Furchtlose Wahrheiten (eBook)
208 Seiten
Rotpunktverlag
978-3-03973-043-8 (ISBN)
Dick Marty, Tessiner, 1945 in Sorengo geboren und Ende 2023 in Fescoggia gestorben, war ein Schweizer Politiker (FDP) und Staatsanwalt. Er war von 1995 bis 2011 Ständerat und von 1998 bis 2011 Abgeordneter im Europarat sowie Mitglied der OSZE-Kommission für Menschenrechte. Zu seinen bekanntesten Verfahren und Untersuchungen gehören die gegen das organisierte Verbrechen und zu den geheimen Gefangenentransporten und Gefangenenlagern der CIA in Europa. Er wurde vielfach ausgezeichnet und hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter 2006 als Mitautor CIA-Gefängnisse in Europa. Die Fax-Affäre und ihre Folgen.
Dick Marty, Tessiner, 1945 in Sorengo geboren und Ende 2023 in Fescoggia gestorben, war ein Schweizer Politiker (FDP) und Staatsanwalt. Er war von 1995 bis 2011 Ständerat und von 1998 bis 2011 Abgeordneter im Europarat sowie Mitglied der OSZE-Kommission für Menschenrechte. Zu seinen bekanntesten Verfahren und Untersuchungen gehören die gegen das organisierte Verbrechen und zu den geheimen Gefangenentransporten und Gefangenenlagern der CIA in Europa. Er wurde vielfach ausgezeichnet und hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter 2006 als Mitautor CIA-Gefängnisse in Europa. Die Fax-Affäre und ihre Folgen.
I Ein Fluss und
seine Windungen
»Wie ein langer Fluss ist das Leben nur dann faszinierend, wenn es sich windet«, sagte Chen Zi’ang, ein chinesischer Dichter aus dem 7. Jahrhundert. Nach allem, was geschehen ist, sage ich mir, dass mein Leben selten einem langen, ruhigen Fluss geglichen hat, der durch angenehme Landschaften floss. Um in der Metapher zu bleiben, erinnert der Anfang eher an Tröpfchen, die sich abmühen, ein Rinnsal zu bilden, das sich hartnäckig seinen Weg in feindlicher Umgebung sucht. Eine liebe Freundin meiner Mutter, die für mich die Großmutter war, die ich nie gekannt habe, pflegte mir zu sagen: »Denk daran, dass deine Mutter dich zweimal geboren hat.« Gleich nach meiner Geburt und in den ersten zwei Jahren meines Lebens bereitete ich meinen Eltern viel Kummer, ich schien fast ununterbrochen zu schreien (wie gesagt, meine beiden älteren Brüder ließen keine Gelegenheit aus, mich daran zu erinnern, was für eine Nervensäge ich gewesen sei). Dann teilte der einzige Augenarzt in der Region, offenbar mit dem Taktgefühl einer Planierraupe ausgestattet, meiner Mutter mit, dass »dieses Kind niemals sehen wird«. Er irrte sich – und vor allem unterschätzte er meine Mutter.
Wenn ich diese Episode erzähle, dann nicht aus Selbstmitleid. Natürlich wurde damals jeder, der eine Brille trug, dazu eine so hässliche mit sehr dicken Gläsern, systematisch verspottet. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich damals gelitten hätte. Ich bin in einer protestantischen (aber keineswegs bigotten) Familie aufgewachsen. In der Primarschule musste ich zusammen mit einem jüdischen Kameraden das Klassenzimmer unter den spöttischen bis ungläubigen Blicken der anderen verlassen, wenn der Priester seinen Religionsunterricht begann. Aber auch daran habe ich keine besonders unangenehmen Erinnerungen. Ich glaube immer noch, dass ich dank solcher Erlebnisse die Existenz von Vielfalt und die Notwendigkeit, sie zu verstehen und zu respektieren, gelernt habe, und – auch dank des Beispiels meiner Eltern – den Wert des Durchhaltens, des Nicht-Aufgebens, der Bereitschaft, allein zu stehen, wenn man glaubt, im Recht zu sein, des Vertrauens darauf, dass, wo nicht alles, so doch vieles möglich ist.
Ich denke mit Zärtlichkeit an meine Mutter, die behutsam versuchte, mir einen Beruf schmackhaft zu machen, der es mir ermöglichte, im Grünen zu arbeiten, um meine Augen zu schonen. Indessen las ich, nicht ohne Anstrengung, heimlich die vielen Bücher, die im Haus herumstanden und -lagen, mit einer Taschenlampe unter meiner Bettdecke. Die Pfadfinderei, die Bücher und das Radio (es gab keinen Fernseher im Haus) waren die wichtigsten Ingredienzien meiner Jugend, während ich mich in der Schule mit dem Minimum begnügte – die Freude am Lernen stellte sich erst an der Universität ein.
Die Nachrichten über das, was in der Welt geschah, weckten bald mein Interesse. Ich war elf Jahre alt und erinnere mich noch gut an die Neugier und Aufmerksamkeit, mit der ich die tragischen Ereignisse in Budapest nach dem Einmarsch der sowjetischen Panzer gegen die von Imre Nagy verkörperten Freiheitsbestrebungen verfolgte. Ebenso die französisch-britische (und im Geheimen auch israelische) Militärexpedition am Suezkanal, der vom ägyptischen Premierminister Gamal Abdel Nasser verstaatlicht worden war, sowie die Entführung des Flugzeugs mit den Führern der algerischen Revolution von Rabat nach Tunis durch die französische Armee.
Das war im Jahr 1956. Dann wurde auch der Algerienkrieg und damit die französische Politik zu meiner Leidenschaft und lehrten mich, die Bedeutung von Begriffen wie Demokratie und Achtung der Menschenrechte zu schätzen. Während meine Kameraden in der Lage waren, die Spieler der verschiedenen italienischen Fussballmannschaften aufzuzählen, zählte ich die verschiedenen Premierminister auf, die sich in dieser Zeit in Paris die Klinke in die Hand gaben. Dann kam Charles de Gaulle, den ich immer noch als eine der größten politischen Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts schätze. Ich schwänzte die Schule, um auf Langwellenrundfunk seine legendären Pressekonferenzen zu hören – die Hälfte davon habe ich wegen des schlechten Empfangs allerdings verpasst. Wenn man seine Schriften und Reden heute liest, ist man erstaunt, wie aktuell die Vorahnungen des Generals heute noch sind.
Ich erinnere mich, dass ich anfangs ein glühender Anhänger der »Algérie française« war, was zu lebhaften Diskussionen am Esstisch führte, so sehr, dass meine Mutter drohen musste, zum Teppichklopfer zu greifen; sie war entschieden der Meinung, dass man beim Essen nicht über Politik spricht! Meine Geschwister, aber auch mein Vater, machten sich lustig über mich wegen meiner hitzigen Reaktionen. Diese Provokationen führten aber dazu, dass ich nachdachte und meine Meinung änderte. Irgendwann verstand ich, wie wichtig das Recht der Völker war, frei über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden und wie ungerecht die europäische Minderheit in Algerien die indigene und muslimische Mehrheit behandelte.
Der Algerienkrieg war lang und erbittert. Zu Beginn vermieden französische Politiker und Medien den Begriff Krieg und sprachen stattdessen von den »Événements d’Algérie« (wie sehr erinnert das doch an eine ominöse »Militärische Spezialoperation« der letzten Zeit!). Zahlreiche Verbrechen wurden von der französischen Armee begangen, darunter auch umfangreiche Folterungen. Niemals gab es im Land der Menschenrechte eine gerichtliche Verurteilung für solche Taten, obwohl viele Folterer bekannt waren und sind und einige sich sogar damit brüsteten. ▶ Siehe »Gewalt und Zensur«1
Der Algerienkrieg und insbesondere die Entführung des Flugzeugs der Air Maroc mit den Führern der Nationalen Befreiungsfront (FLN) an Bord hatte damals unvorhergesehene und sogar aufsehenerregende Folgen, die zum Selbstmord des schweizerischen Bundesanwalts und Chefs der Spionageabwehr René Dubois führten. Dubois hatte die Überwachung der Kommunikation der ägyptischen Botschaft in Bern angeordnet. Ägypten war der wichtigste Unterstützer der algerischen Revolutionäre, die die ägyptische Botschaft in Bern zur Kommunikation mit Nasser nutzten. Der sozialistische französische Premierminister Guy Mollet fand heraus, dass Bundesanwalt Dubois wie er Sozialist war und lud ihn nach Paris ein, um ihn davon zu überzeugen, dass Nassers Ägypten, das gerade den Suezkanal verstaatlicht hatte, eine ernste Gefahr für die Demokratien darstellte und dass ganz Nordafrika im Chaos zu versinken drohte. Dubois ließ sich überzeugen und gab alle abgefangenen Informationen, die über die ägyptische Botschaft in Bern gelaufen waren, an die französische Spionageabwehr weiter, und mit ziemlicher Sicherheit auch die Informationen über die Flucht der algerischen Führer von Rabat nach Tunis. Eine klare Verletzung der Neutralität durch einen der höchsten Justizbeamten des Landes. Die Presse bekam Wind von der Affäre, und der Skandal war riesig; Staatsanwalt Dubois konnte dem Druck nicht widerstehen und nahm sich das Leben.
Nach der Matura, als es darum ging, den weiteren Weg zu wählen, geriet alles in unvorhergesehene, ungeplante Bahnen. Ich war begeistert von der Psychiatrie, eine weitere jugendliche Leidenschaft, die entstanden war, als die neuen Ideen der Antipsychiatrie und die von Franco Basaglia eingeführten revolutionären Behandlungsmethoden an Boden gewonnen hatten. Dann, bei einem Abendessen nach einem Berufsberatungstreffen, saß ich zusammen mit zwei Psychiatern an einem Tisch. Die beiden Fachleute sprachen kaum mit mir, stattdessen diskutierten sie untereinander in einer unverständlichen Sprache. Ich war sehr enttäuscht, und mein Vater tröstete mich, indem er mir sagte, dass ich an diesem Abend indirekt ein Attest für psychische Gesundheit erhalten hätte, denn wenn ich ein Fall für die Psychiatrie gewesen wäre, hätten sie sich sicher für mich interessiert! So wandte ich mich der Juristerei zu.
Ich wusste von Anfang an, dass ich nicht Anwalt werden wollte, sondern dachte eher an die Gefängniswelt, die Forschung, die Lehre, vielleicht an ein Richteramt. Von da an geschah alles fast zufällig, durch ein zufälliges Treffen oder Telefonanrufe, die mich jedes Mal dazu zwangen, mich in kürzester Zeit zu entscheiden. Tatsächlich ist es so, dass ich mich nie aus eigenem Antrieb um eine Stelle beworben habe, ich wurde immer dazu gedrängt.
Während meiner Abschlussprüfungen an der Universität traf ich zufällig den Professor für Strafrecht, bei dem ich mich für die Promotion entschieden hatte. Er erzählte mir, dass es eine Ausschreibung für ein Stipendium der deutschen Regierung gebe, und er erklärte, dass ich damit an das Max-Planck-Institut für Internationales Strafrecht und Kriminologie in Freiburg im Breisgau gehen könnte. Eigentlich wollte ich nach Montreal gehen, um dort Kriminologie zu studieren, ein Fach, das es damals in der Schweiz so gut wie nicht gab, aber ich hatte keine Lust, meine Eltern ein weiteres Mal um Geld zu bitten. Das Auswahlverfahren für das Deutschlandstipendium lief am selben Tag oder am Tag danach aus. Ich füllte eilig die erforderlichen Formulare aus, ohne große Hoffnung, denn es war nur ein einziges Stipendium für die gesamte Universität zu vergeben. Innerhalb weniger Tage erhielt ich mein Stipendium, bestand meine Abschlussprüfungen in Jura, heiratete und reiste mit meiner Frau nach Deutschland.
Wir erlebten, wie es ist, Ausländer im Ausland zu sein, ertrugen die umständlichen Formalitäten...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Abgeordneter des Europarats • Anschlag • Auftragsmorde • Award of Honor • Balkan • Bergier-Bericht • Bericht für Europarat • Carla Del Ponte • charismatische Persönlichkeit • CIA-Gefangenentransporte • Das gelbe Haus • Den Haag • FDP • FDP-Ständerat • Finanzdepartement Tessin • Gefangene im Kosovo • Geheimgefängnisse des CIA in Europa • Geheimgefängnisse des US-Geheimdienstes • Generalstaatsanwalt des Kantons Tessin • Handel mit Organen serbischer Gefangener • Hashim Thaçi • Heroinbeschlagnahmung • Interjurassische Versammlung IJV • internationaler Drogenhandel • Internationales Strafrecht • Irakkrieg • Jarmuk • Jugoslawienkrieg • Kampf für Meinungsfreiheit • Kampf gegen Geldwäscherei • Kampf gegen Kriegsverbrecher • Kampf gegen organisiertes Verbrechen • Kommission für Rechtsfragen und Menschenrechte • Konzernverantwortungsinitiative • Kosovokrieg • Kosovo-Sondergericht in Den Haag • Krebskrankheit • Kritik an Karin Keller-Sutter • Mafia-Jäger • Meschenrechtspreis • Organhandel • Organhandel im Kosovo • OSZE-Kommission Für Menschenrechte • Politisches Vermächtnis • Polizeischutz • Powell • Preis für Menschenwürde • Regierungsratspräsident • schwarze Liste der UNO zu Terrorverdächtigen • Sonderberichterstatter des Europarats • Special Award of Honor • Staatsanwalt des Kantons Tessin • Staatsrat des Kantons Tessin • Ständerat • SwissAward Politik • Tessiner Staatsanwalt • UCK-Führer • unter Personenschutz |
ISBN-10 | 3-03973-043-6 / 3039730436 |
ISBN-13 | 978-3-03973-043-8 / 9783039730438 |
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