und versuchte rasch, sich an die Nachricht zu erinnern, die es sich eigentlich eingeprägt hatte. Glücklicherweise war sie nicht allzu kompliziert.
»Das Wetter wird bald umschlagen, Generaloberst! Es wird bald eine Inspektion geben, Generaloberst!«
»Verstehe. Aber hör mal, Deonui, wieso machst du nicht ein bisschen langsamer, wenn der Boden so nass und schlammig ist?«
»Ich werde langsamer machen, Generaloberst Gwalhaid!«
»Solange du hier bist, werde ich wohl nie vergessen, wer ich bin. Du kannst wegtreten.«
»Jawohl, Generaloberst Gwalhaid!«
Deonui Dalbi drehte sich um und ging langsam davon. Zu langsam, denn sie verlor bald das Gleichgewicht und fiel wild mit den Armen rudernd erneut in den Schlamm. Allerdings kam sie sofort wieder auf die Beine – ganz so, wie Gwalhaid und die anderen Beobachter es erwarteten – und rannte unbekümmert den Hügel hinunter. Es war, als wäre ihr gar nichts passiert. Kein Wunder, dass die allgemeine Meinung über Deonui Dalbi besagte, dass sie, würde sie sich einmal versehentlich in einer Bärenhöhle wiederfinden, lediglich erröten und losrennen würde. Die Vorstellung, dass ein irritierter Bär ihr vermutlich hinterherlaufen würde, fand ebenfalls viel Anklang. Gwalhaid rang sich ein Lachen ab, als er sich erhob.
Verlorene Helden, zerstörte Städte! Ich weine um euch. Er starrte durch den Sturm auf die Ebene. Aber die Zukunft gehört Deonui Dalbi!
Der alte Krieger strich wieder über die Scheide des Langschwertes. Es war ein Werkzeug, das in das Fleisch des Gegners eindringen und so eine geradezu intime Nähe herstellen konnte. Gwalhaid biss sich auf die Unterlippe.
Eines Tages werde ich euch folgen, Männer. Wir werden gemeinsam lachen und singen! Ich warte sehnsüchtig auf diesen Tag … doch bis er kommt, werde ich für dieses Mädchen und seine immer blutigen Knie kämpfen!
Als er sich den anderen Kriegern zuwandte, war sein Lächeln verschwunden. Gwalhaid verspürte keine Reue mehr. Er hatte einen Grund zu kämpfen, und einen Feind, den es zu besiegen galt.
Die Zeit der Schlacht war gekommen.
Als Bauh Moridol jemanden durch die Tür kommen hörte, drehte er sich um.
»Schlammdämon!«, krakeelte er augenblicklich, doch Rasu Gyuriha, der gerade eine Karte studierte, sagte, ohne dabei aufzusehen: »Nein, das ist nur Deonui Dalbi.«
Der »Schlammdämon« stimmte lauthals zu: »Jawohl, Generalmajor Rasu! Ich habe alle Befehle ausgeführt, Generalmajor!«
Rasu Gyuriha vergaß über Deonuis Geschrei den Gedanken, den er bis eben noch verfolgt hatte, und sah von der Karte auf. Bei dem schockierenden Anblick verstand er sofort, dass Schlossherr Bauh Moridols Ausruf keineswegs übertrieben gewesen war. Rasu war sich nicht sicher, ob die seltsame Kreatur, die im Türrahmen stand und alles dreckig machte, tatsächlich die Botin war, die er entsandt hatte.
»Wie zum Teufel kann man sich nur so benehmen? Nein, vergiss es. Du musst nicht antworten. Wegtreten!«
»Jawohl, Generalmajor Rasu!«
Bauh und Rasu seufzten unwillkürlich, als Deonui in ihrer typisch ungestümen Art davonmarschierte. Rasu Gyuriha gab es auf, die Karte zu studieren, und wandte sich an Bauh Moridol. »Nun, wie geht es Shiuse?«
»Er ist sehr müde.«
»Müde? Er konnte sich jetzt fast vier Monate lang ausruhen.«
»Er ist es leid, sich auszuruhen. Im Moment ist er so launisch und bösartig, dass nicht einmal ich es wage, mich ihm zu nähern.«
Rasu biss sich...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2024 |
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Reihe/Serie | Die Legende vom Tränenvogel |
Übersetzer | Sun Young Yun, Philipp Haas, Alexandra Schiefert |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | 눈물을마시는새3부〈불을 다루는 도깨비〉(The Bird that Drinks Tears - Trickster Fire, Book 3) |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 2024 • Asien • Computerspiel • eBooks • epische Fantasy • Fantasy • fantasy aus korea • High Fantasy • High Fantasy Bücher • Korea • koreanische fantasy • Koreanische Mythologie • Neuerscheinung • The Witcher |
ISBN-10 | 3-641-31700-2 / 3641317002 |
ISBN-13 | 978-3-641-31700-3 / 9783641317003 |
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