Regen (eBook)
256 Seiten
Frankfurter Verlagsanstalt
978-3-627-02331-7 (ISBN)
Claire Beyer, 1947 geboren, lebt in Markgröningen bei Ludwigsburg. Sie hat ein Musical u?ber Camille Claudel verfasst und Erzählungen, Kurzprosa und Gedichte in verschiedenen Anthologien sowie einen Band mit Lyrik veröffentlicht. Nach ihrem u?beraus erfolgreichen Prosadebu?t »Rauken« (FVA 2000) erschienen der Erzählungsband »Rosenhain« sowie die Romane »Remis«, »Rohlinge«, »Refugium« und zuletzt »Revanche«.
Claire Beyer, 1947 geboren, lebt in Markgröningen bei Ludwigsburg. Sie hat ein Musical über Camille Claudel verfasst und Erzählungen, Kurzprosa und Gedichte in verschiedenen Anthologien sowie einen Band mit Lyrik veröffentlicht. Nach ihrem überaus erfolgreichen Prosadebüt »Rauken« (FVA 2000) erschienen der Erzählungsband »Rosenhain« sowie die Romane »Remis«, »Rohlinge«, »Refugium« und zuletzt »Revanche«.
Ambrosia kam am 7. Februar 1963 zur Welt. Sie war das erste Kind ihrer Eltern und hatte ihrer Mutter eine schwierige Schwangerschaft bereitet. Wochenlang musste sie liegen, immer mit der großen Angst, das Kind zu verlieren. Als vier Wochen vor dem errechneten Termin am späten Vormittag die Wehen einsetzten, war die Aufregung groß, denn der Kindsvater, der seine Frau ins Spital bringen sollte, war nirgendwo aufzutreiben. Schließlich kamen Nachbarinnen, die der jungen Mutter zur Seite standen, und die Geburt fand im ehelichen Schlafzimmer statt. Während der Wehen rief die junge Frau immer wieder nach ihrem Mann, und im größten Schmerz verfluchte sie ihn, worauf die Frauen drei Kreuze schlugen und ihr den Mund zuhielten. Erst als das Baby gesund in den weichen Tüchern lag, gestand eine der Frauen, was sie wusste. Der werdende Vater war am frühen Morgen mit Freunden an den Bodensee gefahren, nachdem sie in den Nachrichten von der Seegfrörne gehört hatten. Der gesamte See war zugefroren, und damit komplett begeh- und befahrbar. Ein Jahrhundertereignis sei das, sagte der Radiosprecher und berichtete von Abertausenden Menschen, die schon am frühen Morgen die Eisfläche bevölkerten. Als der jungen Mutter klar wurde, dass ihr Mann sie im entscheidenden Moment wegen einer dicken Eisplatte allein gelassen und ihr nicht, wie versprochen, die Hand gehalten hatte, um sie bei der Geburt zu unterstützen, bestimmte sie, dass er nicht mehr ins Haus zurückkehren dürfe. Das ganze Dorf war in Aufregung und in zwei Lager geteilt. Die einen waren auf der Seite von Ambrosias Mutter, die anderen auf der des Vaters. Schließlich beendete der Pfarrer den Spuk, er überzeugte die junge Frau davon, einzulenken, so dass der Kindsvater, der sich bei einem Freund verkrochen hatte, endlich wieder zurück ins Haus durfte, und dort sein Töchterchen, das am Tag der Jahrhundert-Seegfrörne zur Welt gekommen war, in den Arm nehmen konnte. Ambrosias künftige Geburtstage standen noch viele Jahre im Schatten dieses Spektakels, da dem Vater sein erbärmliches Verhalten an diesem Tag schon am frühen Morgen aufs Butterbrot geschmiert wurde. Seine Frau brauchte noch nicht einmal ein Wort darüber verlieren, in ihrem Gesicht spiegelte sich der Verrat, als wäre er am Tag zuvor geschehen. Noch ehe sie zur Schule kam, erfuhr Ambrosia dann auch davon. Sie fürchtete diesen Tag, ihren Geburtstag. Und was noch belastender war, sie entwickelte, was ihren Vater betraf, starke Verlustängste. Ging er aus dem Haus, um die Wiesen zu mähen oder Holz im Wald zu schlagen, weinte sie so bitterlich, dass ihre Mutter nicht nur einmal gezwungen war, ihren Mann wieder zurückzuholen. Erst als die zweite Tochter Penelope etwas größer wurde, ließen die Heulanfälle nach. Ambrosia schenkte fortan ihrer Schwester ihre ganze Aufmerksamkeit, ihren Vater jedoch verdrängte sie aus ihrem Herzen, und er fand nie wieder den Weg dahin zurück. Ambrosia und Penelope (die bald schon Pepe genannt wurde) waren unzertrennlich, auch als die Ältere nach der Schule eine Ausbildung zur Floristin machte. Am Abend suchten beide in den Wiesen nach Gräsern und Blumen, und Pepe lernte ebenso schnell wie ihre Schwester, schönste Gebinde daraus zu fertigen. So wie den Hochzeitskranz, den Ambrosia mit großem Stolz trug. Sie war eine glückliche Braut und bald die glückliche Mutter eines Jungen. Ihre Schwester wohnte wie selbstverständlich bei ihr und ihrem Mann. Doch nach einigen Jahren schlichen sich die Verlustängste wieder in das Bewusstsein von Ambrosia. Sie traktierte ihren Mann damit, kontrollierte ihn, verlangte, dass er seine Freunde aufgab, dass er sich mehrmals am Tag telefonisch bei ihr meldete, dass er über jede Minute des Tages Rechenschaft ablegte. Streitereien bestimmten die Tage und halbe Nächte. Der kleine Junge kroch dann bei seiner Tante ins Bett, hielt sich die Ohren zu, riss aus, als er größer wurde. Die Ehe wurde geschieden, und Ambrosia und ihr Junge sahen den Mann und Vater danach nie wieder. Ihr Sohn, den sie Andreas getauft hatten, verschwand dann ebenfalls. Am Tag nach dem Schulabschluss fuhr er mit dem Bus aus dem Dorf. Er hatte von seiner Mutter zum Anlass des bestandenen Abiturs den Gesamtbetrag der Unterhaltsleistungen seines Vaters erhalten. Mit Zins und Zinseszins. Ein Sparbuch auf seinen Namen. Andreas machte etwas daraus, studierte in Rekordzeit Maschinenbau und war danach auf allen Kontinenten unterwegs. Seine Mutter besuchte er an Weihnachten oder wenn sein Zeitplan es erlaubte. Aber das war nicht oft der Fall. Er kam niemals auf die Alpe, die Ambrosia im Sommer hütete, wusste immer weniger von seiner Mutter, die am Tag der Seegfrörne zur Welt gekommen war.
*
Elisabeth entschuldigte sich bei der Hüttenwirtin für ihre Verspätung, stellte die Gebäckstücke auf den Tisch und präsentierte den Bohnenkaffee, was Ambrosia milder stimmte. Gut gelaunt zeigte sie ihre Bereitschaft, Elisabeth zu verzeihen. Während der Kaffee durch den Filter lief, kam Pepe, als hätte sie der wunderbare Geruch angelockt. Die kleine Kaffeepause war der Auftakt zu etwas Großem, auf das sie vorbereitet sein mussten. Der Abschluss der Alpsaison hin zur Viehscheid, die im Dorf mit Tausenden Gästen gefeiert wurde, stand an. Sie mussten für die Kranzkuh (dass es Emma sein würde, stand außer Frage) einen prächtigen Schmuck aus Latschenkiefern und Alpenrosen, aus Disteln und blühenden Stauden, aus Federn und Spiegeln fertigen. Die bösen Geister mussten vertrieben werden, ob man daran glaubte oder nicht. Den Schwestern ging die Arbeit leicht von der Hand, Elisabeth wurde dazu angehalten, die großen Glocken zu putzen, denn die Weideschellen wurden zum Alpabtrieb abgenommen und gegen die prächtigen Messingglocken ausgetauscht. Für jedes Rind die passende Größe. Elisabeth war mit Eifer dabei, aber das genügte nicht, sagte Ambrosia, sie musste gründlicher arbeiten. Nach und nach wurden die aus gebrauchter Bettwäsche zurechtgeschnittenen, hellen weichen Flanelltücher vom Messing schwarz und starr. Bis weit nach Mitternacht arbeiteten die Frauen. Gabor war nicht gekommen, nicht wie an den anderen Abenden. Vielleicht hatte ihm Ambrosia den Besuch verwehrt, vielleicht Pepe. Elisabeth durchschaute die beiden Schwestern noch immer nicht, wusste nicht, was hinter ihrem Rücken geschah. Sie dachte an das Handy – das Pepe achtlos an der Garderobe abgelegt hatte –, getraute sich aber nicht, ihren Geliebten damit anzurufen. Vielleicht ging seine Frau Warwara ans Telefon und würde auflegen.
Irgendwann hob Pepe den Kopf, legte ihre Arbeit auf den Schoß und schaute durch das Fenster in die Dunkelheit. Vielleicht ließ sie das Schwarz, das ihr entgegenblickte, an die Vögel denken.
»Die Dohlen sind verschwunden, das ist kein gutes Zeichen.«
Ambrosia stieß ihre Schwester an.
»Arbeite weiter. Die Dohlen sind verschwunden, weil der Lärchenwald weg ist, so einfach ist das. Mach kein Theater und denk nicht mal dran, das Verschwinden der Viecher jetzt auf irgendeinen Fluch zu schieben. Es ist immer dasselbe mit dir. Wenn du nicht mehr flechten magst, kommst du mit irgendeinem Hokuspokus.«
Pepe schaute auf Elisabeth, aber die wollte sich nicht in den Disput der Schwestern einmischen. Sie wusste, dass die beiden sich am Ende wieder vertragen würden und sie dann die böse Dritte im Bunde sein würde. Dennoch hatte sie ein schlechtes Gewissen der Jüngeren gegenüber, die so tüchtig war und nicht nur den Gasthof und die Pension leitete, sondern Ambrosia half, wo und wann immer sie konnte. Doch nichts änderte die Tatsache, dass ihre Leistung zweitrangig war. Zweitgeborene zu sein, kommt einer lebenslangen Degradierung gleich, so beschrieb ihr Pepe das ungeschriebene Familiengesetz. Noch immer durfte die Jüngere nicht vor der Älteren heiraten, das brachte Unglück, und in diesem Wort steckte die vertrackte, historische Tradition, die ihr Recht auch in der sogenannten modernen Zeit geltend machte. Die Männer betraf es existenziell. Der Erstgeborene bekam alles, der Jüngere wurde Knecht oder musste den Hof verlassen, hatte Pepe ihr einmal in einem Gespräch erklärt, kaum einer klagte gegen den Vater oder Bruder, und wenn doch, war er erledigt. Denn das bedeutete keine Hilfe von außen und keine Aufnahme in die inneren gesellschaftlichen Zirkel, was ausreichte, den Weg der Klage nicht zu gehen. Auch wenn Pepe solche Regeln mit großer Bitterkeit kommentierte, akzeptierte sie sie doch. Und sie floh in eine – wie sie es nannte – gerechte Welt. Sie fand diese Welt im Dazwischen. Bei Feen und Elfen, bei Wichteln, schwarzer Magie und Hexenmeistern. Sie fertigte Puppen, die sie mit Nadeln bestückte, um einer Person zu schaden, sie erklärte jedes Naturereignis zum dunklen Phänomen, sie sprach mit Tieren und hob die Dohlen auf ein Podest, das, wie in uralten Zeiten, fast gottesgleich über dem realen Leben stand. Einfach ausgedrückt sah sie in jedem Vogel einen Verstorbenen und war von dieser Überzeugung nicht abzubringen. Elisabeth hatte ihr mit großer Skepsis, aber auch mit wachsender Faszination zugehört. Pepe, die tüchtige Geschäftsfrau, die fleißige kleine Schwester, führte ein Doppelleben, wie es extremer nicht sein konnte. Dass nun die Dohlen verschwunden waren, versetzte Pepe in große Angst, die ihr anzusehen war. Die Hände zitterten, und auf der Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Elisabeth sah sie besorgt an, doch Ambrosia schimpfte sie eine Närrin. Sie solle sich nicht so aufführen und endlich mit dem Dohlengeschwätz aufhören, sonst liefe sie Gefahr, in der Irrenanstalt zu landen. So zurechtgewiesen, nickte Pepe und schwieg für den Rest des Abends. Als sich die Schwestern weit nach Mitternacht voneinander verabschiedeten, nahmen sie sich in den...
Erscheint lt. Verlag | 6.9.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alm • Alpe • Flucht • Kater • Kriminalfall • Starkregen • Überschwemmung • Verwirrspiel • zufälliger Geldfund |
ISBN-10 | 3-627-02331-5 / 3627023315 |
ISBN-13 | 978-3-627-02331-7 / 9783627023317 |
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Größe: 453 KB
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