Parts Per Million (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491794-8 (ISBN)
Theresa Hannig, 1984 geboren, studierte Politikwissenschaft und arbeitete als Softwareentwicklerin, Projektmanagerin und Lichtdesignerin, bevor sie sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Seitdem wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Seraph für ihren Roman »Pantopia«. 2023 erhielt sie den Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung. In ihren Romanen, Kurzgeschichten und der taz-Kolumne 'Über Morgen' schreibt sie über Zukunftsthemen wie KI, Datenschutz, Klimawandel und die Zukunft der Arbeit. Hannig lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Fürstenfeldbruck.
Theresa Hannig, 1984 geboren, studierte Politikwissenschaft und arbeitete als Softwareentwicklerin, Projektmanagerin und Lichtdesignerin, bevor sie sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Seitdem wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Seraph für ihren Roman »Pantopia«. 2023 erhielt sie den Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung. In ihren Romanen, Kurzgeschichten und der taz-Kolumne "Über Morgen" schreibt sie über Zukunftsthemen wie KI, Datenschutz, Klimawandel und die Zukunft der Arbeit. Hannig lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Fürstenfeldbruck.
1
Weite Teile Asiens schwitzen bei rekordverdächtigen Temperaturen
In Ländern in ganz Asien werden Temperaturrekorde gebrochen, denn die brutale Hitzewelle im April hält weite Teile des Kontinents in Atem, und es ist keine Besserung in Sicht.
(CNN, 19. April)
Es ist ein glühend heißer Tag Mitte April, als die Klimaanlage meines Autos beschließt, den Geist aufzugeben. Ich fluche, drücke und drehe an den Armaturen herum, aber es hilft nichts. Statt kalter kommt nur noch heiße Luft. Augenblicklich quillt mir der Schweiß aus allen Poren. Während ich an einer roten Ampel anhalte und im Handschuhfach nach der Betriebsanleitung wühle, überqueren fünf in orangefarbene Warnwesten gekleidete Personen vor mir die Straße, bleiben auf halber Strecke stehen und entrollen ein Transparent, auf dem steht: Gas ist keine Brückentechnologie; außerdem ist das durchgestrichene Piktogramm eines Gebäudes mit rauchendem Schornstein zu sehen. Ich bin erst irritiert, dann geht mein Blick über die Demonstranten hinweg nach oben. Vor uns erhebt sich das Heizkraftwerk München Nord, ein ehemaliges Kohlekraftwerk, das erst kürzlich auf Gas umgestellt wurde und jetzt weiter ausgebaut werden soll. Offenbar gefällt dieser Plan nicht allen.
Die Ampel wird grün. Mein Wagen steht still. Hinter mir beginnen die Autos zu hupen. Ich warte, stelle den Motor ab und beobachte die Situation. Wie geht es jetzt weiter? Muss ich die Polizei anrufen? Werden es die anderen tun? Die Demonstranten setzen sich auf den Asphalt. Rechts und links neben dem Transparent halten sie Pappschilder mit der Aufschrift: »Es gibt keinen Planet B« und »2 Grad Erwärmung = Massensterben«.
Im Seitenspiegel sehe ich drei Männer, die an der Schlange der wartenden Autos vorbei nach vorne laufen. Sie bauen sich vor den Sitzenden auf. Sie diskutieren mit ihnen, doch die Aktivisten bewegen sich nicht von der Stelle.
»Also, ich rufe jetzt die Polizei«, sagt ein grauhaariger Mann und fummelt an seinem Handy herum.
»Nein, lassen Sie mal, das regeln wir so«, sagt ein Zweiter, der eine weiße Arbeitshose samt Jacke trägt, auf der Malermeister Kuhn steht. »Wenn die Polizei kommt, dauert das wieder ewig. Dann stehen wir morgen noch hier rum.«
»Aber dann werden die wenigstens weggesperrt und können morgen nicht wieder die Straße blockieren«, sagt ein dritter Mann, der nach einem Büroangestellten aussieht.
»Ist doch mir scheißegal, was die morgen machen. Ich muss in zwanzig Minuten auf der Baustelle sein. Wenn ich nicht pünktlich bin, dann kriege ich Ärger mit meinen Kunden, und die Lehrlinge denken, sie könnten sich sonst was erlauben. Also, helfen Sie mir jetzt, oder was?« Die beiden anderen zögern, dann nicken sie. Der Maler dreht sich wieder zu den Sitzenden um und brüllt. »Hey, Arschlöcher, jetzt passt mal auf. Entweder ihr verpisst euch sofort, oder ich werde euch Beine machen, ist das klar?«
Die Aktivisten reagieren nicht, starren nur stumm nach vorne und halten sich an ihren Schildern fest.
»Gut, ihr habt es nicht anders gewollt«, sagt der Maler. Er nickt seinen beiden Mitstreitern zu und packt den ersten Aktivisten unterm Arm. Sie ziehen ihn zum Seitenstreifen auf das dürre Gras. Der Büroangestellte reißt ihm das Schild aus der Hand und wirft es wie ein Frisbee die Böschung hinab. Der junge Mann lässt es widerstandslos geschehen.
»Na, das ist doch gar nicht so schwer«, sagt der Maler. Doch während sie zu dritt eine Frau wegschleifen, die den Zipfel des großen Transparents festgehalten hat, rappelt sich der erste Aktivist wieder auf und nimmt ihren Platz ein. Der Maler wirbelt herum und brüllt den Mann in der orangen Weste an: »Was fällt dir ein, du Wichser, hau bloß ab, sonst verpass ich dir eine.« Aber der Aktivist reagiert nicht und starrt nach vorne. Er tut, als würde er den Maler gar nicht beachten, aber ich sehe, wie seine Augen flackern. Er hat Angst, und trotzdem hält er an seinem Plan fest, die Fahrbahn zu blockieren.
Ich schnalle mich los und steige aus, da geht die Faust des Malers auf den Aktivisten nieder. Er trifft ihn direkt an der Schläfe. Der junge Mann verdreht die Augen und kippt zur Seite. Die anderen Demonstranten schreien auf. Der mit dem zweiten Pappschild eilt seinem Kameraden zu Hilfe, was der Maler nutzt, um ihn von der Fahrbahn zu drängen. Jetzt kommen auch noch weitere Leute aus der Warteschlange. Ohne sich abzusprechen, packen sie die Aktivisten an Armen, Beinen oder am Kragen und schleifen sie auf den Grünstreifen. Sie protestieren, versuchen die Autofahrer zu überzeugen, sie loszulassen, wehren sich aber nicht. Eine Frau, die in einigen Metern Abstand gewartet hat, hält die Szene mit dem Handy fest. Das sieht jetzt auch der Maler, kommt mit großen Schritten auf sie zu und grapscht nach dem Telefon. Doch sie ist schneller, dreht sich um und läuft an den wartenden Autos vorbei.
»Schnappt sie euch, das ist eine von denen!«, schreit der Maler, und tatsächlich öffnet sich genau im richtigen Augenblick eine Fahrertür, so dass die junge Frau dagegen prallt und zu Boden geht. Der Fahrer springt heraus und traktiert die Frau mit schweren Sohlen. Auch das Handy bekommt einen Absatz ab und zersplittert.
»Sehr gut«, ruft der Maler triumphierend und hält seinen Daumen nach oben. Dann wendet er sich wieder den übrigen Aktivisten zu, die auf dem Seitenstreifen von den anderen Autofahrern bearbeitet werden. Das alles geht so schnell und ist von einer solchen Brutalität, dass ich gar nicht anders kann, als ganz erstarrt zuzusehen. Irgendwann haben die Autofahrer genug und gehen zurück in die Schlange der Wartenden.
Der Maler bleibt am Grünstreifen stehen und winkt die Wagen durch, die laut hupend und johlend an mir vorbeizirkeln. Ich stehe immer noch in der geöffneten Autotür und halte mich am Rahmen fest.
Wer an mir vorbeifährt, schüttelt den Kopf oder zeigt mir den Vogel. Als die Ampel wieder auf Rot schaltet, gehe ich zum Seitenstreifen.
»Wenn du dich jetzt auch noch hinsetzt, dann schlag ich dir genauso in die Fresse, verlass dich drauf«, zischt mich der Maler an. In seinen Augen brennt ein solcher Hass, dass ich augenblicklich stehenbleibe. Ich sehe seine geballte Faust und zweifle keine Sekunde daran, dass er seine Drohung wahrmachen würde. Hinter ihm sitzen die Aktivisten zusammengekrümmt Arm in Arm auf dem Boden. Sie sehen so jung aus, kaum älter als meine Tochter Finja. Gemeinsam könnten sie den Maler problemlos überwältigen, aber sie bleiben, wo sie sind, genauso geschockt wie ich, weinend, keuchend, Blut in das strohige Gras spuckend. Warum tun sie sich das an? Warum setzen sie sich an einem glühend heißen Vormittag auf die Straße und lassen sich von wütenden Autofahrern verprügeln? Das imponiert mir. Woher nehmen sie den Mut? Die Entschlossenheit? Ich sehe sie, und in mir formen sich die ersten Sätze einer Geschichte.
Seit Monaten habe ich nichts mehr aufs Papier gebracht. Seit dem letzten Roman bin ich ausgebrannt, ausgeschrieben. Und wie jedes Mal und mit jedem Tag, den dieser Zustand anhält, nagt der Zweifel an mir, ob ich je wieder in der Lage sein werde, eine Geschichte, geschweige denn einen Roman zu verfassen. Bisher hat die Magie immer rechtzeitig eingesetzt, aber ich bin zu abgeklärt, um meinen Lebensunterhalt vom Zufall abhängig zu machen. Und statt kreativer Ideen höre ich immer häufiger in meinem Kopf die kleine hässliche Stimme, die sagt: Das war es. Du wirst nie wieder schreiben. Du hast alles gesagt, was du zu sagen hattest. Ab jetzt bist du bedeutungslos.
Jeden Tag, wenn Stefan das Haus verlässt und zur Arbeit fährt, wenn Finja den Bus zur Schule nimmt, setze ich mich an den Laptop in der Hoffnung, dass heute der Tag sein wird, an dem ich ein neues Buch beginne. Und immer wenn die beiden nach Hause kommen und mich fragen, wie es läuft, sage ich: Gut, und niemand fragt, wie viele Seiten ich wirklich geschafft habe. So geht das seit Monaten. Und weil die Verzweiflung mit jedem Tag größer wurde und der Kontostand kleiner, hatte ich mich nach langem Hadern endlich entschlossen, einen Beratungstermin beim Arbeitsamt wahrzunehmen. Man kann ja nie wissen.
Aber jetzt sitzen sie hier: Fünf junge Menschen, die mir wie tragische Helden einer Geschichte erscheinen. Und zwischen uns steht der Antagonist, den ich erst besiegen muss, bevor ich mit dem Elixier einer neuen Geschichte nach Hause zurückkehren darf. Da wird mir bewusst, dass ich die Heldin dieser Szene bin, die jetzt handeln muss. Weil es sonst keine Geschichte gibt. Langsam ziehe ich das Handy aus meiner Tasche und sage: »Ich werde jetzt die Polizei anrufen.«
»Das können Sie sich sparen. Die hier werden keinen Ärger mehr machen«, sagt der Maler.
»Nein«, sage ich. »Ich rufe jetzt an, weil Sie die Leute verprügelt haben und mich bedrohen.«
»So ein Bullshit. Wollen Sie mich verarschen?«
»Nein. Lassen Sie mich jetzt durch?«
»Bist wohl auch so eine linksgrüne Fotze!« Erst glaube ich, er wird mich packen, dann spuckt er auf den Boden und stapft an mir vorbei zu seinem Auto.
Ich halte mich an meinem Handy fest und starre ihm hinterher. Mein Körper ist eiskalt vor Wut und Angst. Wenn er es sich plötzlich anders überlegt, habe ich ihm nichts entgegenzusetzen. Aber er geht weiter. Ich atme tief, um meinen Herzschlag zu beruhigen. Dann springt die Ampel auf Grün. Die Autos drängen vorbei, und auch der Maler verschwindet mit seinem Wagen im Verkehr.
Ich knie mich zu den Aktivisten aufs Gras.
»Alles in Ordnung? Braucht ihr Hilfe? Soll ich einen...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | climate fiction • Dystopie • Klima-Aktivistin • klimabewegung • Klima-Terroristen • Klima-Thriller • Near Future SF • Neue Science Fiction 2024 • Realistische Science Fiction • Seraph • Zukunftsroman |
ISBN-10 | 3-10-491794-9 / 3104917949 |
ISBN-13 | 978-3-10-491794-8 / 9783104917948 |
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Größe: 7,3 MB
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