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Die schönsten Wintermärchen (eBook)

Reclam Taschenbuch
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
189 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962300-9 (ISBN)

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Die schönsten Wintermärchen -
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Die schönsten Märchen für die kalte Jahreszeit  Was gibt es an einem dunklen Winterabend Schöneres, als sich warm eingemummelt von Märchen in fantasievolle Abenteuer entführen zu lassen? Gerade die kalte Jahreszeit mit ihren ganz eigenen Sagengestalten, dem zauberhaften Schnee und ihrem strahlenden Höhepunkt, der Weihnachtszeit, lädt seit jeher zum Geschichtenerzählen und -genießen ein. Ob alte Bekannte von den Brüdern Grimm und Hans Christian Andersen oder neuere Erzählungen von Astrid Lindgren und Oscar Wilde - die Märchen in dieser Sammlung erzählen von bitterer Kälte, warmer Liebe und Licht in der Dunkelheit. • Von Hans Christian Andersen bis Astrid Lindgren • Ein Lesebuch für die gemütlichste Zeit des Jahres • Zum Vorlesen für die ganze Familie

Selma Lagerlöf

Die Legende von der Christrose


Die Räubermutter, die in der Räuberhöhle oben im Göingewald lebte, war eines Tages auf Bettelfahrt unten in der Ebene losgezogen. Der Räubervater selbst war vogelfrei und traute sich nicht, den Wald zu verlassen, er begnügte sich damit, aus dem Hinterhalt Reisende zu überfallen, die sich in das Waldgebiet wagten. Doch zu der Zeit gab es nicht viele Reisende im nördlichen Schonen. Wenn der Mann also mehrere Wochen lang kein Glück bei seiner Jagd gehabt hatte, machte sich die Ehefrau auf den Weg. Sie hatte ihre fünf Kinder bei sich, und jedes Kind trug zerrissene Lederkleider und Rindenschuhe und auf dem Rücken einen Sack, der genauso groß war wie der Knirps selbst. Sobald sie ein Haus betrat, traute sich niemand, ihr das vorzuenthalten, was sie haben wollte, denn sie scheute sich nicht, in der nächsten Nacht zurückzukehren und Feuer zu legen, wenn sie nicht gut genug empfangen worden war. Die Räubermutter und ihre Kinder waren schlimmer als ein Wolfsrudel, und viele hätten nicht übel Lust gehabt, sie aufzuspießen, doch dazu kam es nie, weil man wusste, dass der Alte noch oben im Wald hauste, und er wüsste schon, wie man sich rächt, wenn seinen Kindern und seiner Frau etwas zugestoßen wäre.

Als nun die Räubermutter bettelnd von Hof zu Hof ging, kam sie eines schönen Tages nach Öved, wo zu der Zeit ein Kloster lag. Sie klingelte an der Klosterpforte und begehrte etwas zu essen, und die Torwache öffnete eine kleine Luke im Tor und reichte ihr sechs runde Brote, eines für sie und eines für jedes ihrer Kinder.

Während die Mutter ruhig am Tor wartete, liefen die Kinder umher. Und nach einer Weile kam einer der Jungen zu ihr und zupfte an ihrem Kleid als Zeichen, dass er etwas gefunden hatte und sie kommen und es anschauen sollte, und die Räubermutter ging sofort mit ihm.

Das ganze Kloster war von einer hohen, dicken Mauer umgeben, doch der Junge hatte trotz allem eine kleine Hinterpforte gefunden, die nur angelehnt war. Als die Räubermutter dort ankam, schob sie augenblicklich das Türchen auf und trat, ohne um Erlaubnis zu fragen, ein, so wie sie es immer tat.

Öveds Kloster wurde zu der Zeit von Abt Hans geleitet, einem kräuterkundigen Mann. Er hatte innerhalb der Klostermauern einen kleinen Kräutergarten angelegt, und in diesen drang die Räubermutter nun ein.

Beim ersten Anblick war die Räubermutter derart erstaunt, dass sie am Eingang stehenblieb. Es war Hochsommer, und Abt Hans’ Kräutergarten stand so voll in Blüte, dass es vor Blau, Rot und Gelb nur so funkelte, wenn man ihn betrachtete. Doch bald breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und sie lief einen schmalen Gang zwischen vielen kleinen Blumenbeeten entlang.

Im Garten lief ein Laienbruder umher und zupfte Unkraut. Er war es gewesen, der die Pforte in der Mauer hatte halb offen stehen lassen, um Melde und Quecke auf den Abfallhaufen draußen zu werfen. Als er die Räubermutter mit ihren fünf Kindern im Schlepptau im Kräutergarten entdeckte, lief er sofort zu ihnen und befahl ihnen, sich zu trollen. Doch die Alte ging weiter zielstrebig geradeaus. In alle Richtungen warf sie Blicke, schaute mal auf die steifen weißen Lilien, die sich auf einem Beet ausbreiteten, mal auf das Efeu, das die Klostermauern hochkletterte, und kümmerte sich nicht im Geringsten um den Laienbruder.

Der Laienbruder nahm an, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Er wollte sie am Arm packen, um sie Richtung Ausgang zu drehen, doch als die Räubermutter seine Absicht erkannte, warf sie ihm einen Blick zu, der ihn mehrere Schritte zurückweichen ließ. Bisher war sie gebückt gelaufen, von dem Bettlersack nach unten gedrückt, doch jetzt richtete sie sich zu voller Größe auf.

»Ich bin die Räubermutter aus dem Göingewald«, sagte sie. »Fass mich an, wenn du dich traust!« Und es war offensichtlich, dass sie, als sie das sagte, ebenso sicher war, in Ruhe ihren Weg fortsetzen zu können, als wenn sie erklärt hätte, sie sei die Königin von Dänemark.

Doch der Laienbruder wagte es dennoch, sie aufzuhalten, auch wenn er jetzt, nachdem er erfahren hatte, wer sie war, vorsichtiger mit ihr sprach.

»Du musst wissen«, sagte er, »das hier ist ein Mönchskloster, und keiner Frau im ganzen Land ist es erlaubt, ins Innere der Mauern zu treten. Wenn du nicht deines Weges gehst, dann werden die Mönche wütend auf mich werden, weil ich vergessen habe, die Tür zu verschließen, und sie werden mich möglicherweise aus dem Kräutergarten und dem Kloster werfen.«

Doch solches Flehen war vergebliche Liebesmühe bei der Räubermutter. Sie ging weiter entlang des kleinen Rosenquadrats und betrachtete den Ysop mit seinen violetten Blüten und das Geißblatt, das voll mit gelbroten Blütenquasten hing.

Da wusste der Laienbruder keinen Rat mehr, er lief ins Kloster und holte Hilfe.

Er kam zurück mit zwei kräftigen Mönchen, und die Räubermutter erkannte sofort, dass es jetzt ernst wurde. Sie stellte sich breitbeinig auf den Weg und schrie mit schriller Stimme, welch schreckliche Rache sie an dem Kloster nehmen werde, wenn man ihr nicht erlaube, so lange in dem Kräutergarten zu bleiben, wie sie wollte. Doch die Mönche schienen sie nicht zu fürchten und dachten nur daran, sie schnellstmöglich zu vertreiben. Da stieß die Räubermutter schrille Schreie aus, warf sich auf sie und kratzte und biss, und ihre Kinder taten es ihr gleich.

Die drei Männer erkannten bald, dass sie ihnen überlegen war. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ins Kloster zurückzugehen und Verstärkung zu holen.

Als sie den Gang entlangliefen, der ins Kloster führte, begegneten sie Abt Hans, der herbeigeeilt war, um zu erfahren, was das für ein Lärm war, der aus dem Kräutergarten kam. Sie mussten zugeben, dass die Räubermutter aus dem Göingewald ins Kloster eingedrungen war und dass sie nicht allein imstande gewesen waren, sie wieder zu vertreiben, sondern dafür Verstärkung brauchten.

Doch Abt Hans warf ihnen vor, Gewalt angewandt zu haben, und verbot ihnen, weitere Hilfe zu holen. Er schickte die beiden Mönche zurück an ihre Arbeit, und obwohl er ein alter, gebrechlicher Mann war, nahm er ausschließlich den Laienbruder mit sich in den Kräutergarten.

Als Abt Hans dort ankam, lief die Räubermutter wie zuvor zwischen den Blumenbeeten hin und her. Und er konnte sich nicht genug über sie wundern. Er war überzeugt davon, dass sie nie zuvor in ihrem Leben einen Kräutergarten gesehen hatte. Und dennoch ging sie von einem Beet zum nächsten, die alle mit den verschiedensten fremden und seltenen Blumen bepflanzt waren, und betrachtete sie alle, als wären sie alte Bekannte. Es sah so aus, als kannte sie Immergrün, Salbei und Rosmarin. Bei einigen schmunzelte sie, bei anderen schüttelte sie den Kopf.

Abt Hans liebte seinen Kräutergarten so sehr, wie man etwas nur lieben kann, das irdisch und vergänglich ist. Und wie wild und verkommen diese fremde Frau auch aussah, so musste er sich doch eingestehen, dass es ihm imponierte, dass sie mit drei Mönchen gekämpft hatte, um in Ruhe den Garten Eden betrachten zu können. Er trat zu ihr und fragte ruhig, ob ihr der Kräutergarten gefalle.

Die Räubermutter drehte sich abrupt zu Abt Hans um, von dem sie nur Hinterhalt und Überfall erwartete, doch als sie sein weißes Haar und seinen gebeugten Rücken sah, antwortete sie ganz friedlich:

»Beim ersten Blick auf den Garten dachte ich, ich hätte nie etwas Schöneres gesehen, aber jetzt weiß ich, dass er nichts ist im Vergleich zu einem anderen, den ich kenne.«

Abt Hans hatte sicher eine andere Antwort erwartet. Als er hörte, dass die Räubermutter einen Garten gesehen hatte, der schöner war als seiner, bildete sich eine leichte Röte auf seinen faltigen Wangen.

Der Laienbruder, der neben den beiden stand, wollte augenblicklich die Räubermutter zurechtweisen.

»Das ist der Abt Hans«, erklärte er, »der selbst mit großem Eifer und viel Mühe die Blumen für seinen Kräutergarten in Fern und Nah gesammelt hat. Wir alle wissen, dass es in ganz Schonen keinen prächtigeren Garten gibt, und es steht dir, die du das ganze Jahr im wilden Wald lebst, nicht zu, seine Arbeit zu schulmeistern.«

»Ich will mich gar nicht zum Schulmeister machen, weder über ihn noch über dich«, sagte die Räubermutter, »ich sage nur, wenn ihr den Garten sehen könntet, an den ich denke, ihr würdet alle Blumen, die hier stehen, ausreißen und sie wie Unkraut wegwerfen.«

Doch der Kräutergartenhüter war kaum weniger stolz auf die Blumen als Abt Hans selbst, und als er diese Worte hörte, fing er an höhnisch zu lachen.

»Mir ist schon klar, dass du nur so redest, um uns zu ärgern. Das muss ja ein schöner Garten sein, den du im Göingewald zwischen Kiefern und Wacholder angelegt hast. Ich möchte meine Seele verwetten, dass du noch nie zuvor in den Mauern eines Kräutergartens gewesen bist.«

Die Räubermutter wurde rot vor Wut, dass ihr so wenig geglaubt wurde, und sie rief aus:

»Es kann schon sein, dass ich noch nie zuvor in den Mauern eines Kräutergartens gewesen bin, doch ihr Mönche, die ihr doch heilige Männer seid, ihr solltet wissen, dass der große Göingewald sich in jeder Weihnachtsnacht in einen Garten Eden verwandelt, um die Stunde der Geburt unseres Herrn zu feiern. Wir, die im Wald leben, haben es jedes Jahr miterlebt, und in diesem Garten habe ich so herrliche Blumen gesehen, dass ich nicht gewagt habe, meine Hand zu heben, um sie zu pflücken.«

Der Laienbruder wollte etwas erwidern, doch Abt Hans gab ihm ein Zeichen, zu schweigen. Denn Abt Hans hatte in seinen Kindertagen davon gehört, dass sich der...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2024
Reihe/Serie Reclam Taschenbuch
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familie • Gemütlichkeit • Geschenk • Geschenkbuch • Hans Christian Andersen • Klassiker • klassiker taschenbuch • Lesebuch • Lesen • Literaturklassiker • Märchen • Märchensammlung • Oscar Wilde • Taschenbuch • Tove Jansson • Vorlesebuch • Vorlesen • Vorlesezeit • Weihnachtsmärchen • Wintermärchen
ISBN-10 3-15-962300-9 / 3159623009
ISBN-13 978-3-15-962300-9 / 9783159623009
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