Der echte Krampus (eBook)
304 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0803-5 (ISBN)
In einem verschneiten Bauernhaus auf dem oberbayerischen Land blickt Gryszinski mit seiner Familie einem besinnlichen Weihnachtsfest entgegen. Das Dorf ist Schauplatz erstaunlicher ländlicher Weihnachtsbräuche und mythischer Berggeschichten. Doch der Gemütlichkeit wird ein jähes Ende gesetzt: Während des traditionellen Krampuslaufs kommt es vor versammelter Gemeinde zu einer Messerstecherei. Kurz darauf ist das Opfer des Handgemenges tot - und liegt in Gryszinskis Räucherkammer. Der Major steht nun vor einer ungewöhnlichen Herausforderung: Zwanzig junge Männer sind zugleich Zeugen und Verdächtige. Hinter welcher Krampusmaske verbarg sich der wahre Teufel?
<p>Uta Seeburg ist Berlinerin und lebt in München. Sie arbeitete bereits als Werbetexterin, Drehbuchautorin und Redakteurin, widmet sich aber heute ausschließlich der Schriftstellerei. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin wohnt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Haidhausen.</p>
1.
27. November 1897.
Samstag. Vortag des ersten Advents.
Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski machte tatsächlich Urlaub. Ganze fünf freie Wochen lagen vor ihm wie ein herrliches Versprechen. Zufrieden blickte er durch das Zugfenster, hinter dem sich allmählich ein mit Schnee bestäubtes Bergmassiv aufbaute. Neben ihm saß sein kleiner Sohn Fritzi, mittlerweile fast vierjährig, und drückte aufgeregt sein Gesicht gegen die Glasscheibe, die schon übersät war mit Abdrücken seiner vorwitzigen Nase. Gryszinskis Frau Sophie hatte es sich ihnen gegenüber bequem gemacht und notierte mit rasender Geschwindigkeit etwas in ihrem Büchlein, vermutlich Ideen für ihren zweiten Roman.
Er lehnte sich zurück. Obwohl dem Major als Reichsbeamter das Privileg bezahlten Urlaubs zustand – im Gegensatz zu fast allen anderen deutschen Bürgern –, hatte er doch in den gut vier Jahren, die er nun als Kriminalermittler bei der Königlich Bayerischen Polizeidirektion tätig war, bislang keinen entsprechenden Antrag gestellt. Hier und da mal ein paar freie Tage, das schon, aber ansonsten war doch immer zu viel gemordet worden, um an eine längere Auszeit zu denken. Vor einigen Wochen aber hatte ihre Hausfreundin Franziska Gräfin von Wurmbrand – nach Jahren regelmäßiger gemeinsamer dîners und enger Freundschaft war man mittlerweile sogar per Du – sie mit der Neuigkeit überrascht, dass sie sich ein Haus auf dem Lande gekauft hatte. Bislang logierte die reiche, nach einer vor Jahren geplatzten Verlobung immer noch ledige Wienerin als Dauergast irgendwelcher Verwandter in einer Bogenhausener Villa. An diesem Zustand komfortablen Nomadentums wollte sie wohl nichts ändern; dieses ominöse Landhaus, das sie sich, einer spontanen Eingebung folgend, zugelegt hatte, sollte eher eine Art Refugium werden, »um hin und wieder einmal dem enervierenden Baulärm Münchens und den ewigen Wedekind’schen Proklamationen zu entkommen«, wie sie erklärte. Es lag in einem Bergdörflein oberhalb Bad Reichenhalls, und die Wurmbrand hatte die Familie Gryszinski eingeladen, den gesamten Dezember mit ihr dort zu verbringen. Samt Kindermädchen Anneliese und ihrer Köchin Aloisia Brunner. Letztere war besonders wichtig, da die Wurmbrand selbst noch kein entsprechendes Personal hatte auftreiben können, lediglich zwei Dienstmägde, die sich um Haus und Hof kümmerten. Ihr anderer treuer Hausfreund, Otto von Grabow, der in München bei der preußischen Gesandtschaft arbeitete, würde später zu ihnen stoßen.
Die Brunner jedenfalls befand sich in einem Zustand permanenter Aufregung, seitdem sie von diesen ungewöhnlichen Urlaubsplänen erfahren hatte. Diese Aufregung entsprang wohl hauptsächlich einer grundlegenden Abneigung gegenüber jeder Art von Veränderung und verdichtete sich zu der Sorge, dass die Küche in dem fremden Haus bestimmt viel zu klein sein werde. Die Köchin lamentierte ununterbrochen über dieses etwaige Ärgernis, ereiferte sich über die mit Sicherheit klaustrophobischen Verhältnisse, dass man meinen könnte, man wollte sie zum Kochen in eine fensterlose Grabkammer einmauern. Die Wurmbrand hatte nichts getan, um ihre Ängste zu zerstreuen, im Gegenteil, sie hatte hier und da mit einem diabolischen Lächeln kleine Bemerkungen fallen lassen: »Ah geh, Frau Brunner, es wird schon passen. So groß sind Sie ja nicht, da müssen’s den Kopf sicher nur ein kleines bisserl einziehen.« Oder, die umfangreiche Topfsammlung der Brunner inspizierend: »Na, ein oder zwei Kasserolen werden schon gerade Platz finden in meinem Häuschen.«
Schnaufend und pfeifend fuhr der Zug in den Bahnhof von Bad Reichenhall ein. Im Sommer würden hier auffällig viele elegant gekleidete Reisende aussteigen. Gepäckdiener würden Hutschachteln und messingbeschlagene Überseekoffer auf den Bahnsteig heben und in die wartenden Kutschen der Grandhotels verfrachten. Doch jetzt im Winter waren sie fast die Einzigen, die in dem mondänen Kurort den Zug verließen. Der Gryszinski’sche Reisetrupp durchquerte die weite Bahnhofshalle. Die hohe Decke war mit Malereien geschmückt. Sie zeigten Schiffe, die Salz übers Meer trugen. Neben den geblähten Segeln thronte die mächtige Pumpe, die das weiße Gold aus den Tiefen der Alten Saline von Bad Reichenhall schöpfte. Auch einige Kurgäste, die in den heilenden Solequellen badeten, waren dargestellt. Als sie wieder ins Freie traten, hatte Gryszinski das diffuse Gefühl, Salz auf der Zunge zu schmecken, als würde hier in den Bergen ein Wind vom Meer herüberwehen.
Plötzlich packte Sophie Gryszinski am Arm. »Unglaublich!« Sie lachte fröhlich. Er folgte ihrem Blick.
Die Wurmbrand erwartete sie schon. Sie war in eine dramatische Stola aus weißem Pelz gehüllt, als wäre sie die Schneekönigin persönlich. Diamanten funkelten an ihren Ohren, die fast unter der übergroßen Uschanka aus Hermelin verschwanden. Um das russische Wintermärchen vollkommen zu machen, lehnte sie an einem Hundeschlitten, vor den zehn Huskys gespannt waren. Die Tiere hatten allesamt stechend blaue Augen und bellten ungeduldig, ihre drahtigen Körper vibrierten.
»Dezent wie gewohnt«, raunte Gryszinski seiner Frau zu. Fritzi kreischte begeistert und rannte zur Wurmbrand und ihren sibirischen Vierbeinern hinüber.
»Aber wie immer stimmig in den Kontext eingefügt«, gab Sophie zurück.
Kurz darauf saßen die drei Gryszinskis im Schlitten, allesamt in warme Felldecken gemummelt und eng hintereinandergesteckt, während ihre schneeweiß gewandete Gastgeberin sich stehend am Ende des Gefährts positionierte, um dieses zu lenken. Die immer skeptischer guckende Brunner und Anneliese folgten mit dem Gepäck in einer gewöhnlichen Pferdekutsche, die man allerdings ebenfalls auf Kufen gestellt hatte. Ein Ruck, und sie flogen durch Straßen mit prachtvollen Häuserzeilen und großzügigen Villen. Doch schon bald löste sich die Stadt um sie herum auf. Ihr Schlitten glitt in einen weißen Raum. Sie rasten durchs verschneite Tal, mit einem freien Blick auf die Alpen. In der klaren Luft schien die Bergwand direkt vor ihnen zu stehen, zum Greifen nah und doch so fern wie ein Trugbild. Schließlich erreichten sie eine kleine Straße, die in einen Wald aus dunklen Nadelbäumen führte. Es ging nun deutlich bergauf. Der ganze Wald war in Weiß getaucht, das jedes Geräusch schluckte. Ab und an erblickten sie zwischen den Baumstämmen eine sonnenbefleckte Lichtung.
»Das hier ist die Passstraße, der einzige befestigte Weg, der zu unserem Dörfchen führt«, sagte die Wurmbrand. »Die Straße geht dann weiter bis nach ganz oben, über die Berge und über die Grenze zu Österreich. Im Winter ist sie gesperrt, da kommt kaum einer ins Dorf.«
Ihr Schlitten glitt in immer steileren Serpentinen hoch, dann gab der Wald sie frei. Die Landschaft öffnete sich, und sie erblickten ein weites Plateau, auf dem sich mehrere Häuser versammelt hatten.
»Willkommen in Berghall.« Die Wurmbrand ließ ihre Peitsche knallen. »Dem friedlichsten Ort auf Erden.«
Gryszinski blickte sich um. Direkt am Ortseingang stand ein großes Haus, das ein Schild als Zollstation auswies. Im Sommer kamen viele Reisende und Händler über den Pass, und Berghall war das der Grenze zur österreichisch-ungarischen Monarchie nächstgelegene Dorf auf der bayerischen Seite. Diesem Amtsgebäude hatte er es letztlich zu verdanken, dass man ihm seine Reise genehmigt hatte: Ein Reichsbeamter musste laut Urlaubsverordnung immer erreichbar sein, und die Zollstube verfügte über einen elektrischen Telegraphen. Der schmucklose Bau und der Bergpass, der sich weiter Richtung Gipfel wand, schienen die letzte Verbindung zur Welt dort draußen zu sein. Kaum hatten sie das Zollhaus hinter sich gelassen, verschwand die Straße unter den Kufen ihres Schlittens, und sie schwebten in ein Dorf, das sich aus den Seiten eines Märchenbuchs zu erheben schien. Aus den Schornsteinen der weiß bepuderten Schindeldächer stieg Rauch, körperlose Essenz der Behaglichkeit. Dicke Eiszapfen glitzerten an Bäumen und Regenrinnen. Auf den kleinen Holzbänken, die an der Sonnenwand eines jeden Hauses aufgestellt waren, lagen weiche Schneedecken. Bunt bemalte Fensterläden leuchteten an den Fassaden aus Stein und Holz. Im Dorfkern stand eine Kirche, ein schlichter, aber recht großer Steinbau, dessen Glockenturm sich stolz von den blitzenden Gipfeln der umliegenden Berge abhob. Die Kirche befand sich an einem Weiher, den noch weitere Häuschen umgaben: ein Krämer, eine Tischlerei, ein Schuster, das einzige Wirtshaus und die Dorfschule. Der große Teich war zugefroren, und einige Kinder hatten sich Stahlkufen unter die Schuhe geschnallt und sausten über das Eis. Hier und da sah man in der Ferne große Bauernhäuser mit den dazugehörigen Stadeln. Offenbar bildeten mehrere Höfe einen Gürtel um das Zentrum von Berghall.
Ihr Hundeschlitten hielt nun auf ein solches Bauernhaus zu. Es hatte zwei Stockwerke, seine breite Fassade war mit kunstvollen Malereien verziert – illusionistische Sprenggiebel mit Muscheln über den Fenstern, in der Mitte eine Maria mit Kind, deren Kleider und widerspenstig langes Haar in einem imaginären Wind flatterten. Neben diesem prachtvollen Landhaus stand ein riesiges Stallgebäude, davor ein großer Brunnen mit Pumpe. Dazu kam noch, etwas abseits in einer Ecke des verschneiten Grundstücks platziert, ein rotes Häuschen, aus dessen Schornstein es ordentlich dampfte; eine Räucherkammer, vermutete Gryszinski.
»Da wären wir.« Der Wurmbrand war ihr Besitzerstolz anzuhören.
Der Schlitten und die Kutsche hielten vor dem Haus mit den Malereien. Die Gräfin war als Erste bei der Eingangstür – massive Eiche mit...
Erscheint lt. Verlag | 22.10.2024 |
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Reihe/Serie | Gryszinski-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Adventskalender • Alex Beer • Bayern • Bayernkrimi • Beate Maly • Berge • Buch • Buch Geschenk • Christmas • Das wahre Motiv • Der falsche Preuße • Der treue Spion • Ermittlerkrimi • Frank GOLDAMMER • Geschenk für • Geschenk zu • Gryszinski • Historische • Historischer • Krampus • Krampuslauf • Krimi • Kriminalroman • Kriminalromane • Krimis • Mord • Mordfall • München • Regionalkrimi • Roman • Volker Kutscher • was schenken • Weihnachten • Weihnachten 2024 • Weihnachtskrimi • Winter • Winterroman |
ISBN-10 | 3-7499-0803-6 / 3749908036 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0803-5 / 9783749908035 |
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