Die seltsamste aller Zahlen (eBook)
320 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0769-4 (ISBN)
Jamie O'Neill liebt die Farbe Rot. Außerdem liebt er hohe Bäume, Muster, Regen, der mit dem Wind kommt, die Krümmung vieler Gegenstände, Bücher mit Schutzumschlägen, Katzen, Flüsse und Edgar Allan Poe. Im Alter von 13 Jahren gibt es zwei Dinge, die er sich im Leben besonders wünscht: den Bau einer Perpetuum Mobile-Maschine und die Verbindung zu seiner Mutter Noelle, die starb, als er geboren wurde. In seiner Vorstellung sind diese Dinge eng miteinander verbunden. Und an seiner neuen Schule, wo alles verwirrend und überwältigend ist, findet er zwei Menschen, die ihm vielleicht helfen können.
»Die seltsamste aller Zahlen« ist die Geschichte eines Jungen und seiner Mission, die das Leben seiner Lehrer, Tess und Tadhg, verändert und eine Gemeinschaft zusammenführt. Mit Zärtlichkeit und Verve geschrieben, geht es um Liebe, Familie und Verbundenheit, die Kraft der Fantasie und darum, dass wir unsere größten Abenteuer nie allein erleben.
Elaine Feeney ist eine Schriftstellerin aus dem Westen Irlands. Ihr Debütroman »As You Were« wurde mehrfach ausgezeichnet und war vielfach nominiert, unter anderem für den Irish Novel of the Year Award. Feeney hat drei Gedichtbände veröffentlicht, darunter »The Radio Was Gospel« und »Rise«. Die Autorin lehrt an der Universität von Galway. »Die seltsamste aller Zahlen« stand auf derLonglist für den Booker Prize 2023.
PROLOG
Jamie sagte: Wenn ich erwachsen bin, werde ich so groß sein wie diese Bäume, und dann krabbelte er schnell wie ein Salamander den Stamm hinauf. Er war schon beim ersten Ast, als Eoin sagte: Whoa, Jamie, Vorsicht, und den Jungen wieder herunterhob.
Eoin, sagte Jamie, wusstest du, dass man aus Baumharz Pfeilspitzen macht, die sind so hart dass sie dich direkt durchbohren?
Nein, das wusste ich nicht, sagte Eoin.
Jamie nickte heftig, zog dann seine feuchte Nase am Ärmel seines roten Anoraks entlang und sagte: Wusstest du, dass Bäume sich in alles verwandeln können?
Hohe Bäume liebte Jamie derzeit besonders: Die Gemeine Kiefer wuchs schnell, überdauerte Jahrhunderte und bot roten Eichhörnchen ein Zuhause. Jamie liebte die Farbe Rot. Außerdem liebte er Muster, Bücher mit Schutzumschlägen, Katzen, Regen mit Wind, die Krümmung von Objekten, Edgar Allan Poe und Flüsse.
Jamie hasste sonnige Tage, aber der rote Himmel, der sich heute hinter den Bäumen abzeichnete, war ein guter Vorbote für einen drohenden Schauer. Er mochte es, wenn ihm der Regen ins Gesicht schlug und langsam in die Kleidungsschichten eindrang, bis alles nass und schwer an ihm hing. Der Winter war Jamies Lieblingsjahreszeit, November sein Lieblingsmonat, denn der November war berechenbar: Nichts geschah, außer dass sich eine schwere Dunkelheit wie eine Gewichtsdecke über den Ort legte, und der Schlagregen war absolut gnadenlos. Der Winter war kahl und unbeschwert, die Blätter verschwanden von den riesigen Eichen, und der Fluss Brú, ein unspektakulärer Fluss, der an grauen Tagen grau dahinfloss und an sonnigen blau, wurde an Nebeltagen so weiß, dass man das gegenüberliegende Ufer nicht mehr sehen konnte, nur noch endlosen, unwirtlichen Raum.
Der weiße Nebel begeisterte Jamie, denn so mussten unendlich viele Gespenster aussehen
(dabei glaubte er nicht an Gespenster)
Unendlichkeit begeisterte ihn (an Unendlichkeit glaubte er) und grausame Dinge erfüllten ihn mit Grauen, ließen Warnungen in den Windungen seines so geschäftigen Gehirns aufblitzen.
Schon bald kamen Jamie und Eoin an dem steinernen Kragbogen des Eishauses vorbei. Das gewölbte Erddach war von Grasbüscheln und Vogelknöterich überwuchert. Hier schlug die Biegung des Flusses eine Schneise in den Himmel, bis hierher kam Jamie gerne, weil es nicht mehr weit war bis zur Mündung. Und obwohl er noch nie in einem Boot gesessen und die Energie des Wassers unter sich gespürt hatte, wollte er plötzlich nichts sehnlicher.
Sie beobachteten einen Mann, der in einem Currach, einem Fellboot, vorbeifuhr und ihnen zuwinkte. Jamie überlegte, ob das Boot eher einer schwarzen Schnecke oder einem kopfstehenden Seeungeheuer ähnelte. Er beschloss, dass es dem Piratenhut am nächsten kam, den er letztes Jahr zur Feier von Terrys sechstem Geburtstag hatte tragen müssen, kurz nachdem Terry nach Emory gezogen war. Das dünne Gummi des Huts hatte Jamie in die Haut unterm Kinn gezwickt, bis es dort brannte. Er war schreiend in den Garten gerannt und hatte sich schweigend in die hinterste Ecke gekauert, wo er den rumpelnden Betonmischern nachsah, die zu neuen Grundstücken rollten, bis Eoin zu seiner Rettung kam. Zu seiner und zur Rettung der Geburtstagsfeier. Terrys Mam hatte gesagt: Es tut mir so leid, und verzweifelt versucht, Jamie zu umarmen, sein Gesicht fest an sich gepresst.
Er fuhr auf dem Absatz seiner Gummistiefel herum und sagte: Können wir morgen wiederkommen und im Fluss baden, Eoin? Wenn wir weit rausschwimmen, sagte er und fuchtelte mit den Armen, schaffen wir es vielleicht bis nach Amerika. Ich ziehe auch Schwimmflügel an … Dann packte er Eoin plötzlich bei der hinteren Jeanstasche: Pass auf, Eoin, deine Schnürsenkel sind offen, und dachte sofort an die Kinder in der Schule, die sagten, deine Senkel sind auf, dabei hieß es doch offen.
Danke, sagte Eoin, und jetzt pssst, sonst weckst du den Fluss, dann legte er sich den Zeigefinger an die Lippen und spürte eine plötzliche Enge in der Brust. Er machte seine Jacke auf und ging in die Knie, um sich den Schuh zuzubinden.
Jamie sagte: Flüsse schlafen nicht, der Fluss Brú jedenfalls nicht, und dann schürzte er die Lippen und wiederholte Brú. Er mochte, wie das Wort vibrierte. Er tritt manchmal über die Ufer, wusstest du das? Meine Lehrerin hat gesagt, dann richtet er beträchtlichen Schaden an. Und wusstest du, dass Brú vernichten bedeutet?, sagte Jamie und schlug die Handballen zusammen. Wusstest du das? Meine Lehrerin hat gesagt, dass es das bedeutet, und dass das gut ist, weil Flüsse wichtig sind, aber auch ziemlich schlimm sein können, denn wenn sie stark sind, er rieb seine Nase noch mal über den Ärmel, vernichten sie Fische und Felsen und Schiffe, und das ist nicht gut, gar nicht gut, wenn alle und alles verschlungen wird. Er betrachtete den Fluss und sagte: Oder vernichtet.
Eoin war abgelenkt von dem Druck auf seiner Brust.
Ich habe Brú im irischenglischenglischirischen Wörterbuch nachgeschlagen, und es bedeutet außerdem Herberge, sagte Jamie, blieb abrupt stehen und rupfte sich an den Wimpern, die ihm ins Auge stachen. Wir waren noch nie in einer Herberge, Eoin.
Jamie hielt Eoin jederzeit lange Vorträge zu jedem beliebigen Thema, aber für ein so mitteilsames Kind zeigte er, so seine Lehrerin, wenig Interesse daran, sich über einen längeren Zeitraum inmitten Gleichaltriger aufzuhalten. Sie sagte außerdem, wenn Jamie etwas mitzuteilen hatte, sei es ihm wichtig, dass er sofort, in diesem Moment, und sehr schnell sprach. Obwohl Eoin argumentierte, alle Kinder würden sich so verhalten, wurden monatliche Ziele gesetzt: Zuhören. Sprechaufforderung abwarten. Beziehungen zu Mitschülern aufbauen und aufrechterhalten. Allerdings war Jamie oft von etwas gefesselt und überwältigt, und in seinem Leben gab es so einige Ereignisse, die zwar schön und spontan waren, aber auch einfach sehr fordernd.
Eoin sagte: Wir waren nie in einer Herberge, weil dort viele Leute auf kleinstem Raum zusammengepfercht sind. Das würde dir nicht gefallen.
Wie kannst du das wissen, wenn ich doch nie in einer war?, antwortete Jamie.
Gute Frage. Ich war mal in einer, sagte Eoin. Und sie sind normalerweise brechend voll.
Ist das wie früher, als du klein warst und mit vielen anderen Jungen zusammen im Internat?
Ja, sagte Eoin, genau wie in den Schlafsälen im Internat. Viel zu laut für einen eifrigen Jungen wie dich, der seinen Schlaf braucht. Außerdem zeltest du doch so gern? Wie wäre es, wenn wir morgen ins Schwimmbad gehen?
Aber obwohl er Regen liebte, hasste Jamie das Wasser im öffentlichen Schwimmbad.
Als Jamie mit drei das Sprechen anfing, nachdem er bis dahin fast keinen Laut von sich gegeben hatte, redete er in ganzen, komplizierten Sätzen und zitierte fast nur Gedichte, überwiegend die von Edgar Allan Poe. Er hatte Poe in der Bücherei gefunden, angezogen von dem Vogel auf dem blutroten Cover. Jamie liebte die Bücherei, das Summen der Leuchtröhren, den roten Teppich, das gelbe Plastikmobiliar. Es war warm und roch nach Füßen. Er verschlang Bücher, weshalb seine Großmutter Marie jede Woche mit ihm in die Bücherei ging und danach noch auf einen Tee ins Hotel am Square, wo es Kekse gab, die in Plastikfolie mit Schottenkaro eingeschweißt waren. Marie griff lieber zu Büchern mit Frauen vorne drauf, und manchmal waren Männer dabei, die Krawatten über den ansonsten hemdlosen Oberkörpern trugen, und Jamie verstand nicht, wie sie in einer Woche so viel lesen und trotzdem noch jedes Haus in Emory putzen konnte. Auf dem Nachhauseweg sang er mitunter: Ob ein Sturm Dich ließ hierher, trostlos, doch ganz ohne Bangen, in dies öde Land gelangen, in dies Haus von Graun umfangen – bis Marie Poe verbannte.
Am Tag von Jamies Geburt eilte Marie ins Christ’s College, um ihrem Sohn mitzuteilen, dass bei seiner Freundin vorzeitige Wehen eingesetzt hatten. Es war ungewöhnlich sonnig für Februar, und Eoin langweilte sich in der letzten Lateinstunde vor der Abschlussklausur. Das ganze Frühjahr schon hörte er aus allen Richtungen: Oh, du machst ja bald deinen Abschluss.
Was sich für Noelle Doyle und Eoin O’Neill als unwahr erweisen sollte.
Auf Wunsch der Schulleitung, die darauf pochte, dass schwangere Schülerinnen nicht am Unterricht teilnahmen, um keine falschen Signale zu senden, hatte Noelle ihre Abschlussprüfungen verschieben müssen. Ihre vielversprechende Schwimmkarriere musste ebenso pausieren.
Als Marie gegen die Tür des Klassenzimmers trommelte, nahm Eoin die Beine in die Hand, ließ aber seine Schultasche und seine Brotdose mit Hähnchensandwiches stehen. Er kehrte nicht zurück. Denn in der Hektik nach der Geburt stieg Noelle Doyles Blutdruck. Maschinen piepsten, und das Baby, eingewickelt wie eine warme Schweineschulter, wurde Eoin in die Hände gedrückt und Noelle auf die Intensivstation gebracht, wo sie fünfundfünfzig Minuten später, umgeben von ihrer großen Familie, starb. Blind vor Wut stürmte ihre Familie zur Tür heraus und schrie Eoin an, der das Baby fest an sich presste. Eine von Noelles Schwestern, die mit den Korkenzieherlocken, spuckte ihn an und stürzte sich dann mit einer Mischung aus Faustschlag und Umarmung auf ihn, ein nicht unüblicher Ausdruck der Trauer, bis Wachleute die beiden trennten, und er hielt noch immer das Baby, als sie alle ohne einen Blick zurück das Krankenhaus verließen und ihnen so entging, dass Jamie O’Neill unter der winzigen Mütze eine Menge rostbraunes Haar und eine gerunzelte Stirn hatte, genau wie seine Mutter.
An...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2024 |
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Übersetzer | Ulrike Brauns |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | How to Build a Boat |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Atypical • Autismus • BBC Between the Covers • Bootsbau • Coming of Age • Drama • Familie • herzerwärmend • Irish Novel of the Year 2023 • Irland • Menschen im Spektrum • Mobbing • Neurodiversität • new york times best books 2023 • Schüler-Lehrer-Verhältnis • Teenagerprobleme • The Booker Prize • Trauerbewältigung • Wie man ein Boot baut • Zahlenliebe • Zusammenhalt • Zwänge |
ISBN-10 | 3-7499-0769-2 / 3749907692 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0769-4 / 9783749907694 |
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