Grundrisse (eBook)
651 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-8502-1 (ISBN)
Stephan Massimo hat als Komponist Musik zu mehr als hundert Filmen geschrieben und mehrere Alben veröffentlicht. Zwei seiner Songs schafften es in die internationalen Charts. Seit einigen Jahren arbeitet er auch als Autor. Stephan Massimo lebt in München und Massino Visconti
Stephan Massimo hat als Komponist Musik zu mehr als hundert Filmen geschrieben und mehrere Alben veröffentlicht. Zwei seiner Songs schafften es in die internationalen Charts. Seit einigen Jahren arbeitet er auch als Autor. Stephan Massimo lebt in München und Massino Visconti
DA war wieder dieses unbeschreibliche Flimmern, wie vor drei Jahren, als Neil Armstrong und Buzz Aldrin auf dem Mond gelandet waren. Mitten in der Nacht hatte Luis mit Jonah im Garten gelegen und versucht die beiden mit seinem Teleskop im Mare Tranquillitatis zu erkennen. Wochenlang träumten sie davon, Astronauten bei der NASA zu werden und in weniger als einer Woche 384.400 Kilometer weit zu fliegen, nur um ein paar Minuten auf dem Mond herumzuspazieren. Auf der Erde kam man mit dem Auto in derselben Zeit gerade mal von München bis nach Istanbul und wieder zurück, und manchmal – obwohl diese Erkenntnis jeder mathematischen Regel widersprach –, konnte es sogar sechs Jahre dauern, um ein Ziel zu erreichen, das nur zehntausend Meter von dem Ort entfernt lag, an dem man lebte. Er verstand genau, was Albert Einstein herausgefunden hatte. Die Zeit war relativ.
Luis trennte den 239. Tag des Jahres, den 26. August 1972, vom Kalenderblock neben seinem Bett so behutsam ab, als handle es sich um Blattgold. Eines Tages würde er das kleine Stück Papier zusammen mit seiner Eintrittskarte für die Eröffnungsfeier als Beweis vorzeigen können, dabei gewesen zu sein. Er verstaute das Kalenderblatt in der blechernen Sarotti-Dose mit dem kleinen, fahnenschwingenden Mohren, in der er all seine wertvollen Dinge verwahrte. Einen kompletten Satz goldener Shell-Münzen mit den Portraits der Spieler der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft, die im Juni Europameister geworden waren, handsignierte Autogrammkarten von Franz Beckenbauer, Gerd Müller, dem Rennfahrer Jochen Rindt und Muhammad Ali, das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes, das sein Großvater ihm vermacht hatte, fünfzehn gebrauchte Zehnmarkscheine, acht nagelneue Fünfdollar- und sechs Zehndollar Noten, eine Apollo 11 Gedenkmünze, eine NASA Anstecknadel, ein rotes Schweizermesser, die Eintrittskarte für den Boxkampf von Ali gegen Frazier im Madison Square Garden in New York, das goldene Christusamulett, das er zur Kommunion bekommen hatte und an die zwanzig Postkarten von Tante Anne aus den Vereinigten Staaten von Amerika, auf denen die Wolkenkratzer von New York und Chicago abgebildet waren. In so einem Haus, hoch über der Welt, wollte er eines Tages auch wohnen.
Draußen auf der Lamontstraße erklang die Hupe der Goldmedaillenkutsche, wie sie den goldenen Mercedes 450SE nannten, den sein Vater seit zwei Wochen fuhr. Luis sprang auf, als habe er im April 1966 eine Feder verschluckt, die sich jetzt plötzlich ausdehnte. Sechs Jahre lang hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Jetzt war es endlich so weit. Die Olympischen Spiele begannen.
In den sechsundsiebzig Monaten seit der Vergabe der Spiele an München waren Stadien, Sporthallen, der Olympiaturm, der Olympiapark, das Olympiadorf und S-Bahn-Trassen aus mehr als sechzig Baustellen gewachsen. Unter der Erde fuhr jetzt die U-Bahn, wie in einer richtigen Großstadt. Zwischen dem Stachus und dem Marienplatz flanierten die Menschen neuerdings durch eine Fußgängerzone, ohne von Autos oder Straßenbahnen bedrängt zu werden. Alles war überpünktlich fertiggeworden, so wie die Deutschen es am liebsten hatten. München räkelte sich in der Augustsonne. Alles sah herausgeputzt aus. Fahnen mit dem Olympischen Ringen flatterten an Masten im Wind. Aus allen Himmelsrichtungen strömten Menschen dem Olympiapark und den Heiteren Spielen entgegen, mit denen man der Welt zeigen wollte, dass Deutschland nicht mehr die Heimat grimmig dreinblickender Nazis war. Der Mittlere Ring, eine vierspurige Kardinale, führte seit einigen Monaten einmal um die ganze Stadt herum. Wenn man lange genug darauf fuhr, brachte sie einen immer wieder zu den Zeltbauten des Olympiaparks, die Luis immer wieder aufs Neue bewunderte. Sein Vater arbeitete für die Bayerischen Regierung und hatte maßgeblich daran mitgewirkt, die Spiele nach München zu holen. Aus diesem Grund fuhren sie nicht ständig im Kreis um das Wunder herum, sondern steuerten direkt darauf zu. Der Ordner an der Nordseite des Olympiastadions winkte sie durch die geöffnete Schranke.
»Habe die Ehre, Herr Staatssekretär. Gnädige Frau«, sagte der Mann und tippte mit dem Zeigefinger gegen den Schirm seiner Dienstmütze. Angesichts der Menschenmassen – dem Fußvolk, wie sein Vater es nannte –, die auf der Hans-Braun Brücke den Georg-Brauchle Ring kreuzten und sich vor den Toren des Stadions stauten, fühlte Luis sich wie der Kaiser von China. Seine Mutter sah ungläubig über den Rand ihrer Sonnenbrille. Gnädige Frau. Die plötzliche Freundlichkeit der Bayern schien ihr nicht geheuer. Vielleicht verwechselte der Ordner sie ja mit Doris Day. Das war schon öfter vorgekommen, obwohl ihr Mädchennamen weder zu einem Filmstar passte, noch nach München, wo alle Sorten von Preußen unerwünscht waren. Gabi Bühler, geboren 1932 in Detmold, Nordrhein-Westfalen als Gabriele Galaske, sprach glasklares Hochdeutsch, jene in Bayern so verhasste Fremdsprache, die Einheimische verächtlich als geschwollen bezeichneten. Luis wusste genau, was sie durchmachte. Obwohl er in München zur Welt gekommen war, sprach er wie seine Mutter und musste sich bei jeder Gelegenheit als Saupreuße beschimpfen lassen. Warum Kinder immer nur die Muttersprache lernten, und nie die Vatersprache, blieb ihm ein Rätsel, aber insgeheim war er sogar froh darüber. Der bayerische Dialekt bestand aus einer breiigen Melange von Vokalen und halbverschluckten Konsonanten, die übellaunig und hinterwäldlerisch klang. Worte wie Oachkatzlschwoaf (Eichhörnchenschweif), wattschinsen (wahrscheinlich), Hiasl (Depp), Lätschnbene, (Langweiler) oder Glupperl (Wäscheklammer oder auch Finger) würden für seine Mutter auf ewig unaussprechlich und unverständlich bleiben. Ganz zu schweigen von einem Wort wie gehweida, das je nach Lage der Dinge ach, Blödsinn - unglaublich - lass mir meine Ruhe - glaub ich nicht - jetzt komm schon oder bitte hilf mir mal heißen konnte. Seit den bayerisch-französischen Bündnissen und den Kriegen der Napoleonischen Zeit hatte sich eine Ansammlung französischer Worte in die bayerische Sprache geschlichen und eine bajuwarische Färbung angenommen. Einheimische nannten einen Regenschirm Parapluie, die Zimmerdecke Plaffont, den Bürgersteig Trottoir, eine Bettdecke Plumeau, einen Polizist Gendarm, einen Fahrer Chauffeur, und anstatt danke sagten sie merci. Man ärgerte jemanden nicht, sondern schikanierte ihn (chicaner), man blamierte sich (blamer), und foppte man jemanden, tratzte man ihn (tracasser). In der Straßenbahn, die in München Tram hieß, kaufte man keinen Fahrschein, sondern ein Billett und ein gängiger Fluch lautete Sakradi (Sacre dieu). Wer all das nicht beherrschte, blieb – ganz gleich wie lange er schon hier lebte –, ein Fremder. Da waren die Bayern unnachgiebig. Umso mehr grenzte es an ein Wunder, dass es den Ungehobelten, wie seine Mutter die Bayern nannte, gelungen war, die Olympischen Spiele nach München zu holen.
»Da schaust, Gabilein«, sagte sein Vater, und griff nach seiner fabrikneuen, faltbaren Polaroid SX 70, um das überraschte Gesicht von Doris Day für die Ewigkeit festzuhalten. Jedes Mal wenn sie sich über die Ruppigkeit der Bayern beschwerte, versicherte sein Vater ihr, sie seien im Grunde ein freundliches Volk. Eines Tages würde sie es schon noch merken. Jetzt, da dieses von ihr angezweifelte Feingefühl plötzlich zu Tage trat, kam es Luis vor, als habe es schon immer existiert. Seine Mutter musste sich nur noch an das neue München gewöhnen, an die Weltstadt mit Herz, die plötzlich zur großen weiten Welt gehörte. Nur sture Alteingesessenen beharrten noch immer darauf, der Rest der Welt sei ein Vorort von Minga (München), und zu denen wollte sie bestimmt nicht gehören. Sein Vater wedelte mit dem Polaroid, und als es ihm trocken genug schien, schrieb er mit dem Edding Stift, ohne den er das Haus genauso wenig verließ, wie ohne die Kamera, auf den weißen Rand:
Gabilein kann’s nicht glauben - 26.08.72
In den Straßen der Stadt hörte man seit Tagen ein Sammelsurium unterschiedlicher Sprachen, und die sonst so bockigen Münchner gaben sich alle Mühe, jeden Fremden zu verstehen – sogar die Preußen. Mehr als einmal hatten die Lehrer in der Schule Luis und seinen Mitschülern eingetrichtert, während der Spiele höflich und hilfsbereit zu allen Besuchern zu sein. Das kam davon, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, der sechzehn Jahre vor seiner Geburt zu Ende gegangen war, so viel Mist gebaut hatten. Die meistens Filme und Fotografien aus dieser Zeit waren so grau und düster, als hätte es damals auf der Welt noch keine Farben gegeben. Jetzt, im Angesicht der bunten Menschenmenge im Stadion und des blauen Münchner Himmels, wurde Luis fast schwindelig beim Gedanken, was für ein Glück es bedeutete, in die erleuchtete, farbige Welt geboren worden zu sein. Seinem Vater schien es genauso zu gehen. Er sah stolz und zufrieden aus. Man sah ihm nicht an, wie ungemütlich er werden konnte, wenn Luis in seinem Zimmer zu laut Musik hörte oder abends nicht ins Bett wollte. Zweimal hatte es sogar Ohrfeigen gesetzt. Einmal, als er mit dem Ball das Ladenfenster der Bäckerei Tuttlinger zerschossen hatte und das zweite Mal, als er nach dem Fußballspielen an die...
Erscheint lt. Verlag | 25.7.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7565-8502-6 / 3756585026 |
ISBN-13 | 978-3-7565-8502-1 / 9783756585021 |
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