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Die Schatten von Prag (eBook)

Kischs erster Fall
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
312 Seiten
Kanon Verlag
978-3-98568-125-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Schatten von Prag -  Martin Becker,  Tabea Soergel
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Prag 1910. Kisch ermittelt in seinem ersten FallPrag ist in Aufruhr. Der Weltuntergang steht bevor. Im Mai 1910 soll die Erde den Schweif des Halley'schen Kometen kreuzen - ein jeder blickt zum Himmel, und die Verbrecher auf Erden haben leichtes Spiel. Egon Erwin Kisch, berühmt-berüchtigter Reporter der »Bohemia«, ermittelt auf eigene Faust in seinem ersten Fall. Er lässt sich sogar als Schwerverbrecher ins Gefängnis sperren, um mit dem Kopf der Prager Unterwelt Portwein zu trinken. Zum Glück bekommt Kisch Hilfe: Vom tschechischen Zöllner Novák, der sich mit Panikattacken herumschlägt, dem schüchternen Sonderling Brodesser und natürlich von seiner kongenialen Partnerin Lenka Weißbach, eigentlich Medizinstudentin, die sich fürs Böse interessiert und wie ihr Kumpel Kisch in den engen Gassen von Prag zu Hause ist. - Der furiose Auftakt einer neuen Krimi-Serie um Egon Erwin Kisch und Lenka Weißbach als Ermittlerduo.»Martin Becker und Tabea Soergel lieben das alte Prag und bringen es zum Leuchten! Eine magische Zeitreise durch die engen Gassen der goldenen Stadt  - und zu einem genialen Ermittler und Reporter, noch dazu mit Humor. Das ist Babylon Praha!« Jaroslav Rudi?

Martin Becker wurde 1982 geboren. Er schreibt Romane sowie Reportagen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er hat in Prag gelebt und die »Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien« geschrieben. Martin Becker lebt mit seiner Familie in Halle (Saale). Gemeinsam mit Tabea Soergel wurde er 2016 mit dem Deutsch-tschechischen Journalistenpreis ausgezeichnet.

Martin Becker wurde 1982 geboren. Er schreibt Romane sowie Reportagen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er hat in Prag gelebt und die »Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien« geschrieben. Martin Becker lebt mit seiner Familie in Halle (Saale). Gemeinsam mit Tabea Soergel wurde er 2016 mit dem Deutsch-tschechischen Journalistenpreis ausgezeichnet.Tabea Soergel, geboren 1983, ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Sie schreibt Rezensionen und Radiofeatures, auch immer wieder zu tschechischen Themen. Sie lebt umgeben von viel zu vielen Büchern in Köln. Gemeinsam mit Martin Becker wurde sie 2016 mit dem Deutsch-tschechischen Journalistenpreis ausgezeichnet.

Die Burg thronte müde über der Stadt. Der Mond blendete die Moldau, damit sie nicht auch noch einschliefe. Selbst die verrufenen Spelunken in den verwinkelten Gassen der Altstadt, letzte Zufluchtsorte für alle, die nicht nach Hause konnten oder wollten: wie leergefegt. Am endlos gewölbten Himmel leuchteten die Sterne stumm um die Wette. Die kälteste Nacht des Jahres 1910 war hell und frostig. Dazu eine gedämpfte Stille, als wäre gerade frischer Schnee auf das Kopfsteinpflaster und die hundert Türme der Stadt gefallen. Nur hier oder da zerschnitt eine spätabendliche Elektrische die eisige Ruhe. Prag hielt Winterschlaf.

Karel Novák fröstelte, obwohl er den zugigen Wind auf der Franzens-Brücke gewohnt war. Der alte Zöllner, klein und mit hagerem Gesicht, hockte in seiner schlecht sitzenden Uniform im steinernen Mauthäuschen. Auf der anderen Seite der Brücke hatte sein Kollege Honza gerade die Läden seines Fensters geschlossen. Wer den Fluss überquerte, musste bis zum Morgengrauen bei Novák bezahlen. Fußgänger zwei, Radfahrer vier, Einspänner zehn, Zweispänner zwanzig Heller. Die Preise waren in dieser Nacht allerdings nicht von Interesse. Selten sollte der Zöllner einen derart einsamen Dienst auf der Brücke verbringen.

Auf dem Weg zur Arbeit suchte Novák wie üblich den Himmel ab. Der Johannesburger Komet hatte vor einigen Tagen seine maximale Helligkeit erreicht. Man sah seinen Besuch allerdings nur als Vorboten des eigentlichen Unglücks: Die Erde, so wurde gemunkelt, würde im Frühjahr den gewaltigen Blausäureschweif des Kometen Halley passieren und darin vergehen. Ganz Prag starrte seit dem Jahreswechsel also nach oben und verlor den Boden unter den Füßen. Überall blühte das Geschäft mit der Himmelspanik. Wer wollte, konnte sich an eilig zusammengezimmerten Ständen von Kanarienvögeln und Wellensittichen die Zukunftskarten ziehen lassen. Je mehr man zahlte, desto besser wurden die Aussichten. In allabendlichen spiritistischen Séancen riefen die Bürgerkinder der Stadt die Geister der Vergangenheit an. Als wären sie von allen guten Geistern verlassen, fand Novák.

Zugegeben, auch er bereitete sich vor. Aber auf seine Art. Im Keller seiner Mietskaserne in Žižkow, der ausufernd wachsenden Vorstadt der tschechischen Arbeiterschaft, grub er in den freien Nächten im hintersten Winkel ein Erdloch. Mit bloßen Händen. Breit und tief genug, um die Apokalypse zu überstehen. Schlimmstenfalls will ich wenigstens ein bequemes Grab haben, schwor er sich, ganz für mich allein. Seine Frau war vor einigen Jahren an Typhus gestorben. Seitdem hatte er nichts mehr zu verlieren, nur das eigene Leben. Und das war ihm lieb. Nach getaner Arbeit verdeckte er sein künftiges Refugium unter Holzbrettern und Lumpen und versteckte auf dem Weg in seine winzige Bleibe die erdverkrusteten Hände in den Hosentaschen. Niemand würde jemals von seinem Versteck erfahren.

In den übrigen Nächten saß Novák auf der Brücke, allein mit der Moldau als Gefährtin. Ihr Plätschern war seine Gesellschaft. Wie er hatte sie alles gesehen und gehört. Wie ihn konnte sie nichts mehr überraschen. Sie litten gemeinsam und wurden zusammen alt. Sie waren immer da. Gerade baute man schon wieder eine neue Badeanstalt unterhalb vom Vyšehrad. Ab dem Sommer würden sich die Besseren und Betuchten dort amüsieren. Novák verstand nicht, warum alle ständig ins Wasser wollten. So sehr er seine Moldau auch liebte: Es wäre ihm nicht eingefallen, auch nur einen Fuß in die vom Abwasser verseuchte Brühe zu setzen.

Stunde um Stunde verging. Keine Menschenseele in Sicht. Wahrscheinlich sparten sich die wenigen Nachtgestalten die Gebühr und nahmen trotz der bitteren Kälte den Umweg über die Karlsbrücke in Kauf, deren Überquerung kostenlos war. Seit einigen Tagen konnte Novák allerdings nur davon abraten. Er glaubte nicht an Gespenster, ehrlich nicht, aber an seinem freien Tag letzte Woche hatte er eine Erscheinung gehabt. Auch an dienstfreien Tagen spazierte er nachts über die Brücken. Schlafen konnte er nicht, und der Fluss beruhigte ihn. Als er aber in jener ebenfalls schon kalten Winternacht über die einsame Karlsbrücke lief, waren plötzlich Schatten auf der Mauer gewesen. Gesichter. Münder. Augen, die ihn anstarrten. In diesem Augenblick hatte er aus unerfindlichem Grund sofort gewusst, wer diese Fratzen waren: die böhmischen Aufständischen. Vor Jahrhunderten hatten die Habsburger sie nach der Schlacht am Weißen Berg beim Blutgericht auf dem Altstädter Ringplatz exekutiert. Ihre abgeschlagenen Köpfe hingen zehn Jahre lang zur Abschreckung in eisernen Käfigen am Brückenturm. Und jetzt waren sie als Schatten zurückgekehrt und stierten ausgerechnet den Zöllner an. Novák hatte aufgeschrien und sich vor Schreck die Hände vors Gesicht gehalten: »Was wollt Ihr von mir?«

Er war weiter gestolpert. Dann ein heftiger Schlag.

»Verschwindet, lasst mich in Ruhe!«

»Was ist denn mit Ihnen los?«, hatte eine strenge Stimme gefragt. Novák war mit einem Polizisten kollidiert. »Ist Ihnen nicht gut, Herr Zöllner?«

»Was ist mit den Schatten?«

»Ruhig Blut, mein Herr.«

Der Polizist hatte Novák beschwichtigend die Schulter getätschelt.

»Haben Sie das auch gesehen?«

»Aber ja, Sie wissen doch, viel Licht, viel Schatten.«

»War wohl in Gedanken«, hatte Novák gemurmelt.

»Lieber nicht mit geschlossenen Augen durch die Weltgeschichte laufen, das kann übel ausgehen! Schönen Abend, der Herr.«

Der Polizist war lachend weitergezogen. Auch Novák hatte seinen Weg fortgesetzt und gewusst, dass der Polizist ihn verhöhnte. Dass er als kauziger Sonderling galt, der einen Spaß vertragen konnte. Schlecht gelaunt und zittrig war er nach Hause gekommen. Vielleicht war ein Erdloch, hatte er beim Einschlafen gedacht, wirklich der beste Ort, um diese verfluchte Stadt zu überleben.

Im Januar hatte Novák Geburtstag gehabt. Er feierte ihn nicht, aber doch hatte er mit Honza, seinem Kollegen von der anderen Seite der Brücke, beim morgendlichen Dienstwechsel noch einen Tee getrunken. Und wieder wollte Honza ihn überreden.

»Eine bequemere Arbeit in der Verwaltung zu bekommen wäre ein Leichtes«, hatte Honza gesagt. »Wie kannst du das nur. Man lebt doch, wenn es hell ist.«

»Du vielleicht«, hatte Novák erwidert. »Du bist noch jung.«

Honza schüttelte den Kopf. Wie Nováks Vorgesetzter aus dem warmen Bureau der Stadtverwaltung. Er hatte den alten Mann allein aus Mitleid von der Brücke holen wollen. Aber der hatte stets die Arme verschränkt und gesagt: »Lasst mir meine Nacht.« Seine Logik: Je weniger Leuten er begegnete, desto geringer die Gefahr. Keine murrende Schlange vor dem Mauthäuschen, keine hitzige Diskussion über Sinn und Unsinn des neumodischen Brückenzolls, der den Reichen lästig war und die Armen um ihre letzten paar Heller brachte. Außerdem hatte Novák nicht mehr die Kraft, jedem drahtigen Kerl hinterherzuhetzen und wegen der lächerlichen Gebühr Leib und Leben zu riskieren. Drüben auf der Elisabethbrücke zum Beispiel hatte es neulich seinen Kollegen Jirka erwischt. Anstelle der Münzen zog ein Verrückter sein Messer aus der Tasche und steckte es dem Zöllner zwischen die Rippen. Aus Wut darüber, gab er später zu Protokoll, dass ihm der Eintritt in eine Wärmestube verwehrt worden war. Der Kerl versauerte jetzt im kalten Pankratzer Gefängnis. Jirka hatte zwar überlebt, aber unter die Menschen traute er sich nicht mehr, der arme Hund.

Der Zöllner lehnte sich zurück und lauschte in die Stille hinaus: In Nächten wie dieser war die Stadt fast wie früher. Brach der Tag erst an, dann blieb wieder kein Stein auf dem anderen. Überall wurde geplant und gebaut. Selbst die Brücke, auf der er hockte, gab es erst seit 1901. Der Kaiser persönlich war aus Wien zur Einweihung gekommen. Die vorher existierende Kettenbrücke hatte den stetig zunehmenden Verkehr nicht mehr bewältigen können, man hatte sie abgerissen. Auch die Josefstadt hatten sie schon dem Erdboden gleichgemacht. Angeblich wegen der Ratten und Seuchen. In Wahrheit, weil Prag bald wie Paris werden sollte. Das hatte Novák in der Zeitung gelesen und gedacht: Was für ein Unsinn. Brauchte es diese monströsen neuen Zinshäuser und ein riesiges Neues Rathaus? Musste die Stadt zu allen Seiten hin auswuchern? Sie lockte sowieso schon mehr und mehr Menschen an, die wie Strandgut am Ufer der Moldau landeten, oft mittellos. Ein bisschen Glück suchend und doch nur ihr Unglück vermehrend.

Prag hatte sich verändert. Nicht zum Guten, wie Novák fand. Die Stadt wurde enger und ungemütlicher. Auch das aufgepeitschte Gerede von Tschechen und Deutschen und ihrem Kampf um die richtige oder die falsche Sprache auf Straßenschildern mochte er nicht mehr hören. Ganz zu schweigen von der Feindseligkeit gegen die Prager Juden. Vor einigen Jahren waren reihenweise die Schaufensterscheiben ihrer Läden zu Bruch gegangen, bis endlich die Soldaten diese verfluchten Nationalisten aufhielten. Hass und Neid und Missgunst gärten weiter. Ein brodelnder Strom im Untergrund der selten goldenen Stadt, stinkend wie der Fluss unter dem Zöllner. Warum konnte man einander nicht einfach in Ruhe lassen? Novák war kein Pessimist, beileibe nicht, aber er hatte Augen im Kopf. Raub und Mord und Totschlag gab es mittlerweile jeden Tag. Und die Polizei kam nicht mehr hinterher. Viele Fälle blieben ungelöst, nur das Offensichtliche wurde bestraft.

Vor dem Morgengrauen trat Novák vor sein Häuschen und schaute hinüber zum Nationaltheater. Zeit für den täglichen Aufruhr. Seit einigen Wochen...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte Babylon Berlin • Bohemia • Donau • Giftmord • Halleyscher Komet • Handschriftenanalyse • Kafka • Literarische Spannung • Nacht • Praha • Tiefenpsychologie • Volker Kutscher • Wien
ISBN-10 3-98568-125-2 / 3985681252
ISBN-13 978-3-98568-125-9 / 9783985681259
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