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Goldglanz und Krähenschwarz

Die Crawford-Chroniken 3

(Autor)

Buch | Softcover
408 Seiten
2024
8280-edition.ch (Verlag)
978-3-03977-044-1 (ISBN)
CHF 22,25 inkl. MwSt
Windy Fields‘ Elend hat mich gemacht,.
kein Heim aus Gold so heldenhaft.

Wer zu den Krähen gehört und sich an die Regeln hält,
steht unter ihrem Schutz. Bedingungslos.

Burg Sonnstein, Stammsitz der glanzvollen Wittekints, wird zum Spielort eines mörderischen Familienzwists, aus dem es für die Crawfords kein Entrinnen gibt. Vor ihren Augen zerbricht der schöne Schein aus goldenem Protz und Höflichkeit und die Intrigen sprudeln nur so hervor.
Die Krähen halten an ihren Prinzipien fest und stellen sich auf die Seite der Schwächeren. Als hätten sie nicht schon genug Sorgen, geht es plötzlich um Leben und Tod.
Die Crawfords lassen sich davon nicht einschüchtern und während die Adligen Twiflotens allmählich begreifen, dass sie die ehemaligen Vogelfreien gründlich unterschätzt haben, verkündet Cassander den Beginn einer neuen Ära.

In einer mittelalterlichen Welt voller Konflikte kämpfen die Crawfords für das Volk und gegen ihre dunkle Vergangenheit.
Finden sie die Kraft, ihren Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit zu gehen, gegen alle äußeren und inneren Widerstände?

Dempsey warf einen letzten Blick zurück auf den Salzsee und Burg Brück-Über-Salz, die wie schlafend über dem Wasser schwebte. Im Glanz der aufgehenden Sonne, der die Oberfläche des Salzsees in einen goldweißen Spiegel verwandelte, wirkte alles so friedlich und unschuldig. Der Schein trog: Was hinter den Toren der Burg lauerte war das genaue Gegenteil von Frieden und Unschuld. Er schauderte, entsandte einen stummen Gruß an seine Schwestern, die diesem Unheil nicht entronnen waren, und schloss dann im Eilschritt zu seinen neuen Kameraden auf. Garhelt, eine Späherin aus dem Gefolge der Crawfords, bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. „Na, hast du dem Trupp der Thys heimlich Zeichen gegeben?“ „Ich hätte sie schon heute Nacht erwartet“, sagte Dempsey mit einem Lachen, „aber sie verspäten sich wohl.“ Wie auf ein unhörbares Kommando blieben Garhelt und die anderen Späher stehen. Mit wenigen Schritten kreisten sie Dempsey ein, dabei schauten sie so feindselig drein, dass ihm das Lachen im Halse steckenblieb. „Na warte, Freundchen.“ Schon ballten sich Hände zu Fäusten. Hilfesuchend schaute Dempsey zum Tross, aber die hohen Herrschaften waren bereits außer Sichtweite. Das war’s. „Aber die Regel lautet doch, dass ihr mir kein Leid antun dürft!“ „Ja, das haben die Krähen gesagt“, murmelte Kinney, ein Schrank von einem Mann. Er ließ die Fingerknöchel knacken. „Aber das gilt nicht für Kerle, die es verdient haben. Ich denk’, ich nehm’ dich auf der Stelle auseinander.“ Die Soldaten kamen langsam näher. „Bitte, Freunde, das war doch nur ein dummer Scherz.“ Knochenbrecherblicke und Prügelmienen nahmen ihn ins Visier und er wusste, es gab kein Entrinnen mehr. Trotzig reckte Dempsey das Kinn vor. Er würde nicht winseln. „Na gut, dann schlagt eben einen Unschuldigen. Ich halte das aus.“ Zuerst geschah nichts, dann, einer nach dem anderen, brachen die Späher in Gelächter aus. „Wollen wir den Welpen bei uns aufnehmen?“, fragte Garhelt in die Runde. „Aye! Unser Welpe!“ Statt ihn zu verdreschen, klopften die Späher ihm auf den Rücken und kniffen in seine Wangen, nannten ihn ‚sü.e Babybacke‘ und ‚Jaulwurf‘. Dempseys Anspannung löste sich mit einem Lachen, doch seine Knie waren weich wie Butter und der Schweiß stand ihm auf der Haut. Ehe er sich versah, kreiste ein Beutel mit Kaukraut und wer wollte, bekam auch ein wenig Khat dazu. So gestärkt ging es weiter die Landstraße entlang, immer nach Norden. In den nächsten zwei Tagen der Reise lernte Dempsey, dass solche rauen Scherze bei den Krähen schlichtweg dazugehörten, unter den Soldaten und Adligen gleichermaßen. Obwohl es ständig regnete und die Nässe bald allen in die Kleider kroch, herrschte in der Truppe eine gute Stimmung. Nun also war er Gefolgsmann von Wicked Cass, den er sich im Übrigen gänzlich anders vorgestellt hatte: größer, über und über mit Gold behangen, laut und ungehobelt, aber nicht in schlichtes Schwarz gekleidet, gesammelt und mit schaurigen Augen. Außerdem hatte er niemals davon gehört, dass er braune Haut hatte. Was die Leute sonst noch redeten, schien aber zu stimmen: Wicked Cass sagten auch seine neuen Kameraden und er konnte es mit eigenen Augen sehen: Die Crawfords gingen mit jeder Frau und jedem Mann respektvoll um, egal ob Commoner oder Adliger, und sie dankten ihren Dienern für deren ganz gewöhnliche tägliche Arbeit. Das käme einem Thy niemals in den Sinn. Earl Cassander ließ es sich nicht nehmen, regelmäßig vom Pferd zu steigen, um Seite an Seite mit seinen Untergebenen zu wandern und sich mit ihnen zu unterhalten. Zuerst waren die Leute furchtbar eingeschüchtert, aber es dauerte nicht lange, bis sie frei heraus plauderten und munter mit ihm lachten. Auch jetzt war der Earl zu Fuß unterwegs. Er verabschiedete Späherin Garhelt, mit der er sich unterhalten hatte, blieb stehen und wartete, bis Dempsey zu ihm aufgeschlossen hatte. Ein freundliches Lächeln lag um seine Lippen, aber seine Augen funkelten listig. „Ich weiß gerne, mit wem ich mich umgebe. Erzähl mir von dir, Dempsey.“ „Viel gibt es da nicht zu erzählen. Mein Vater war Soldat. Er fiel im Krieg. Meine Mutter ist Amme bei den hohen Herrschaften. Meine drei Schwestern dienen alle auf der Burg.“ „Du hast sie zurückgelassen.“ „Ich wollte sie … Es ging nicht. Ich bin Hals über Kopf getürmt.“ „Werden sie nun deinetwegen bestraft?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich denke lieber nicht darüber nach.“ Earl Cassander hüllte sich in Schweigen und sah dabei furchtbar wütend aus. „Wie lange hast du gebraucht, um das Bogenschützenhandwerk zu meistern?“, fragte er irgendwann. „Ich habe das Handwerk von klein auf von meinem Vater gelernt. Wir geben das Wissen seit Generationen in der Familie weiter. Es braucht viele Jahre, um es zu lernen. Ich bin erst wirklich gut geworden, als ich schon fast erwachsen war.“ „Wie hast du letzte Nacht geschlafen?“ Dempsey wunderte sich über den abrupten Themenwechsel. Earl Cassanders Blick lastete schwer auf ihm und er wusste, dass er jetzt nichts Falsches sagen durfte. „Eher schlecht als recht“, antwortete er leise. „Meine neuen Diener erzählten mir, dass sie so gut geschlafen haben wie lange nicht.“ „Ich hatte Angst. Die Thys lassen Fahnenflüchtige jagen. Menschenjagd.“ Wieder schwieg sein neuer Herr. „Bitte glaubt mir.“ „Bitte vertrau mir“, raunte Wicked Cass und grinste wie ein Wolf. „Was meint Ihr? Ich vertraue Euch doch.“ „Und warum kannst du dann nachts nicht schlafen?“ „Ich sage die Wahrheit, auch wenn ich es Euch nicht beweisen kann.“ „Stimmt, das kannst du nicht. Darum erzählst du mir jetzt alles, wirklich alles, was du über die Möwen weißt. Ich will wissen, wer von den Thys Probleme beim Scheißen hat, wer ein Säufer ist, wer wen betrügt und vor allem will ich wissen, wer den meisten Dreck unter den Fingernägeln hat.“ Er macht mich zum Verräter und Verräter können nicht zurück. „Meine Loyalität gilt nun Euch, darum erzähle ich Euch alles, was ich weiß.“ Dempsey redete sich von der Seele, was er aufgeschnappt hatte, erzählte von Fehltritten, körperlichen Gebrechen und Intrigen innerhalb der Familie Thy. Sein neuer Earl lauschte ihm aufmerksam und stellte gelegentlich Nachfragen. Besonders hellhörig wurde er, als Dempsey erwähnte, dass Adal Erren schon vor vielen Jahren bei seinem Vater Earl Gerwald in Ungnade gefallen war und seitdem um Anerkennung rang. Viel ausgiebiger noch als über Familienangelegenheiten konnte Dempsey die Zustände im Heer wiedergeben, berichtete mit immer wieder stockender Stimme, mit welcher Strenge die Hauptmänner der Thys ihre Soldaten bestraften, wie er selbst bestraft worden war, und wie wütend und bissig das die Männer werden ließ. Von seinen Schwestern wusste er, dass es beim Gesinde nicht viel besser zuging. „Jeder gegen jeden. Ständig gehen die Männer aufeinander los. Ich prügelte mich mit meinen Kameraden, wenn ich beim Kartenspielen verlor, oder weil mich einer falsch angeschaut hatte. Einmal prügelte ich einen Boten aus der Burg, weil er gegenüber dem Earl die Form nicht gewahrt hatte. Ada Vilburga machte mich gar zu ihrem Prügelknaben. In feiner Kleidung mache ich was her, das gefiel ihr.“ „Und wie gefiel es dir?“ „Zuerst mochte ich es. Als ich meine Schwester verprügeln musste, das … werde ich mir nie verzeihen. Von dem Tag an habe ich es gehasst.“ Earl Cassander blieb stehen und musterte ihn aus seinen stechend grünen Augen, während Mitreisende rechts und links an ihnen vorbeizogen. Als er schon dachte, dass sein neuer Herr ihn auf der Stelle fortschicken würde, wurde sein Gesichtsausdruck milde und er drückte seine Schulter. „Es ist nicht leicht, sich gegen die Mächtigen aufzulehnen, vor allem, wenn man Wert auf heile Knochen legt. Am Ende hast du die richtigen Entscheidungen getroffen. Dafür hast du meinen Respekt.“ Vor lauter Stolz über dieses Kompliment wurde Dempsey glatt ein Stück größer. „Danke … auch dafür, dass Ihr Ada Vilburga die Stirn geboten habt. Wie Ihr ihr Kleid mit Wein und Sauce versaut habt, das war … unvergesslich. Davon erzähle ich noch meinen Enkelkindern.“ Lachend schob der Earl ihn an. Seite an Seite gingen sie weiter, nunmehr am Ende des Trosses. „Es gibt noch etwas, das Ihr wissen solltet. Es ist aber nichts Nettes.“ „Immer raus damit.“ „Die Thys nennen Euch Krähen dreckige Halunken und behaupten, Ihr würdet dem Knochenkönig huldigen. Euch schimpfen sie einen Brandstifter und Frauenräuber.“ „Autsch.“ „Die einfachen Leute in Thy und auf Brück-Über-Salz stehen auf Eurer Seite. Sie kennen Geschichten von Euch und verehren Euch. Die wenigsten glauben den hohen Herrschaften.“ Dempsey breitete die Arme aus. „Das ist alles. Ich weiß nicht mehr über die Thys, als das, was ich Euch erzählt habe, aber ich weiß, dass sie mich zu einem schlechten Menschen gemacht haben.“ „Du hat unsere Regeln gehört, aber eine Regel, die kennst du noch nicht. Egal, was du getan hast, bevor du die Regeln kanntest, wir geben dir eine zweite Chance. Jetzt bist du einer von uns. Es kann nur besser werden.“ Sein neuer Herr war stehengeblieben, um ihm das zu sagen, und ging nun weiter, ein Lächeln um die Lippen. Dempsey schaute ihm einen Moment lang nach und fragte sich im Stillen, warum er überhaupt Angst vor ihm gehabt hatte. Er schloss zum Tross auf und gesellte sich zu seinen Kameraden, dachte während der langen Wanderung über all die Dinge nach, die bei den Crawfords so anders waren, als er es bei den Thys kennengelernt hatte. Die Krähen waren freundlich und obwohl sie Adlige waren, sprachen sie die Sprache der Commoners und kannten ihre Sorgen und Nöte. Jeder, nicht wie anderswo nur die Adligen, durfte hier heruwidische Amulette tragen und mit Knochenwürfeln spielen. Der Earl und Ada Zederin trugen sogar Ringe mit Bernsteinen und einer der Ritter im Gefolge der Crawfords hieß Sir Harren Bernstein, was einem erhobenen Mittelfinger in Richtung Goldhome gleichkam. Alle durften ihre Meinung sagen und wurden dafür nicht bestraft, nein, der Earl wollte sogar wissen, was seinen Leuten nicht passte. Besonders erstaunlich fand Dempsey aber, dass Frauen wie Garhelt Soldatinnen waren. Ein Lächeln kroch in Dempseys Gesicht, während sich ein freudiges Kribbeln in seiner Brust ausbreitete. Es bescherte ihm ein Gefühl von Leichtigkeit. Fühlte sich so Freiheit an? Am Abend des zweiten Tages wurde der Regen so stark, dass sie noch weit vor Einbruch der Dunkelheit ihre Zelte aufschlagen und kampieren mussten. Dempsey beobachtete, wie die Rinnsale von den ledernen Regendächern hinabliefen und vor den Zelten Matschpfützen entstehen ließen. Er und seine neuen Kameraden rückten eng zusammen und warfen reichlich Holz ins Feuer, damit es die Kälte aus den Knochen trieb. Bei jeder Rast spielte Dempsey mit Sir Harren, Garhelt, Kinney, Hollis und Isa Würfel um Knochenmünzen und bei der Nachtwache verrieten sie einander kleine schmutzige Geheimnisse, um ihren Bund zu besiegeln. Trotz allem war die Stimmung gut, abgesehen vom Wissenden der Crawfords, der sich fortwährend über die Witterung und sein störrisches Pferd beschwerte. Zur Nacht des dritten Reisetages erzählte Ada Rhona die heruwidische Legende vom Opfer des Monds, und alle, die noch wach waren, lauschten gebannt. „Einst war der Mond genauso strahlend und warm wie die Sonne. Er schaute vom Himmel herab und sah, wie sich die Menschen ob der Fährnisse des Schicksals quälten. Sie wussten von ihrer Sterblichkeit und trugen tiefe Gefühle in ihren Herzen, aber sie waren ihnen nicht gewachsen. Beinahe verrückt vor Angst und Kummer hockten sie in ihren Höhlen und Wäldern und zitterten und weinten. Raubte das grausame Schicksal ihnen wieder einmal die Kinder oder fegte ihre Hütten mit einem Sturm hinfort, zerkratzten sie sich vor lauter Gram die Augen und stürzten sich von einem hohen Felsen in den Tod. Der Mond hatte Mitleid mit den Menschen und beschloss, ihnen etwas zu schenken. Das einzige Geschenk aber, das er machen konnte, war sein Licht, das seine ganze Kraft barg. Er wusste, dieses Licht zu verschenken, wäre sein Ende, doch stärker als sein Eigennutz war seine Liebe und so zündete er sich selbst an. So zerbarst der Mond in einem gleißenden Licht, so hell, dass es selbst die Sonne überstrahlte, und dieses Licht ergoss sich in alles Lebendige. Der größte Teil seiner Kraft floss in die Herzen der Menschen, aber sie fuhr auch ein in die Tiere und Bäume, Farne und Flüsse, selbst in den kleinsten Käfer. Seit diesem Tag ist der Mond nur noch ein Abglanz seiner selbst, aber alles, was von seiner Kraft erfüllt ist, strahlt aus sich heraus. Wir können es an der Wärme und dem Lebenswillen spüren, der den Menschen und Tieren zu eigen ist und manche von uns spüren auch die Kraft im Wasser und in den Wäldern. Durch das Opfer des Mondes wurden die Herzen der Menschen stark. Sie lernten einander zu lieben. Von neuem Lebenswillen erfüllt, krochen sie aus ihren Höhlen und Waldverstecken und wagten es endlich, dem Schicksal zu trotzen und ihm abzujagen, was ihnen zustand. Von nun an konnten sie sogar hin und wieder über das Unheil lachen, das ihnen widerfuhr. Wenn ihnen das grausame Schicksal das Liebste nahm, fanden sie nun einen Weg aus der Trauer, statt sich von einem hohen Felsen oder in ein Messer zu stürzen, wie sie es früher immer getan hatten. Der Mond zeigte den Menschen, dass es weitergeht, so wie uns die Mondphasen noch heute und bis ans Ende der Zeit beweisen, dass auf jedes Ende ein neuer Anfang folgt, so wie nach jedem Neumond wieder die Sichel des Neulichts vom Nachthimmel scheint. Und in Gedenken an sein großes Opfer zählen wir die Stunden des Tages nach dem Mond und darum segnen wir einander in seinem Namen. Maha de manin.“ „Maha de manin“, murmelten alle in der Runde. „Samantan de manin, samantan de sternan, wolf“, sagte Sir Harren. Der Ritter und die Crawfords lachten. „Wie du willst, Harren. Dann erzähle ich auch noch von den Sternen. Die Sterne sind Fetzen des Mondlichts, die das Schicksal berührten und ihm Stücke entrissen. Mitsamt ihrer Beute flogen sie in den kalten Nachthimmel und froren dort fest. Manche aber wandeln weiter über den Himmel, weil sie noch nicht abgekühlt sind: Fuchs, Hase und Wolf, Geier und Adler, der Prophet und der Weise, Hammer und Flamme, die Münze und der Gast, die Greisin, das Sonnenkind und das Schattenkind. Die Sterne bergen Weisheiten über den Lauf des Schicksals, die der Kundige aus ihnen lesen kann. Sie sind unsere Verbündeten und weisen uns den Weg.“ „Aber hütet euch, die Alte Kunst der Sterndeutung zu nutzen“, mahnte Sir Harren. „Das Schicksal schätzt es nicht, wenn man ihm in die Karten schaut.“ Die Menschen am Feuer nickten in stiller Zustimmung. Viele hatten Tränen in den Augen und hielten sich an einer Freundin, einem Bruder oder einem Geliebten fest, wie der Mond es ihnen beigebracht hatte. Dempsey schaute nach oben. Über seinem Kopf zogen die Wandelsterne ihre geheimnisvollen Bahnen, zeichneten still die Geheimnisse des Schicksals an den Himmel. Er wusste nicht, was das Schicksal ihm bringen würde, doch er wusste, er hatte nun Freunde, die ihm beistehen würden. Die Wälder im Niemandsland zwischen Thy und Isenbork waren feucht, still und zwielichtig, voller riesiger Nadelbäume, deren Stämme so dick waren, als trügen sie den Himmel. Ihnen begegneten Holzfäller und wortkarge Köhler, die ihrem Tagewerk nachgingen. Sonst lebte hier keine Menschenseele. Der Wald öffnete sich zu einer Lichtung. Etwas abseits des Wegs hockte eine Gruppe Frauen am Boden. Eine von ihnen bemerkte den Tross und warnte die anderen. Hastig sammelten die Frauen etwas in ihre Schürzen und rannten dann ins Unterholz. Dort, wo sie gehockt hatten, lagen die Überreste eines Hirschs, von dem kaum mehr als das Geweih und ein paar Knochen übrig waren. „Knochensammler“, sagte Kinney und spuckte zur Seite. „Sie mahlen die Knochen und streuen das Mehl in ihre Gärten. Sie glauben, dass die Feldfrüchte damit besser gedeihen.“ „Der Knochenkönig sieht es nicht gern, wenn die Menschen nehmen, was ihm gehört“, murmelte Sir Rutherford. „So wird der Hirsch ein Wiedergänger.“ Garhelt umfasste das Amulett an ihrem Hals, ein in Leder gewickelter Storchenknochen für eine sichere Heimkehr, wie sie ihm verraten hatte. „Unsinn!“, schimpfte Kinney. „Es gibt keine Wiedergänger. Das Schicksal wird die Frauen strafen. Das Schicksal holt sich immer, was ihm zusteht.“ Sie ließen die Überreste des Hirschs hinter sich und obwohl Dempsey weder an Wiedergänger glaubte noch glauben wollte, waren seine Sinne nun umso mehr auf den Wald gerichtet, der sich rechts und links des Wegs wie eine Mauer aus Holz und Blattwerk auftürmte. Der Wald schwieg, der Wissende schimpfte über seine schmerzenden Knochen und der Regen fiel, bis auch die letzte Faser von Dempseys Unterhose feucht war. Er konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken, als endlich Burg Isenwehr in Sicht kam. Der Aufstieg über zerklüftete Felsen bis hinauf zur Burg verlangte den erschöpften Pferden das letzte ihrer Kraft ab und auch die Menschen schleppten sich dahin. Als der Tross die Tore von Isenwehr erreichte, dampften die Tiere vor Anstrengung und die Soldaten japsten. Dempsey schaute an den gewaltigen Burgtoren und Mauern empor, über denen runde Türme aufragten: Soweit er blicken konnte, war das Gemäuer mit Eisen beschlagen, und der Rost lief, wie Blut über die Felsen, auf denen die Burg stand. Auf den Zinnen flatterte das Banner der Isenborks: die gekreuzten Waffen aus Gold über einem blauen Schild. Das waren typisch gylqarische Wappenfarben. Auf Brück-Über-Salz hatte Dempsey die Thys hinter vorgehaltener Hand über die Isenborks tuscheln hören. Seine ehemaligen Herren misstrauten ihren gylqarischen Nachbarn und nannten sie Leichenanbeter. Im Heer der Thys herrschte sogar Angst, denn selbst wenn sie schon Jahrhunderte zurücklagen, kannten alle die Geschichten von den Schlachtfeldwanderern, die die Isenborks gegen die Herwaz Thy und Wittekint ins Feld geführt hatten. Und obwohl die letzten Schlachtfeldwanderer auf den Feldern vor Worthington gefallen waren, beteten die Soldaten der Thys zur Allmutter und flehten das Schicksal an, dass sie nicht für eine Grenzpatrouille am Gebiet der Isenborks eingeteilt wurden. Dempsey war weder abergläubisch noch ängstlich, doch beim Anblick der blutenden Mauern wurde ihm mulmig. Ein Ausfalltor öffnete sich und ein Herr in Blau und Gold trat hinaus. Er sprach kurz mit Adal Borden und verschwand dann wieder in der Burg. Eine Weile lang geschah nichts und Dempsey glaubte schon, sie seien abgewiesen worden. Dann aber ging ein Ruck durch die Eisentore von Isenwehr und mit einem markerschütternden Quietschen schwangen sie langsam auf. Dahinter eröffnete sich ein düsterer, von Regen und Dunst verhangener Burghof. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Niemand nahm sie in Empfang und auch der Mann in Blau und Gold war fort. Die Crawfords tauschten ratlose Blicke. Erst bei genauem Hinsehen entdeckte Dempsey die Gardisten auf den Wehrgängen. „Gefällt mir gar nicht“, murmelte Kinney, der sie auch gesehen hatte. „Wenn die Armbrüste haben, war’s das.“ „Warum sollten sie …?“ „Hast du nicht zugehört?“ Kinney verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Die Krähen sind Nachfahren der alten Schennehai. Sie und die Gylqar sind Blutsfeinde.“ „Erzähl nicht so einen Scheiß!“, schimpfte Ada Rhona. „Das ist ewig her. Unsere Völker sind schon lange nicht mehr im Krieg.“ „Ist bloß die Frage, ob diese Rohrrim das auch so sehen“, bemerkte Ada Zederin. „Die leben hier an der letzten Kreuzung“, meinte Adal Borden. „Wie sollen die überhaupt wissen, von wem ihr abstammt?“ „Jetzt ist es eh zu spät, sich das zu überlegen.“ Earl Cassander stieg vom Pferd und führte es in den Burghof, flankiert von Sir Welldren und Sir Rutherford. Nach wenigen Schritten blieb Earl Cassanders Stute stehen und scheute, ließ sich nur mit Mühe überreden, weiterzugehen. Adal Borden tauschte einen verwunderten Blick mit Ada Rhona, sie zuckte mit den Schultern und folgte ihrem Vater. Nun setzte sich auch der übrige Tross in Bewegung. Langsam überquerten sie den Burghof und bei jedem Schritt rechnete Dempsey insgeheim damit, dass die Gardisten auf den Wehrgängen sie aufs Korn nehmen würden. Nichts dergleichen geschah. Am gegenüberliegenden Ende des Hofs führten breite Treppenstufen hinauf zu einer dunklen Öffnung in einem mächtigen Steinbau. Sie sah aus, wie der Schlund eines Ungeheuers, dessen Leib die Burg war. Nacheinander durchschritten sie das Dunkel des Schlunds. Auf der anderen Seite nahm sie der Herr in Gold und Blau in Empfang. Er führte sie durch enge Flure, die im schummrigen Licht rußender Talglichter lagen. Je tiefer sie in den Bauch von Isenwehr eindrangen, umso kälter wurde es. Der Geruch von rohem Fleisch hing in der Luft. Sie betraten einen breiten Korridor, der auf eine doppelflügelige, eisenbewehrte Tür zuführte. Auf beiden Seiten des Korridors standen zwei Reihen dunkler Gestalten Spalier. Zuerst wunderte sich Dempsey, dass diese Gardisten so groß und hager waren und sich nicht im Mindesten bewegten, doch als er dem ersten ins Gesicht schaute, verstand er: Diese Wächter waren tot. Ada Ashley blieb wie angewurzelt stehen und Adal Borden redete ihr gut zu, doch sie weigerte sich, weiterzugehen. Schließlich bestand die Lösung darin, dass sie ihr Gesicht an seine Schulter drückte, und sich von ihm führen ließ. Schweigend schritten sie an den wachsamen Mumien vorbei. Sie trugen goldbesetzten Brokat und goldene Rüstungen, waren außerdem mit Unmengen von Schmuck aus Gold und Bernstein behangen. Die Mumien waren enorm groß, jede von ihnen größer als der größte Mensch, den er jemals gesehen hatte, dazu breit in den Schultern und Hüften. Ihre Schädel waren lang und grob, die Lippen über den Zähnen waren zurückgewichen. Sie starrten aus leeren Augenhöhlen, die toten Blicke böse und lauernd. Über die ausgedörrten Leiber spannte sich dunkle Haut wie Pergament und darunter zeichneten sich eckige Knochen ab. Als wäre jede Mumie eine Verkörperung des Familienwappens, hielt sie Speer und Schwert vor der Brust gekreuzt. An sich waren die Mumien schon schaurig genug, doch sie alle hatten etwas Unmenschliches an sich. Dempsey sah Gebisse voller Reißzähne, Hörner, die aus Ellbogen Schultern und Schädeln staken und abnorm große Hände. Er lief beinahe in Sir Welldren, der mitten im Gang stehengeblieben war und einen Mumienwächter anstarrte, der größer war als alle anderen. Auf seinem Rumpf saßen zwei Köpfe, ein sehr breiter, grobknochiger mit tiefliegenden Augenhöhlen und ein kleiner, verdrehter, dessen Mund in einem stummen Schrei erstarrt war, sodass lauter kleine spitze Zähne zu sehen waren. Jemand schob Dempsey an und er ging weiter. Die Wächter an der Pforte am Ende des Korridors waren lebendige Männer aus Fleisch und Blut und selten hatte sich Dempsey so erleichtert gefühlt. Die Männer hoben die gekreuzten Waffen ließen sie in einen fensterlosen Saal eintreten, der von unzähligen Kerzen erhellt war. Hier atmete es sich gleich viel leichter und die Luft war warm und roch nach Leben. Vor Kopf einer langen Tafel saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne der alte Earl Dorqan, ein weißhaariger Mann in golddurchwirktem, schwarzem Brokat. Seine Augen lagen unter müden Lidern und er schien nicht zu bemerken, dass jemand den Raum betrat. Zu seiner linken stand eine schöne Ada, die als Arlynn Isenbork vorgestellt wurde. Sie trug ein goldenes Diadem im wallenden braunen Haar, wie Dempsey es sich bei einer Königin vorstellen würde. Zur Rechten des Earls stand ein junger Mann, dessen Haut und Haar vollkommen weiß waren und dessen Augen aussahen wie reines Glas. Er war Earl Dorqans Sohn und Erbe Alester. In seiner weißen Kleidung sah er unwirklich aus, wie fleischgewordener Nebel. Ein Stück hinter ihm hielt sich ein ungefähr gleichaltriger Mann mit beunruhigend kräftigem Körperbau auf. Zuerst hielt Dempsey ihn für Alesters Bruder, aber er war sein Sohn Gylmond. Auch er war gänzlich weiß. Als sich die Crawfords vorstellten, wurde der alte Earl lebendig. Er erhob sich und ging mit schleppenden Schritten am Tisch entlang, blieb vor den Crawfords stehen, der Atem rasselnd vor Anstrengung, und starrte sie der Reihe nach aus trüben Augen an. Dabei zuckten seine Mundwinkel vor Abscheu und seine Nasenflügel blähten sich. Earl Cassander schaute dem Mann gelassen entgegen, aber Sir Welldren bewegte die Finger wie Krallen. „So begegnen sich die alten Völker wieder“, sagte Earl Dorqan zwischen schweren Atemzügen. „Was bringt Ihr mit aus Eurem verfluchten Wald? Hass und Rache?“ „Wir kommen in friedlicher Absicht.“ „Shahviri, Cassanderen. Anavoloassaïnan“, zischte Ada Zederin. „Bahyarr“, erwiderte Earl Cassander. „Sassenen ubainion.“ Der alte Herr von Isenwehr zog die Augenbrauen zusammen und ließ ein tiefes Grollen hören. Unwillkürlich wanderte Dempseys Hand an den Schwertgriff, aber er griff ins Leere. Er hatte seine Waffe an der Pforte ablegen müssen. Adal Borden trat vor. „Earl Dorqan, Euer Sohn Alester kennt uns Crawfords. Er wird Euch bestätigen, dass wir den Blick nach vorn gerichtet halten. Die Vergangenheit interessiert und nicht.“ „Ist das so, Sohn?“ „Es stimmt, Vater.“ Der alte Earl musterte seine Gäste mit abschätzigem Blick, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung, drehte sich um und schlich wieder zu seinem Platz vor Kopf. „Willkommen auf Isenbork, geschätzte Gäste“, sagte Adal Alester. „Nutzen wir die Stunde für einen gütlichen Austausch.“ Der weiße Adal begrü.te die Frauen mit Handkuss und die Männer mit Händedruck. Auch Dempsey reichte er die Hand und drückte mit einer Kraft zu, er dem schmalen Adal niemals zugetraut hätte. Er hörte seine Knöchel knacken. Das also war ein gylqarischer Händedruck. „Bitte setzt Euch“, lud Adal Alester sie an ihre Plätze. In seinem Rücken tauschten die Crawfords entrüstete Blicke, während sie ihre schmerzenden Finger kneteten.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Die Crawford-Chroniken ; 2
Verlagsort Kreuzlingen
Sprache deutsch
Maße 152 x 229 mm
Gewicht 852 g
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Familie • Fremde Welten • Helden
ISBN-10 3-03977-044-6 / 3039770446
ISBN-13 978-3-03977-044-1 / 9783039770441
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