Und dahinter das Meer (eBook)
368 Seiten
mareverlag
978-3-86648-840-3 (ISBN)
Laura Spence-Ash, 1959 geboren, studierte an der Rutgers University in Newark Creative Writing und lebt in New Jersey. Ihre Erzählungen sind in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen; für ihr Schreiben erhielt sie mehrere Stipendien. Ihr Debütroman »Und dahinter das Meer« wurde in den USA zum Bestseller und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Laura Spence-Ash, 1959 geboren, studierte an der Rutgers University in Newark Creative Writing und lebt in New Jersey. Ihre Erzählungen sind in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen; für ihr Schreiben erhielt sie mehrere Stipendien. Ihr Debütroman »Und dahinter das Meer« wurde in den USA zum Bestseller und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Zweiter Teil:
August 1951
William
An dem Sonntagmorgen sah William von seinem Buch auf und blickte über die Pariser Dächer, wo der blaue Himmel durch den sich auf lösenden Dunst schimmerte. Er und Nelson hatten vor, Paris in zwei Tagen zu verlassen und nach Rom weiterzureisen, aber es gab noch eine Liste von Museen und Sehenswürdigkeiten, die sie besichtigen wollten. Sie hatten ein strammes Programm, sahen sich tagsüber so viel an, wie sie schafften, und saßen dann bis in die Nacht hinein und tranken.
In etwas mehr als einer Woche würde er vierundzwanzig werden. Und jetzt saß er also in einem Appartement im sechsten Arrondissement. Ein kleiner Balkon mit Blick auf den Jardin du Luxembourg. Die Geräusche der Straße, die von unten heraufklangen. Der Geruch nach Verbranntem. William und Nelson, hier, zusammen auf der Europareise, die sie seit Kindertagen geplant hatten. Nelson studierte Jura und hatte Sommerferien; William hatte bei der Bank, bei der er seit seinem Abschluss arbeitete, Urlaubstage gesammelt. Morgens, wenn Nelson noch schlief, saß William oft auf dem Balkon, trank einen Kaffee und rauchte eine Zigarette, eine von den filterlosen französischen, während die Sonne hinter der malerischen Dächerlandschaft hervorspähte. Es kam dem Paris, das er sich so oft vorgestellt hatte, ziemlich nahe. Er wünschte, die Reise würde niemals enden.
Das Telefon klingelte. William stieß beim Hineingehen seinen Kaffee um, aber Nelson war schneller und meldete sich in seinem makellosen Französisch. Er lauschte, wandte sich zu William um und hob auf seine typische Art eine Augenbraue. »Deine Mutter«, gab er ihm tonlos zu verstehen. Er nickte und hob die Hand, als William nach dem Hörer greifen wollte. William wusste, dass etwas passiert sein musste. Sonst würde sie nicht anrufen, erst recht nicht so früh am Morgen. War etwas mit Tante Sarah? Mit Gerald?
Nelson gab ihm den Hörer.
»Mutter«, sagte William. »Was ist los?«
Er wandte Nelson den Rücken zu und betrachtete erneut die Silhouette von Paris, und noch bevor sie es ausgesprochen hatte, wusste er, dass Vater tot war. Ein Herzinfarkt bei der Gartenarbeit. Mutter weinte jetzt, er konnte sie kaum noch verstehen. William bemühte sich, nicht ungeduldig zu werden. »Mutter, bitte«, sagte er schließlich. »Sag mir nur das Wesentliche. Ich komme zurück, so schnell ich kann.«
Er nickte immer wieder und versuchte, ihrem holprigen Bericht zu folgen, aber vor allem schämte er sich, weil er so wütend war. Wütend auf Vater, weil er ihm die Reise ruinierte. Er war von Anfang an dagegen gewesen. Wie Vater ihn angesehen hatte, als er ihm davon erzählte. Als wäre er wieder zwölf.
Er unterbrach Mutter mitten im Satz. »Ich schicke ein Telegramm, sobald ich weiß, wann ich ankomme«, sagte er, dann verabschiedete er sich und legte auf. Er drehte sich zu Nelson um. »Mein Vater ist tot.«
»O Mann«, sagte Nelson, und er hatte Tränen in den Augen. William nicht. Nelson hatte ihn fast genauso lange gekannt wie er selbst. William fühlte sich merkwürdig taub. »Und jetzt?«, fragte Nelson.
»Ich muss nach Hause«, sagte William. »Mutter ist völlig aufgelöst.«
Er nahm die Nachtfähre über den Ärmelkanal. Es war nicht leicht gewesen, aber schließlich hatte er Nelson überreden können, wie geplant nach Rom weiterzufahren. »Hör mal«, hatte er gesagt, »du musst doch erst zurück sein, wenn die Ferien vorbei sind. Also genieß die Reise. Wer weiß, wann wir wieder hierherkommen.« Er hatte noch ein Telegramm von Gerald bekommen, dass der Gedenkgottesdienst erst Mitte September stattfinden würde, damit alle von der Schule teilnehmen konnten. Es klang, als hätte Gerald alles im Griff. Er war der Richtige, um da zu sein, sich um Mutter zu kümmern, die trauernde Familie zu repräsentieren. William wusste, dass er nur enttäuschen würde.
Als er am nächsten Morgen in London aus dem Zug stieg, ging er zum Schalter der Reederei und fragte, ob er seine Passage umtauschen und mit dem nächstmöglichen Schiff zurückfahren könnte.
»Sie haben Glück, Sir«, sagte die Dame. »Es hat gerade jemand storniert. Ich kann Ihnen einen Platz auf dem Schiff am Mittwoch geben.«
Er reichte ihr seine Fahrkarte und seinen Pass, und sie stellte eine neue Fahrkarte aus und gab ihm beides zurück. Genau deshalb war er nach London gekommen; genau darauf hatte er gehofft. Ihm blieben noch zwei Tage, bevor das Schiff auslief. Er wollte bei Bea sein.
Bea
Bea war auf der Treppe, die Arme voller Einkäufe, als sie das Telefon klingeln hörte. Sie lief hoch zu ihrer Tür und fummelte den Schlüssel ins Schloss.
»Schätzchen«, sagte jemand. Es war Mrs G. Wie seltsam, nach all der Zeit ihre Stimme zu hören. Bea stellte die Tüten auf dem Boden ab, und ein paar Zitronen kullerten unter das Sofa. Es war ihre letzte Ferienwoche, bevor die Schule wieder begann, und am Dienstag trafen sich alle Kolleginnen aus der Grundschule zum Abendessen. Sie wollte eine Zitronencremetorte backen.
»Ja«, sagte sie etwas atemlos. »Hallo. Ist alles in Ordnung?«
»Es ist wegen Ethan«, sagte Mrs G, und Bea setzte sich. »Es tut mir leid, aber er hat einen Herzinfarkt gehabt.«
»Dann ist er also im Krankenhaus«, sagte Bea. Sie wollte nicht verstehen, wollte die versteckte Botschaft nicht hören, wollte sie zwingen, es auszusprechen.
»Nein, Liebes«, sagte Mrs G, und die transatlantischen Pausen zwischen ihren Worten zögerten die Wahrheit hinaus. »Er ist gestorben.«
Bea schlug die Hand vor den Mund, um keinen Ton herauszulassen. Sprachlos schüttelte sie den Kopf. Erst Dad und nun Mr G.
»Liebes«, sagte Mrs G, und Bea wünschte, sie könnte die Arme um ihre breite Taille legen. »Hörst du mich? Bist du noch dran?«
»Ja«, sagte Bea und grub die Fingernägel in die Handfläche. »Das tut mir so schrecklich leid.«
»Ja. Wir sind alle sehr traurig.«
Bea nickte, brachte aber kein Wort heraus.
»Die Jungs sind beide unterwegs«, sagte Mrs G. »Aber sie kommen bald nach Hause. Eine von meinen Schwestern ist hier. Die anderen sind auf dem Weg.«
»Das ist gut«, sagte Bea. »Dass bald alle da sind.«
»Ja.« Kurzes Schweigen, dann hörte sie, wie Mrs G sich räusperte. »Ich muss jetzt Schluss machen, Liebes. Aber ich wollte, dass du es weißt.«
»Vielen Dank, Mrs G.«
»Schreib mir bald, ja? Ich möchte wissen, wie es dir geht.«
»Das mache ich«, sagte Bea. »Und Sie auch, okay? Danke noch mal.«
Es klickte in der Leitung, und Bea sah sie vor sich, wie sie jenseits des Ozeans, Tausende Meilen entfernt auf dem Stuhl in der Eingangshalle saß, neben dem Telefontischchen. Dort muss es noch früh am Tag sein, und die Sonne strahlt wahrscheinlich durch die Fenster herein. Wie seltsam, sie so reglos zu sehen. Sie hat die ausgeblichene blaue Schürze umgebunden und klipst langsam den Ohrring wieder an, den sie zum Telefonieren abgenommen hat. Sie hakt Beas Namen auf ihrer Liste ab und seufzt, als sie all die anderen sieht, dann beugt sie sich vor und streichelt King, der neben ihr auf dem Boden liegt. Sie überlegt, ob sie mit ihm rausgehen soll, nun, da die Sonne aufgegangen ist und der Tag begonnen hat.
Doch das konnte natürlich nicht sein, denn King war schon vor ein paar Jahren gestorben. Sie hatten ihn hinten im Wald begraben, und sie waren alle da gewesen, um sich von ihm zu verabschieden. Gerald hatte es ihr geschrieben. Nun war Mr G gestorben, und keiner von den Jungs war zu Hause. Komisch, sie hatte sich immer vorgestellt, dass sie in so einem Moment natürlich beide da sein würden. Sie fand die Vorstellung schrecklich, dass Mrs G all diese Anrufe tätigen und den Leuten Bescheid sagen musste.
Wenn Bea an die Gregorys dachte, sah sie sie immer im Haus. Mrs G, wie sie Brot backte oder einen Einkaufszettel schrieb. Gerald, der sich über die Zeitung oder seine Kriegsanleihen oder die Planung einer neuen Schrottsammlung beugte. Mr G in seinem Arbeitszimmer, wie er las, Tests korrigierte oder Schach spielte. Sie sah das Haus immer noch so deutlich vor sich wie zu der Zeit, als sie dort gewohnt hatte. Seine gewaltige Größe. Das Licht. Das blau-weiße Geschirr in der Eckvitrine. Die Ansammlung von Gummistiefeln neben der Hintertür. Die endlosen Flure.
Williams Platz im Haus zu finden fiel ihr schwerer. Manchmal sah sie ihn verschwommen, wie er durch die Küche zur Hintertür lief. Oder wie er ungeduldig beim Abendessen saß, immer wieder auf die Uhr schaute und darauf wartete, dass seine Mutter den letzten Löffel von ihrem Nachtisch aß. Oder sie hörte, wie er mit seinen schweren Schritten die Treppe hochkam. Wie er unregelmäßige Verben lernte, indem er sie sich laut vorsagte. Wie er eine Schublade zuknallte oder immer wieder einen Baseball mit seinem Handschuh fing.
Sie schenkte sich ein Glas Wein ein, sank auf das Sofa und blätterte die Post durch. Rechnungen, eine Postkarte von Mummy, ein Zettel von einem Kleidungsgeschäft, das mit einem Sonderverkauf warb. Mir geht’s prima, begann der Text auf der Postkarte, und irgendwie erschien es Bea nicht richtig, dass sie ihren Urlaub genoss, obwohl Mr G gerade gestorben war. Sie legte die Karte und die Rechnungen auf den Stapel mit Post, der bereits auf dem Beistelltisch lag; sie würde sich später darum kümmern. Wenn Mum fort war, ließ sie immer alles schleifen: schmutziges Geschirr in der Spüle, das Bett ungemacht, Schminkutensilien auf dem...
Erscheint lt. Verlag | 2.8.2024 |
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Übersetzer | Claudia Feldmann |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Boston • Erinnerung • Familienroman • Heimkehr • Historischer Roman • London • Maine • Neuengland • Pflegefamilie • Sicherheit • Verschickungskinder • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-86648-840-8 / 3866488408 |
ISBN-13 | 978-3-86648-840-3 / 9783866488403 |
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