Heim (eBook)
256 Seiten
Jung und Jung Verlag
978-3-99027-309-8 (ISBN)
geboren 1976, lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Frankfurt. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte. 2013 debütierte sie mit der Novelle Alles, was draußen ist, es folgten die Romane Zurück zum Feuer (2014) und Hier beginnt der Wald (2018). Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Rauriser Literaturpreis (2014), Clemens-Brentano-Förderpreis (2015), George-Konell-Preis (2016).
geboren 1976, lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Frankfurt. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte. 2013 debütierte sie mit der Novelle Alles, was draußen ist, es folgten die Romane Zurück zum Feuer (2014) und Hier beginnt der Wald (2018). Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Rauriser Literaturpreis (2014), Clemens-Brentano-Förderpreis (2015), George-Konell-Preis (2016).
I
1
Sie liegt neben mir. Sie schläft. Ich streiche durch die Luft, über ihren Kopf, den Nacken und den Rücken entlang, ohne sie zu berühren. Sie soll nicht aufwachen, sie soll weiterschlafen. Wenn sie schläft, ist sie ganz da. Wenn sie schläft, habe ich Mami für mich. Ich richte mich vorsichtig auf, das macht ein Geräusch. Ich atme aus. Sie bewegt sich, aus ihrem Mund kommt etwas, ein langer Atem, an dem ein Ton klebt. Ihr Haar rutscht über meinen Unterarm. Sie löst es nur, wenn sie sich hinlegt. Meine eigenen Haare sind kurz, jedes einzelne. Papa und Berti haben sie mir an Ostern geschnitten. Ich saß im Korbstuhl auf der Terrasse auf einem wackeligen Kissenberg, Papa und Berti mit Kamm und Schere um mich herum. Meine Locken fielen auf den hellen Steinboden und ich stürzte hinterher, um nach ihnen zu sehen. Ich habe mich zu ihnen auf den Boden gelegt, die Wange auf den kühlen Steinplatten, und sie mit den Außenkanten meiner kleinen Finger zu einem Haufen zusammengefegt. Aber der Haufen hat mir nicht gefallen: Da lagen nicht nur meine Haare, da war auch Staub, und da waren Grashalme und Krümel vom Kuchen, ein großes Durcheinander. Also habe ich die Haare herausgenommen und eins ans andere gelegt. Das war nicht leicht, wegen der Locken, das hat lange gedauert. Oben hat Berti immer weiter an mir herumgeschnitten, es wurden immer mehr Haare. Eine fürchterliche Unordnung. Das fand Mami auch, als sie dazukam. Mit ihrer lauten Stimme. Ich kann sie in meinem Kopf abspielen, so wie Papa im Keller seine Platten abspielt. Ich kann sie anschalten und dann hören, was sie damit gesagt hat, doch meistens lasse ich sie lieber in ihrer Schachtel. Ich mag Mamis Stimme nicht leiden. Deshalb habe ich auch nicht zugehört, als sie damit über Berti und Papa und mir herumgefuchtelt hat. Aber in meiner Kopfschachtel ist sie jetzt trotzdem, da kann man nichts machen, da kommt alles hinein. Jedes Schreien, jedes Geflüster. Alle Worte. Aber ich will sie mir nicht anhören und auch nicht an sie denken. Ich mag Mami lieber, wenn sie still ist. Wenn sie schläft. Am liebsten mag ich sie, wenn sie schläft. Neben dem Tagesbett, auf dem Fußboden, ist ein kleiner Stapel Papiere. Mamis Füller. Ich lehne mich vor und streiche darüber, ich fahre über einen der rauen Umschläge, lasse meine Hand kurz darauf liegen. Ich spüre Mamis Haare weich auf meinem Arm. Eine leichte Decke. Ein Fell. Gerade stört es mich nicht. Die Sprungfedern drücken hart gegen meine Brust, meine Hand schwitzt. Das Papier wird sich verformen, ich weiß es und nehme sie doch nicht weg. Ich sehe meine Hand und die Linien, die darunter hervorkommen. Zeichen und Striche, wie Ameisenbeine, und meine Hand ist ihr Körper. Sie wollen davonlaufen, aber ich lasse sie nicht.
Jetzt ist sie wach. Sie rührt sich nicht, ich weiß es trotzdem. Ihr Haar hängt immer noch über meinem Arm, es ist kalt und schwer. Als wäre es nass. Ich hebe die Hand. Da ist ein welliger Fleck auf dem Umschlag. Sie räuspert sich, noch steckt der Ton in ihrem Hals. Ich richte mich auf. Ich sitze auf der Bettkante zu ihren Füßen und schaue nach draußen. Das Fenster reicht bis zum Boden und ist doch keine Tür. Ich sehe die hohe Tanne, ihren großen Schatten auf dem Rasen und wie das Gras dort weniger grün ist. Zwischen jedem Grashalm die Erde. Und in der Erde Milliarden von Tieren. Milliarden winziger Körper, die ich zählen könnte und doch nicht zähle. Die ich nicht zu zählen brauche, denn ihre Zahl steckt schon in meinem Blick. Und hinter dem Baum der Zaun. Papa hat ihn gestern gestrichen, ich stand dabei. Ich hätte gerne einmal meine Hand auf den vom Lack feuchten Zaun gelegt, aber ich wusste schon, dass Mami das nicht gefallen würde. Weil es der Nachbarin nicht gefällt. Die Liege ist so schmal, Mami berührt mich, als sie die Füße an mir vorbeihebt, ihre Nylons streifen meinen Rücken. Bevor sie aufsteht, sitzt sie einen Moment neben mir. Wir sitzen nebeneinander, wir schauen beide nach draußen. Ich sehe die unscharfe Spiegelung unserer Körper im Fensterglas. Ich strecke meine Hände danach aus. Sie greift sich in die Haare, dreht sie zu einem Knoten. Sie hält ihn mit der Rechten zusammen, während sie mit der Linken nach den Haarnadeln angelt, die zwischen den Papieren liegen. Ich sehe das alles im Fenster und spüre es auch neben mir. Wie ihr Rücken sich bewegt, wie ihre Hand herumwischt, wie die Umschläge dabei über den Boden schaben, an meine Zehen stoßen. Das Sehen, das Spüren und die Geräusche, die Mami macht, vermischen sich, das ist mir unangenehm. Ich rücke ein Stück zur Seite. Als sie sich weiter nach vorn beugt, berührt sie mich mit ihrer Hüfte. Der Wollstoff ihres karierten Rocks rutscht über meine Cordhose. Jetzt steht sie schon. Das Karomuster schiebt sich vor das Bild von uns, das ich gerade noch in der Fensterscheibe gesehen habe. Die Mittagsruhe ist vorbei.
Tilda hält den Anblick kaum aus: Wie sie da sitzt, so plump und klein. Können ihre Haare nicht am Kopf anliegen, kann sie nicht den Rücken gerade halten? Tilda könnte ihr Knie da hineinbohren, in diesen Rücken, zwischen diese schlappen Wirbel, so sehr stört sie dieser Anblick, aber das gibt ja doch nur Geschrei. Und nach einer Sekunde ist sie wieder krumm. Schon wieder war Hannah an ihren Sachen, hat alles auf dem Boden verteilt. Wieso kann sie nicht in ihrem Zimmer bleiben, wenn ich schlafe? Ich habe es ihr schon tausendmal gesagt, denkt Tilda, sie hört einfach nicht auf mich. Schleicht heran, legt sich neben mich, fingert an mir herum. Tilda richtet sich auf. Ein kleiner Troll, mit ihren schwarzen Augen, den wilden Haaren. Wenn Tilda nicht aufpasst, verhext das Mädchen sie eines Tages im Schlaf. Aber sie muss sich doch auch einmal ausruhen. Sie kann doch nicht immer wach sein, Hannah nicht dauernd im Blick haben. Sie muss mit Willem reden, auf ihn hört sie. Aber der sitzt unten, im Hobbyraum, mit seiner Musik, und raucht. Merkt gar nicht, was hier oben passiert. Jetzt muss sie erst mal aufräumen und dann Hannah vom Boden weg und an den Tisch kriegen. Das wird schwierig genug. Doch es ist Sonntag und Zeit für Kaffee und Kuchen.
Mami ist in die Küche gegangen. Ich knie im Halbdunkel auf dem Holzboden vor der Liege und streiche über den hellen Überwurf. Von nebenan fällt in Streifen Licht herein, das stört mich nicht. Da sind schmale Falten in der Decke, die verschieben das Würfelmuster. Ich streiche mit dem Daumen darüber, wieder und wieder, die Falten verschwinden davon nicht. Ich versuche mit dem Daumennagel eine Reihe gerade zu halten, doch wenn ich hinten angekommen bin, ist vorne wieder alles schief. Die Decke besteht aus winzigen Karos, drei davon gehen auf die Länge meines Daumennagels. Unter die Fläche meiner Hand passen vierhundertneun ganze und einhundertneunundvierzig angeschnittene Kästchen. Diese Zahlen sind nicht aufgetaucht, halbe Sachen zählt mein Blick nicht. Ich musste den Umriss meiner Hand abzeichnen und dann die Karos zusammenrechnen. Ich habe die Zahlen in den Umriss hineingeschrieben. Mit Zahlen kenne ich mich aus. Sie hat die Decke gewaschen und wieder gewaschen, ein Schatten ist geblieben. Wenn ich meine Hand darauflege, verschwindet er. Meine Hand ist größer geworden. Ich wachse, das ist normal, sagt sie. Ich bin sieben Jahre und einhundertachtundzwanzig Tage alt. Auf der Decke sind nicht nur Karos, da ist auch noch ein anderes Muster. Das sieht man nicht leicht, nur wenn man den Kopf nach hinten legt und den Blick schräg über die Decke hält, dann sieht man es. Es ist schwierig, diesem Muster zu folgen, ich gehe dichter heran, ich beuge mich weiter nach hinten. Heran und nach hinten, heran und nach hinten. Die Liege quietscht, das Bild kommt und geht. Mit dem Zeigefinger fahre ich über das Muster, ich verliere es. Ich greife nach dem Füller, so geht es besser. »Hannah«, sie steht in der Tür und sagt meinen Namen. »Hannah, Hannah!« Sie sagt ihn immer wieder. Ich mag meinen Namen, man kann ihn in der Mitte zusammenfalten. Man kann ihn auf einen Zettel schreiben und den Zettel dann in der Mitte falten, das hat Berti mir gezeigt, ich habe es nicht vergessen. Man kann den Zettel in die Hosentasche stecken, in eine Kopfschachtel oder in den Mund. Einmal habe ich ihn hinuntergeschluckt, er ist nicht wieder herausgekommen. Ich bin fast fertig, ein blauer Strich quer über die Liege. Sie kniet jetzt neben mir, sie reißt mich an sich, sie schüttelt mich. Ich mache mich los, ich will das zu Ende bringen. Ich will auf die Liege, sie zerrt an meinem Fuß, ich bin doch gleich fertig, dann komm ich ja! Sie lässt mich nicht los. Sie ist stärker als ich, ich gebe nach. Aber ich wachse. Eines Tages bin ich so groß wie sie.
Sitzen bleiben und rauchen, eine Zigarette an der nächsten anstecken und nicht mehr aufstehen. Nur an den Aschenbecher auf dem rechten Oberschenkel denken und dass der nicht herunterfallen darf. Eine Flasche Bier auf dem Boden. Der Clubsessel ist niedrig genug, dass er an sie heranreicht, ohne sich zu strecken. Wenn alles so leicht ginge wie der Griff nach dieser kleinen Flasche, die jetzt kühl in seiner Hand liegt. Oben wieder das Gerangel. Dass Tilda das Mädchen nicht in Ruhe lassen kann! Es ist gleich vier. Eine Zigarette noch, noch ein Lied, dann gehe ich hinauf, denkt Willem.
Der Schlag sitzt noch immer auf meiner Wange, ich achte nicht darauf. Ich male den Umriss meines Fußes auf den Teppich. Der große Zeh und dann die kleineren und dann der ganz kleine, ein langer Strich und dann die Rundung der Ferse. Mit Schwung in die Wölbung und dann wieder nach vorne zum großen Zeh. Das ist nicht einfach, die Füllerspitze verhakt sich in den flauschigen Schlingen. Papa und...
Erscheint lt. Verlag | 22.8.2024 |
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Verlagsort | Salzburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Behinderung • bürgerliche Ordnung • Erinnerung • Erziehung • Familienroman • Heim • Jazz • Legion Condor • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Pädagogik • Rauriser Literaturpreis |
ISBN-10 | 3-99027-309-4 / 3990273094 |
ISBN-13 | 978-3-99027-309-8 / 9783990273098 |
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