Sein Garten Eden (eBook)
320 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-19546-5 (ISBN)
Apple Island, im Jahr 1793: Der Schwarze Benjamin Honey, ein ehemaliger Sklave, und seine irische Frau Patience lassen sich auf einer kleinen Insel vor der Küste von Maine nieder. Für Benjamin ist es das Paradies. Hier legt er einen Obstgarten an mit den Samen unterschiedlicher Apfelsorten, die er in zwölf Jutesäckchen mitgebracht hat. Mehr als ein Jahrhundert später leben die Nachkommen der Honeys noch immer auf der Insel, zusammen mit einer exzentrischen Gruppe von Nachbarn. Arm, isoliert, aber geschützt vor den Anfeindungen, die sie auf dem Festland erwarten würden. Dann taucht im Sommer 1912 Matthew Diamond auf, ein pensionierter Lehrer, der mit missionarischem Eifer die Kinder auf Apple Island unterrichtet. Ein Mann mit guten Absichten, dessen Idealismus aber nie ganz frei von Vorurteilen ist. Seine Anwesenheit erregt die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden und löst eine Lawine unheilvoller Ereignisse aus.
»Ein herzzerreißend schönes Buch, das auf einer wahren Geschichte basiert und von einer einzigartigen Inselgemeinschaft erzählt, die ums Überleben kämpft. Harding erzählt von den Hoffnungen, Träumen und der Widerstandsfähigkeit derjenigen, die nicht dazugehören in einer Welt, die gnadenlos intolerant ist gegenüber allem Andersartigen.« Jury Booker Prize
Paul Harding wurde 1967 in Wenham, Massachusetts, geboren. Er studierte Englische Literatur, war Schlagzeuger in einer Rockband und machte den Master of Fine Arts am berühmten Iowa Writers' Workshop. Für seinen ersten Roman »Tinkers« wurde er u.a. mit dem Pulitzer-Preis und dem PEN/Robert W. Bingham Prize ausgezeichnet. »Sein Garten Eden« war 2023 sowohl für den Booker Prize als auch für den National Book Award nominiert. Harding unterrichtet Creative Writing an der Stony Brook University und lebt mit seiner Familie auf Long Island.
Am ersten Frühlingstag des Jahres 1911 döste Esther Honey, Urgroßkind von Benjamin und Patience, in ihrem Schaukelstuhl vor dem Holzofen in ihrer Hütte auf Apple Island. Dichter Schnee fiel vom Himmel. Wind fegte über die Insel und schlug mit Riesenpranken an die Fenster, trat gewaltig mit der Ferse gegen die Tür und türmte den Schnee an der Nordseite der Hütte bis zum Dach auf. Die Insel ein Granitstein in den eisigen Untiefen des Atlantiks, die Wolken so tief, dass sie mit der Unterseite über die Spitze der Penobscot-Kiefer oben an der Klippe strichen.
Esther schlummerte, auf dem Schoß ihre Enkeltochter Charlotte, die sich an den hageren Leib der alten Frau schmiegte, in ein Stück Decke aus Hudson-Bay-Wolle gehüllt, das vor langer Zeit einmal geviertelt und unter ihren frierenden Vorfahren aufgeteilt worden war; darüber war noch ein hundert Jahre alter, aus noch älteren R esten bestehender Quilt gebreitet. Das Mädchen empfing kaum Wärme von seiner knochigen Großmutter, und die alte Frau hatte keinen Bedarf für die Wärme, die ihr Enkelkind spendete, konnte sie, schmächtig, wie sie war, gar nicht aufnehmen und hatte sich schon lange an das Minimum Wärme gewöhnt, das ein Körper zum Weiterleben benötigte. Dennoch war jede der anderen ein Trost.
Esthers Sohn Eha – Charlottes Vater – erhob sich von seinem Schemel und warf nacheinander vier aus dem letzten Dutzend Holzschindeln in die Glut im Ofen. Aus unerfindlichen Gründen hatte die Frauenhilfsvereinigung im vorigen Sommer eine Palette Schindeln auf die Insel geschickt. Gebraucht wurden sie nicht. Eha und Zachary Gotthelf Proverbs waren hervorragende Zimmerleute und machten Zedernschindeln, die viel schöner waren als diese. Doch wie immer seit inzwischen vier Jahren trafen im Sommer Nahrungsmittel und andere Waren von dem Verein ein. Teile dieser Lieferungen waren den Bewohnern von Apple Island ein Rätsel, die Schindeln zum Beispiel oder einmal ein Pferdesattel für eine Insel, die nur von einer Handvoll Menschen und drei Hunden bewohnt war. Mit den Lebensmitteln und den Waren kam auch Matthew Diamond, ein alleinstehender pensionierter Lehrer, der alle Jahre im Juni unter der Gönnerschaft des Enon College für Theologie und Mission von irgendwo in Massachusetts anreiste und sein Sommerhaus – keine hundert Meter über das Wasser entfernt und bei klarer Sicht von der Insel zu erkennen – in dem Dorf Foxden auf dem Festland bezog und a llmorgendlich mit dem Boot nach Apple Island ruderte, wo er predigte, hier in einem Küchengarten und dort bei einem undichten Dach zur Hand ging und Unterricht in der aus einem Raum bestehenden Schule abhielt, die er, Eha Honey und Zachary Gotthelf Proverbs gebaut hatten.
Sowieso wertlos, der Zundel, sagte Eha und machte die Ofentür hinter der letzten Schindel zu.
Tabitha Honey, Ehas andere Tochter, zehn Jahre alt, zwei älter als ihre Schwester Charlotte, rutschte auf dem Hinterteil über den kalten Boden näher an den Ofen heran. Sie trug zwei Paar Strümpfe übereinander, drei alte Kleider, einen gespendeten Wollmantel, den der Verein geschickt hatte, und das eine Paar Schuhe, das sie besaß, Jungenstiefel, von ihrem großen Bruder Ethan an sie weitergereicht, als sie ihm zu klein geworden waren. Ihr waren sie zu groß, und sie hatte sie an den Zehen und Fersen mit trockenem Gras ausgestopft, das wie Barthaare aus den rissigen Sohlen spießte. Tabitha hatte sich ein anderes Stück der Hudson-Wolldecke über Kopf und Schultern gelegt.
Komm her, Victor, sagt sie zu dem Kater, der sich hinter dem Ofen zusammengerollt hatte. Ts, ts, komm her, Vic. Sie wollte den Kater auf den Schoß nehmen und sich an ihm wärmen. Victor hob den Kopf und sah das Mädchen an. Senkte den Kopf wieder und schloss halb die Augen.
Ich hoffe, du fängst Feuer, du dicker Taugenichts, sagte Tabitha.
Ethan Honey, fünfzehn, Ehas ältestes Kind, saß auf einer Holzkiste am anderen Ende des Raumes, in der kältesten Ecke, und zeichnete mit einem Stück Holzkohle seine Großmutter und seine kleine Schwester auf einem alten Exemplar der Lokalzeitung, das Matthew Diamond ihm letzten Herbst an dem Tag gegeben hatte, bevor er sein Sommerhaus zusperrte und nach Massachusetts zurückkehrte. Die Nase des Jungen war rot, seine Lippen blau. Seine Finger und Hände waren blau-weiß gesprenkelt, als verklumpe das Blut unter der Haut zu Eis. Ethan war auf seine Großmutter und seine Schwester konzentriert, und ihre verschlungenen Körper wurden immer deutlicher auf der Titelseite des Foxden Herald sichtbar, als schwebten sie oberhalb der Artikel über das zehnte Jubiläum des alljährlichen Kadettenballs, sechs des Landes verwiesene Chinesen, einen verschollenen Dreimastschoner und Reklame für Feigensirup, Gießereien, Mützen und schwarzen Kleiderstoff.
Erzähl uns von der Flut, Großmama, sagte Tabitha, die immer noch nach dem Kater schielte.
Charlotte hob den Kopf von der Brust ihrer Großmutter und sagte: Ja, erzähl es uns noch mal, Großmutter!
Ethan blickte von seiner Zeichnung auf und zu Großmutter und Schwester hinüber. Er schwieg, wollte aber ebenso sehr wie seine Schwestern, dass seine Großmutter die Geschichte von dem Wirbelsturm erzählte, der um ein Haar die Insel versenkt und um ein Haar seine ganze Familie fortgeschwemmt hätte.
Eha ging vom Ofen in die Ethans Zeichenplatz gegenüberliegende Ecke, neigte einen Korb, der auf einem Brett stand, zu sich hin und sah hinein.
Ich mach uns die Kartoffeln, ein bisschen Stockfisch ist auch noch da. Und eine Kanne Milch.
Ihr wollt das von der Flut hören? Von der alten Flut?, sagte Esther Honey.
Ja, Großmutter, bitte!
Bitte, Großmutter, erzähl!
Na ja, diese alte Flut, das ist inzwischen fast hundert Jahre her, sagte sie. Das war 1815.
Ein Orkan traf die Insel im September 1815, zweiundzwanzig Jahre nachdem Benjamin und Patience Honey die Siedlung begründet hatten, die mittlerweile aus fast dreißig, in fünf oder sechs Häusern lebenden Personen bestand, darunter die ersten Proverbs und Larks, Leute aus Angola und Kap Verde, andere kamen aus Edinburgh. Patience, ursprünglich aus dem irischen Galway stammend, lernte Benjamin in Nova Scotia kennen und zog mit ihm und drei Penobscot-Frauen weiter, Schwestern, die ihre Eltern verloren hatten, als sie noch klein waren. Eine Meereswoge, sieben Meter hoch, zwängte sich in die Bucht und nahm Häuser und Schiffe mit. Als die Wasserwand aufschlug, riss sie die Hälfte der Bäume und sämtliche Häuser der Insel weg und verschlang alles, mitsamt zwei Honeys, drei Proverbs, einer Penobscot-Schwester, drei Hunden, sechs Katzen und einer Ziege namens Enoch. Der Orkan brauste so laut, dass Patience Honey zuerst glaubte, sie wäre taub geworden, zumindest bis sie die berghohe Woge hörte, die wie eine Lawine auf sie zurollte und Häuser und Schiffe und Bäume und Menschen und Kühe und Pferde in sich trug, die umherwirbelten und schrien und barsten und muhten und wieherten und zerschellten. Da wusste Patience, jetzt war alles verloren, dies war der Tag des höchsten Gerichts, das Siegel Gottes wurde gebrochen, und hatte der Besen der Auslöschung sie erst einmal alle fortgekehrt, würden hier nur noch so wenige Bäume stehen, dass ein kleines Kind sie zusammenzählen konnte, und ihre Leute würden rarer sein als Gold. Aber nicht alle tot. Nicht jeder. Patience wusste es. Ein paar Honeys würden überdauern, ein paar Proverbs überleben. Ein, zwei Larks kämen vielleicht durch. Aus Gründen, die sie im Nachhinein nicht erklären konnte, schnappte sie sich die Flagge, eigenhändig zusammengenäht aus Flicken der Stars and Stripes, der portugiesischen Krone und der goldenen irischen Harfe in Frauengestalt, die so sehr an eine Galionsfigur gemahnte und bei der ihr Mann immer an die am Bug des Schiffes denken musste, auf dem er als Seemann gearbeitet hatte – es war vor der Küste gesunken, wodurch er überhaupt erst auf die Insel kam –, und aus den zerschlissenen und verblichenen Stoffresten mit den aufgestickten Bantu-Dreiecken und den Rauten und Kreisen, die er überallhin mitnahm und die, zeigte er ihr, Männer und Frauen und Ehe darstellten und Sonnenaufgang und Sonnenuntergang und die, sagte er immer, einst seinem Urgroßvater gehört hatten, obwohl sie im Grunde ihres Herzens nicht glaubte, dass das stimmen konnte. Jetzt wand sie sich die Flagge wie einen Schal um den Hals, fasste Benjamin bei der Hand und zog ihn aus ihrer Hütte nach draußen in den Wirbelwind. Eine Vorahnung, schwor sie, denn sie und ihr Mann waren kaum zur Tür hinaus, da riss ihr Haus sich von den Pfählen los und taumelte hinter ihnen davon, zerfiel zu Stroh wie ein vom Schober fallender Ballen Heu und stürzte in den Ozean. Nun, da sie im Freien stand, mitten in dem Tumult, versagten ihr die Beine. Sie war sich sicher, das war der Jüngste Tag und was geschehen musste, würde geschehen; davonzulaufen war sinnlos, wenn der Herr schon den Arm ausgestreckt hatte.
Der Baum, der Baum!, schrie Benjamin ihr durch das Sturmgebraus zu. Und zeigte auf den höchsten Baum der Insel, die Penobscot-Kiefer oben auf der Klippe. Benjamin zeigte hin und neigte den Kopf zu seiner Frau und zeigte hin.
Auf den Baum!
Der Wind klebte ihm das Hemd an den Körper, der Regen peitschte ihm ins Gesicht, strömte daran herab und lief ihm aus den Haaren, und ein Blitz zerteilte den Himmel, und ein Donner fuhr auf Erde und Meer nieder, und Benjamin schrie noch einmal durch das Sturmgeschrei: Der Baum! Und Patience dachte an ihre e rwachsenen Kinder und an ihre Enkelkinder und schrie ihrem Mann zu: Die...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2024 |
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Übersetzer | Silvia Morawetz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | This other Eden |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Apfelbaum • barack obama lieblingsbuch 2023 • eBooks • Fischer • Inselgemeinschaft • Intoleranz • longlist booker prize 2023 • Maine • Neuerscheinung • Pulitzer-Preisträger • Rassismus • Roman • Romane • shortlist booker prize 2023 • Shortlist National Book Award • Vorurteile |
ISBN-10 | 3-641-19546-2 / 3641195462 |
ISBN-13 | 978-3-641-19546-5 / 9783641195465 |
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