Die Spielerin (eBook)
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491716-0 (ISBN)
Isabelle Lehn, geboren 1979 in Bonn, lebt heute in Leipzig und schreibt erzählende und essayistische Prosa. Sie ist promovierte Rhetorikerin, Autorin des mehrfach ausgezeichneten Debütromans »Binde zwei Vögel zusammen« und zuletzt des Romans »Frühlingserwachen«. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis für ihren Aufsatz »Weibliches Schreiben« (S. Fischer hundertvierzehn), der sich mit der geschlechtsspezifischen Rolle von Autor:innen im Literaturbetrieb auseinandersetzt.
Isabelle Lehn, geboren 1979 in Bonn, lebt heute in Leipzig und schreibt erzählende und essayistische Prosa. Sie ist promovierte Rhetorikerin, Autorin des mehrfach ausgezeichneten Debütromans »Binde zwei Vögel zusammen« und zuletzt des Romans »Frühlingserwachen«. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis für ihren Aufsatz »Weibliches Schreiben« (S. Fischer hundertvierzehn), der sich mit der geschlechtsspezifischen Rolle von Autor:innen im Literaturbetrieb auseinandersetzt.
Lehn zeigt ihre Hauptfigur als eine Frau, die [...] schlicht nicht gesehen wird und genau deshalb so gut darin ist, alle hinters Licht zu führen.
[...] eine atemberaubende literarische Mutmaßung über eine Frau, deren Unscheinbarkeit ihr offensichtlich in die Karten spielte.
Damit liefert die Künstlerin ein Psychogramm von höchster Güte, wie es einst den bedeutendsten Vertretern der Wiener Moderne von [...] Schnitzler bis hin zu [...] Broch gelang.
ein atemberaubender Roman
eine große Lust
Am Ende des Finanzkrimis erscheint alles perfekt verknüpft. Jeder wird benutzt werden, ohne es zu durchschauen.
Was für ein Stoff! Was für ein Roman!
Für mich eines der besten Bücher des Jahres!
unheimlich komisch
Erster Teil (2004 bis 2007)
1
Wo also beginnen, oder besser: mit wem, solange A. sich den Gesetzen des Schweigens verpflichtet? Womöglich mit Thorsten Aichinger, denn Thorsten Aichinger ist ein fassbarer Mensch. Aufrichtig ist er, sagt, was er denkt, manchmal vielleicht etwas bräsig, wie seine Frau es ihm im Streit gerne vorwirft, als sie im Frühjahr 2004 zum zweiten Mal schwanger ist und noch etwas schneller als sonst die Geduld verliert.
Dennoch ist nichts falsch an Thorsten Aichinger. Auf ihn ist Verlass, selbst wenn es etwas weit hergeholt scheint, ihn A.s Kollegen zu nennen, und am 23. Februar 2004, jenem Datum, das Thorsten Aichinger für den Anfang dieser Geschichte hält, weiß er nicht einmal, dass A. existiert. A. wiederum wird von seiner Existenz nie erfahren, und auch später, als er ihren Prozess verfolgt, wird sie ihn nicht im Publikum wahrnehmen. Er ist einer von vielen, er bleibt irgendwer, und die einzige Verbindung, die im Februar 2004 zwischen A. und Thorsten Aichinger besteht, ist ihr gemeinsamer Arbeitgeber. Eine Presseagentur, Deutsche Nachrichtenagentur, kurz DNA. Thorsten Aichinger arbeitet als Redakteur im Stuttgarter Landesbüro und A. in der Berliner Zentrale, sie ist Telefonistin im Kundendienst. Wie hieß sie noch gleich? Andrea, Alexandra, Annette? Thorsten Aichinger ist sich nicht sicher, obwohl er häufig an diese Frau zurückdenkt, ohne die wohl alles anders gekommen wäre. A., deren Name plötzlich auf den Fluren kursierte. A., die sich einwickeln ließ und für all das verantwortlich schien, was kurz darauf den Bach runterging.
So sah er das seit 2004, wie die meisten seiner Kollegen, und diese Deutung hat Thorsten Aichinger, der inzwischen nicht mehr in Stuttgart lebt und seine Kinder nur noch in den Schulferien sieht, nie hinterfragt. Er erzählt dennoch nicht gerne davon, was geschehen ist. Thorsten Aichinger will sich nicht als Opfer begreifen, denn wenn sein Leben schon vor die Hunde gehen musste, dann wenigstens aus gutem Grund – und nicht wegen A., für die er damals sogar Mitleid empfand. A., in ihrer grenzenlosen Naivität und der verzweifelten Hoffnung, in späten Jahren noch zu Geltung zu kommen, erschien ihm bemitleidenswert. Und dadurch fühlte er sich selbst noch bemitleidenswerter.
So denkt Thorsten Aichinger, und trotzdem ist er kein schlechter Kerl. Auch dass er den 23. Februar 2004 für den Anfang dieser Geschichte hält, obwohl alles viel weiter zurückreicht, kann man ihm schwerlich verübeln. Und wer wollte ihm vorwerfen, dass er sich für die Hauptfigur in seinem Leben hält, anstatt für ein haardünnes Fädchen in einem taudicken Strang, dessen Umfang er kaum überblickt? Na also. Thorsten Aichinger ist unser Mann. Und wenn wir schon mit ihm beginnen, dann schulden wir ihm etwas Respekt und machen den Anfang am 23. Februar 2004, als er das Memo der Berliner Geschäftsleitung las und sich vornahm, nicht den Kopf zu verlieren.
Dafür war er schließlich hier. Dafür bezahlte man ihn: dass er seine Arbeit erledigte, erst einmal abwartete, wenn andere überreagierten. Mit dem neuen Jahrtausend hatte auch seine Karriere an Fahrt aufgenommen, und in den vier Jahren, die er inzwischen als Redakteur fest angestellt war, hatte er oft genug bewiesen, dass ihn so leicht nichts aus der Fassung brachte. Selbst wenn die Hütte brannte. Und jetzt brannte die Hütte, und sein Schreibtisch stand mittendrin.
Thorsten Aichinger las das Memo der Geschäftsleitung ein zweites und drittes Mal und glich es mit den Gerüchten ab, die bereits durchgesickert waren. Es gebe keinen Grund zur Besorgnis. Für die einhundertsechzig Redakteure und rund zweihundert Freien in den fünf Landes- und zwanzig Korrespondentenbüros laufe das Tagesgeschäft wie gehabt. Die über dreihundert Kunden der Nachrichtenagentur würden auch weiterhin mit Texten beliefert, tagesaktuell und in unveränderter Qualität. Und so weiter und so fort.
Thorsten Aichinger kannte die Zahlen. Und er wusste, dass nichts besorgniserregender war als das Versprechen, keinen Anlass zur Sorge zu haben. »Der Kanzler spricht dem Minister sein uneingeschränktes Vertrauen aus.« Sätze wie diesen hatte er oft genug in Meldungen wiedergegeben, um zu wissen, dass es nur noch eine Frage der Zeit wäre, bis der Minister seinen Hut nehmen müsste. Und trotzdem: Für Panik war er schlicht nicht der Typ.
Seine Kollegen standen in Gruppen zusammen. Er konnte hören, wie sie lauter wurden, doch Thorsten Aichinger blieb an seinem Platz, druckte das Memo aus, suchte in der Schublade des Rollcontainers nach einem Textmarker und hob Begriffe wie »vorerst«, »weiterhin« und »unverändert« hervor. Denn »bis auf weiteres« war er Journalist, und deshalb war es nicht seine Aufgabe, das Gesagte von den Wörtern zu trennen und Spekulationen darüber anzustellen, was in den Leerstellen mitschwingen könnte. Der Sprache auf diese Art zu misstrauen, widersprach dem Habitus seines Denkens, und wenn die Logik eines Denkens ein Wind war, der jemandem in den Rücken blies und eine Reihe von Stößen und Erschütterungen auslöste, dann bestand die Logik seines Denkens darin, sich von diesem Wind nicht erschüttern zu lassen und Halt in etwas Greifbarem zu finden.
Er gab »Bedrohung« in die Suchmaske ein. So ging er häufig vor, um sich ein erstes Bild zu verschaffen: vergessen, was ein Wort zu bedeuten hatte. Das zum Begriff geronnene Wissen erst einmal von sich weisen und dann den Sachverhalt abtasten, wie ein Blinder mit den Händen begreifen, was die Sprache ihm sagte. Er war stolz darauf, sich seinem Material noch immer voller Neugier zu nähern, unvoreingenommen und mit einem Respekt, wie man ihn sonst nur einer Fremdsprache entgegenbrachte, und mit jedem Wort, demgegenüber er sich ahnungslos stellte, schien er unerschlossenes Land zu betreten, es abzustecken und neu zu vermessen, um es in Eigentum zu verwandeln. Manche mochten das schwäbisch finden: seine Liebe zum umzäunten Begriff. Ihm aber verschaffte das Lesen von Definitionen ein tiefes Gefühl der Befriedigung, wie er es nur selten verspürte.
Eine Bedrohung ist eine ernste Gefährdung mit der bloßen Möglichkeit, dass ein Schaden am Objekt (Mensch, Unternehmen, Gegenstand) oder ein Eintritt der Gefährdung des angegriffenen Rechtsgutes entstehen kann.
– Bloße Möglichkeit. Da stand es. Zufrieden lehnte er sich zurück und trank einen Schluck aus dem Thermobecher. Der Kaffee war immer noch heiß. Als Nächstes gab er »Konkurs« in die Suchmaske ein. Was er fand, stimmte ihn erst recht optimistisch: Konkurs bedeutete »Wettbewerb«, wenn man es polnisch aussprach. »Wettstreit« oder lediglich »Preisausschreiben«, ein völlig harmloses Wort, solange man das R etwas rollte und das Gewicht auf den Wortanfang legte, um es polnisch klingen zu lassen.
Kónkurs, murmelte Thorsten Aichinger und hatte gleich gewusst, dass der Agentur kaum Schlimmeres drohte als ein Investorenwettstreit um einen ausgeschriebenen Preis.
Er hatte von drei Millionen gehört. Drei Millionen Überbrückungskredit. Was waren schon drei Millionen in diesem Business? In der Welt des Großkapitals (mit diesen Worten würde er es am Abend Martina erklären) nannte man so was Nachkommastellen! Er nahm das Handy vom Tisch und überlegte, ob er Martina sofort anrufen sollte, bevor sie es in den Nachrichten hörte. Dann aber legte er das Handy zurück. Er brauchte Ruhe, um mit ihr zu sprechen, kein Großraumbüro voller Zuhörer, und es war wichtig, dass er Zuversicht ausdrückte. Martina hasste Unsicherheit. Sie hasste den Eindruck, dass er ihr nicht gewachsen war. Aichinger spürte in sich hinein. Er schloss die Augen und stellte sich Männer mit Goldrandbrillen vor, die dicke Geldbündel auf den Tisch der Geschäftsleitung knallten und dazu Peanuts sagten. Männer mit roten Gesichtern und wulstigen Lippen, zwischen denen fette Zigarren steckten, Otto-Dix-Figuren, feist überzeichnet und ekelerregend.
Aichinger schüttelte den Kopf. So brauchte er Martina nicht zu kommen. Er wusste bereits, was sie entgegnen würde: Ausgerechnet jetzt! Ausgerechnet jetzt, wo sie sich festgelegt und den Kredit unterschrieben hatten. Die Eigentumswohnung war ein Fehler gewesen, würde Martina behaupten. Das habe sie immer gesagt: dass es keine Sicherheit gab. Nicht einmal im Land der Vorhersagbarkeiten, wo Aichingers Stelle sie festhielt. Seine Besonnenheit könne er sich sparen, alle Verweise auf die polnische Sprache. Konkurs auf Polnisch, willst du mich verarschen? Martina würde laut werden, keine Rücksicht auf das schlafende Kind nehmen und sein Beharren auf dem Konjunktiv mit der Entgegnung vom Tisch fegen, das entspreche seiner Neigung, sich selbst zu belügen. Womöglich würde sie sogar mit Brot werfen.
Martina kam nicht von hier. Sie war zum Studium in die Gegend gezogen, Romanistik, Anglistik, Kulturwissenschaft, und nach ihrem Abschluss nicht nach Berlin weitergezogen, wie die meisten ihrer Studienkolleginnen. Stattdessen war sie mit Thorsten geblieben. Bei Thorsten, wie Martina ihn korrigierte, weil das einen Unterschied machte und ihn in die Bringschuld...
Erscheint lt. Verlag | 14.8.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 00er Jahre • 90er Jahre • Anspruchsvolle Literatur • Asien • Bankenkrise • Berlin • Betrüger • Bücher mit starken Frauencharakteren • Deutsche Bank • Eifel • Ein Buch von S. Fischer • Finanzwelt • Investmentbanking • Kapitalismus • Mafia • Niedersachsen • Singapur • Spannung • strong fmc • Zürich |
ISBN-10 | 3-10-491716-7 / 3104917167 |
ISBN-13 | 978-3-10-491716-0 / 9783104917160 |
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