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Biotopia (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
432 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-0001-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Biotopia -  Sascha Reh
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Ein packender Roman über eine Familie zwischen individueller Freiheit, zukunftsfähiger Gesellschaft und Profit.  Ein eigenartiger Zufall, dass ausgerechnet Malu Jacobsen damit beauftragt wird, die Menschenrechtslage in Biotopia, der hochmodernen Vertikalfarm auf dem Tempelhofer Feld, zu untersuchen. Denn hier lebt ihre Tochter Golda, die sie seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat, den Traum von der gemeinwohlorientierten Agrarproduktion. Biotopia versorgt seit den 2020er Jahren ganz Berlin mit ökologisch produzierten Lebensmitteln, und doch ist sich Malu sicher: Die Farm ist nicht nur der hippe Gemeinschaftsgarten, wie es auf den ersten Blick und in den Instagram-Reels scheint. Schließlich halten sich seit Jahren hartnäckig Gerüchte, hier würden Geflüchtete und Staatenlose gegen ihren Willen als unbezahlte Arbeitskräfte festgehalten. Welche Rolle spielen dabei die Betreiberfirma Sulaco oder der Tech-Konzern Ping, dessen digitaler Assistent Watson mittlerweile allgegenwärtig ist? Als Malus Nachforschungen immer deutlicher ihre Tochter Golda belasten, wird ihr klar, dass ihre Mission in Biotopia womöglich nicht die der Aufklärung ist ...  In einem spannungsgeladenen dystopischen Szenario denkt Sascha Reh Entwicklungen unserer Gegenwart und die Auswirkungen der technologischen Fremdsteuerung auf den einzelnen Menschen konsequent zu Ende.

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie bei Berlin.

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie bei Berlin.

»Die sehr weitreichenden Fragen, die Sascha Reh in seinen Romanen verhandelt, sind in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wahrscheinlich nie plastischer inszeniert worden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erster Teil: Slave City


1 Das Essen


Natürlich hatte Malu von der Störung gehört, immerhin war sie der Grund, weswegen die letzte Lieferung der Farm ausgeblieben war und sie das geplante Abendessen eine Nummer kleiner ausfallen lassen musste. Absagen kam nicht infrage, es war schließlich ihr Freitag; der Wein war kalt gestellt, und Idi hatte aus den Lebensmitteln, die noch im Schrank waren, ein paar Kanapees gezaubert.

Sie hatte vorgehabt, Watsons Newsticker den ganzen Abend ausgeschaltet zu lassen, doch ihr wurde schnell klar, dass das angesichts der Ereignisse unrealistisch war. Nach der Rauchsäule, die sie bei Sonnenuntergang am Himmel gesehen hatte, war es erleichternd gewesen zu hören, dass die Ursache lediglich ein technischer Zwischenfall in einer der Vertikalfarmen gewesen sein sollte, der umgehend behoben werde. Aber sie wusste, dass die Sache von einem anderen Benutzerprofil aus ganz anders klingen konnte.

»Ich habe gehört, es kommen jetzt Leute raus«, sagte Vanessa. Malu bemerkte, wie Niklas angesichts ihrer Sensationslust unruhig auf seinem Barhocker nach vorn rutschte und sein halbvolles Glas abermals füllte.

Vanessa sprach unbeirrt weiter. »Watson!« Das akustische Signal zeigte an, dass er ihre Stimme erkannt und ihren Account freigeschaltet hatte.

»Ich weiß nicht, ob Malu das recht ist«, versuchte Niklas leise einzuwenden, so als würde Malu es nicht mitbekommen, wenn er nur die Stimme genug senkte.

»Aber sie muss das doch auch wissen«, beharrte Vanessa und wies Watson an, die neuesten Meldungen zusammenzustellen. »Gerade sie!«

Malu nahm die Servierteller aus dem Kühlschrank und tat so, als würden die beiden sich nicht in ihrer Anwesenheit über sie unterhalten. Eine Möwe kreischte. Sie hatte die Leinwände des Landschaftssimulators heruntergelassen und Cornwall eingestellt, mit gleichbleibender Abendröte und tosender Brandung jenseits der schroffen Klippen – strömungsmechanisch total übertrieben, aber eindrucksvoll.

Watson öffnete einen Bildrahmen zwischen den Wolken. Vor den Toren des Tempelhofer Feldes hatten Freiwillige ein improvisiertes Erstversorgungszelt errichtet, mit Decken und Thermoskannen und einem Topf Suppe. Die Temperatur war in den letzten Nächten bereits unter null gefallen. Die Bilder zeigten bangende und in Solidarität geeinte Gesichter; die anrührende Musik, die Watson unterlegte, ließ keinen Zweifel daran, dass denjenigen, die Biotopia verlassen wollten, ein warmer Empfang bereitet würde.

»Lasst uns essen«, sagte Malu. »Auch wenn es leider kein frisches Gemüse gibt. Aber Idi hat ein paar Dips gemacht.«

»Wieder dieses köstliche Hummus?«

»Ja, und irgendwas aus Linsen und Bohnen, das aussieht wie …« Malu stellte die Schale auf den Tresen und nahm das Wachstuch herunter. Die Masse duftete nach Thymian und Zitrone, war aber von einer Farbe und Konsistenz, die sie von einer näheren Beschreibung absehen ließen.

Vanessa konnte es nicht lassen. »Watson, kannst du ein paar Bilder von drinnen zeigen? Drohnenaufnahmen oder so was?«

»Es sind leider keine Drohnenaufnahmen verfügbar«, sagte Watson. Vanessa war enttäuscht und drängte Niklas, sich seinerseits einzuloggen. Malu ahnte, dass auch Niklas keine Freigabe für Drohnenbilder hatte. Sie alle verfügten über solide Rücklagen aus ihren früheren Beschäftigungen und verdienten sich hier und dort sogar ein kleines Zubrot – Vanessa gab Geigenstunden, Niklas Kurse in fraktalem Holzschnitt –, doch die Auswahl an medialen Informationen, zu denen sie Zugang hatten, war beschränkt.

Niklas wehrte ab. »Ich will jetzt keine Nachrichten. Wir wollen Wein trinken und Kanapees essen!«

»Du trinkst doch schon. Willst du nicht wissen, was da auf uns zukommt?«

»Wenn du mich so fragst … nein.«

Schließlich gab er doch nach. Gemäß seiner Präferenzen präsentierte Watson die Explosion, die der Rauchsäule vorausgegangen war, aufgezeichnet mit wackligen Bildern von Anwohnern, die er mit einem selbstgenerierten Kommentar versah, angelehnt an den nüchternen Sprachgestus eines Nachrichtensprechers: Einsatzkräfte der Sicherheitsfirma Konterbauer zögen sich vor den Zufahrten zusammen, Drohnen platzierten medizinische Ausrüstung im Innenhof des ehemaligen Abfertigungsgebäudes. Ein verletzter Sicherheitsmann mit einem blutigen Verband um den Kopf wurde gezeigt. »Beobachterinnen befürchten, dass es auf dem Gelände von Biotopia unter spirituellen Anhängern des geistigen Führers Ambrosius van Aa zu einem Massenselbstmord kommen könnte wie zuletzt in …«

»Genug, Watson!« Niklas schrie beinahe, er wirkte geschockt. »Malu, es tut mir leid, ich wusste, dass das eine ganz beschissene … Das muss ja jetzt schrecklich für dich sein.«

Malu stellte Teller und Besteck auf dem Tresen ab. Sie war ganz ruhig. Statt zu antworten, rief sie nun selber Watson auf. Das akustische Signal ertönte. »Watson, was muss ich über Biotopia wissen, Stand jetzt?«

Watsons Bericht – nüchtern und sachlich, wie sie es am liebsten hatte – beschränkte sich auf die Stellungnahmen der drei für Biotopia verantwortlichen Parteien: der Betreiberfirma Sulaco, des Sicherheitsdienstes Konterbauer sowie des Berliner Senats für Wirtschaft und Soziales, der die Aufsicht über Biotopia hatte. Ihre jeweiligen Kommentare waren kurz und wolkig und nichtssagend. Man beschränkte sich auf die Definitionsfrage, ob es sich um eine technische Betriebsstörung oder einen Störfall handle, was hinsichtlich der Haftungsfrage vielleicht bedeutsam, aber auch ziemlich langweilig klang.

»Danke, Watson. Ich denke, das reicht.« Watson gab dem südenglischen Abend wieder seinen Himmel zurück. Malu wandte sich an ihre beiden Gäste.

»So viel zu Watsons Dreifaltigkeit. Immerhin wissen wir jetzt, dass wir nichts wissen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und hob ihr Glas. »Darauf trinke ich.«

»Ich bewundere, dass du so ruhig bleiben kannst, Malu. Wirklich.«

»Ist ja gut jetzt, Vanessa«, sagte Niklas.

»Ich glaube nicht an diesen Slave-City-Mist. Und an einen Bombenanschlag von Fanatikern glaube ich auch nicht. Wie schmeckt euch der Wein?«

Alle tranken pflichtschuldig bis bereitwillig.

»Diese Frau vom Senat«, sagte Vanessa. »Sander. Warst du nicht mit der auf der Uni?«

»Ja, Elena. Die habe ich ewig nicht mehr gesehen.«

Vanessa schien die Sache keine Ruhe zu lassen. »Die weiß doch bestimmt, was da vor sich geht. Willst du die nicht mal …«

»Warum kannst du nicht endlich Ruhe geben damit«, sagte Niklas.

»Ihr könnt von Glück reden, dass ihr nicht mehr zusammen seid«, sagte Malu.

»Wo ist eigentlich Konrad?« Niklas versuchte verzweifelt, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Hat er noch diesen Haartick?«

»Darüber möchte ich lieber nicht reden.« Malus Sohn rasierte sich seit ein paar Monaten sämtliche Haare inklusive der Augenbrauen. Er sah aus wie ein Alien, war aber nicht von der Überzeugung abzubringen, dass er damit einen Trend ins Leben rief, dem in Kürze alle hinterherlaufen würden. Er war seit drei Tagen volljährig. Schon an seinem Geburtstag hatte er versucht, im Kaleidoskop eingelassen zu werden, dem angesagtesten Club der Stadt, dem Club mit der härtesten Tür. Er war abgewiesen worden. Trotzdem war er die ganze Nacht weggeblieben und am Morgen zugedröhnt nach Hause gekommen. Den ganzen nächsten Tag war er in seinem Zimmer geblieben und hatte geschlafen. Offenbar nahm er heute Abend Anlauf für einen weiteren Versuch.

Es blieben genügend andere Themen. Niklas erzählte von einer neuen Ausstellung im Gropiusbau, in der es keine Exponate gab. Gar keine.

»Genau genommen sind die Besucher die Exponate.«

Malu verstand es so, dass die Besucher sich gegenseitig betrachten und dabei kontemplative Erlebnisse haben sollten. Niklas erzählte ausgiebig von einer sehr eleganten Frau mit einem Kind, die beide in Zeichensprache miteinander kommunizierten. Außerdem sei da dieser Bodybuilder mit dem Muscleshirt aus Spitze gewesen. Und die offenbar bewusstlose Person in dem selbstfahrenden Rollstuhl. Niklas war begeistert vom »Minimalismus« des kuratorischen Ansatzes.

»Ich wurde auch rezipiert«, fügte er hinzu.

»Es hat wohl keinen Sinn zu fragen, welche Bedeutung du dir zuschreiben würdest?«, fragte Malu.

»Das Konzept ist von irgendeinem Kollektiv«, sagte Niklas.

Vanessa hatte kürzlich ihre erste Demissionsberatung gehabt. Sie war weniger eingeschüchtert als vielmehr beeindruckt von dem geräumigen, nobel eingerichteten Büro, in dem sie dazu überredet werden sollte, vorzeitig »den goldenen Löffel abzugeben«, wie sie es nannte.

»Den schwarzen Humor kannst du dir nur leisten, weil sie noch nicht ernst machen«, sagte Niklas.

»Ich wundere mich sowieso, dass da noch richtige Menschen sitzen«, sagte Malu. »Ist das eigentlich ein Ausbildungsberuf? Demissionsberaterin?«

»Es ist eine zertifizierte Weiterbildung«, sagte Vanessa ernst.

»Watson könnte das sicher genauso gut«, sagte Niklas.

»Es gibt extra Institute dafür«, sagte Vanessa.

»Kann sein«, sagte Malu und goss sich Wein nach, »aber sich von einem Computer, der nie gelebt hat, zum Sterben überreden zu lassen, ist...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arbeit • Ausbeutung • Berlin • Dystopie • Tempelhofer Feld • Zukunft
ISBN-10 3-7317-0001-8 / 3731700018
ISBN-13 978-3-7317-0001-2 / 9783731700012
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