Das Würfelhaus (eBook)
207 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-78135-6 (ISBN)
Als Sebastian Molls Vater in den 60er Jahren ein Zuhause für seine Familie baute, verband er damit eine Hoffnung: die Vergangenheit vergessen. Denn als Angehöriger der Flakhelfer-Generation hatte er Nazi-Indoktrinierung, Kriegstrauma sowie die seelische Verstümmelung durch den faschistischen Männlichkeits-Kult erlitten. Mit dem Bau eines Vorort Reihenhauses im Süden Frankfurts vollzog er diesen Neuanfang architektonisch, zudem prägte er als Städteplaner einer Frankfurter Wohnungsbaugesellschaft den Neuaufbau seiner Heimat und trieb so eine Architektur der Verdrängung voran, die bis heute die deutschen Städte prägt. Doch sowohl im Privaten als auch im Leben der Stadt meldete sich das Verdrängte zurück.
Das Würfelhaus ist eine architektonische Freilegung der deutschen Nachkriegszeit. Kundig und einfühlsam erzählt Sebastian Moll anhand seiner Familiengeschichte den schwierigen und schmerzlichen Versuch seiner Generation und mit ihr der deutschen Gegenwart, das Erbe des Nationalsozialismus abzutragen.
»Sebastian Moll gelingt es eindringlich, eine familiäre Black Box zu füllen und dabei berührend, zutiefst persönlich und zugleich klar analytisch der Frage nach Männlichkeitsbildern gestern und heute nachzugehen. Ein spannend geschriebenes Stück Erinnerungskultur, wie wir es nötiger denn je brauchen.« Shelly Kupferberg
Sebastian Moll, geboren 1964, lebt in New York und in Frankfurt. Er arbeitet als Korrespondent für deutsche Print- und Audio-Medien (u. a. <em>Süddeutsche Zeitung</em>, <em>Zeit Online</em>, <em>Deutschlandfunk</em>). 2022 veröffentlichte er <em>Lesereise New York</em>, eine Sammlung von Essays und Reportagen aus dem New York der Pandemie und der »Black Lives Matter«-Bewegung. In seiner Jugend war er Leistungsschwimmer, eine Erfahrung, die ihn nachhaltig geprägt hat.
1
Das Zimmer
Der Frühling des Jahres 2009 war ungewöhnlich schön, so jedenfalls will es die Erinnerung. Die Tage waren mild, die Luft klar, und über der Reihenhaus-Siedlung im Süden von Frankfurt lag der schwere Duft von Forsythien und Hyazinthen.
Das Labyrinth schmaler Gehwege zwischen den sorgsam gepflegten Gärten der Siedlung war satt überwuchert, und wenn ich in diesem Frühling mit den Stimmen spielender Kinder im Ohr hier entlanglief, überkam mich ein wohliges Gefühl der Geborgenheit.
An diesen Tagen erschien die Siedlung als all das, als was ihre Planer sich zu Beginn der 1960er Jahre gewünscht hatten: ein grünes Familienidyll mit der rechten Mischung aus Privatsphäre und nachbarschaftlicher Begegnung. Die grünen Parzellen, je individuell angelegt, verhinderten mitnichten, wie es die Kritiker seinerzeit befürchtet hatten, den nachbarschaftlichen Kontakt. Das Gespräch über den Zaun war Alltag, und Kinder spielten gemeinsam in den Gärten und Sandkästen.
Es stiegen Bilder in mir auf von verträumten Sommertagen, in denen wir uns auf dem Heimweg von der Schule in der Zeit und in dem Wegegewirr verloren, bis unsere Eltern Suchtrupps bilden mussten. Oder von durchlesenen Tagen unter dem Schatten des großen Ahorns hinter unserem Haus. Oder von langen Streifzügen durch die Wälder rund um die Siedlung, bei denen wir uns vorstellten, wir seien Trapper in den Weiten der Appalachen am Ende des 18.Jahrhunderts.
Es war sicher kein Zufall, dass mein Gedächtnis gerade jetzt die Siedlung in ein Idyll verwandelte, jene Siedlung, zu der ich fünfundzwanzig Jahre lang mit aller Kraft versucht hatte eine größtmögliche Distanz aufzubauen. Es war eine Flucht, die mich über Frankfurt am Main nach New York, dann über München und erneut nach New York geführt hatte. Ich wollte weg – weg aus dem Kleinbürgermief der westdeutschen Vorstadt, weg von der vermeintlich wohlgeordneten Existenz zwischen den gleichförmigen Reihenhäusern und vor allem weg von dem, was diese scheinbare Aufgeräumtheit dann schließlich doch nur dürftig zu übertünchen vermochte.
Doch jetzt, da die Auflösung des Hagebuttenwegs Nummer 41 anstand, wurde mein Blick frei für das, was meine Eltern sich erhofft und erträumt hatten, als sie im Jahr 1963 die Grundmauern eines der streng kubischen, zickzackförmig angeordneten Einfamilienhäuser in den sandigen Boden des hessischen Waldes gesetzt hatten.
Um 1960 herum, als die Gemeinde Langen die Gartenstadt Oberlinden in Rekordzeit aus dem Boden stampfte, waren meine Eltern ein Vorzeigepaar des deutschen Wirtschaftswunders. Mein Vater, 1927 als Sohn eines niederbayerischen Holzhändlers geboren, war nach seinem Wirtschaftsstudium in Frankfurt am Main jung in die Führungsetage der Nassauischen Heimstätte, eine der größten Frankfurter Wohnungsbaugesellschaften, aufgestiegen. Meine Mutter, Jahrgang 1930, Tochter eines Frankfurter Justizangestellten, war Redakteurin bei einem Wiesbadener Fachverlag.
Die Familiengründung des jungen Paares hatte sich ein wenig länger hinausgezögert. Der Wohnraum im zerstörten Nachkriegsfrankfurt, das zugleich als wirtschaftliches Zentrum der jungen Bundesrepublik einen enormen Zuzug zu verkraften hatte, war knapp. Meine Eltern konnten froh sein, nach der Heirat 1955 im Frankfurter Ostend eine kleine Zweizimmerwohnung beziehen zu können.
Außerdem wollte das junge Paar, dessen Jugend der Krieg und das Nazi-Regime aufgefressen hatten, leben. Es wurden Nächte in Jimmy’s Bar an der Messe durchgetanzt. Man ging ins Kino, um begierig französische und amerikanische Filme anzuschauen. Und man fuhr, wie so viele Deutsche in den 1950er Jahren, mit dem neuen Käfer in den Urlaub nach Italien.
Natürlich hätten meine Eltern als Doppelverdiener auch in die ausgesuchteren Vororte im Taunus ziehen können, wenn es allein um das Häuschen im Grünen gegangen wäre. Doch mein Vater wollte keine Villa, er wählte ganz bewusst ein normiertes Reihenhaus in einer jener Siedlungen, die ab Beginn der 1950er Jahre in immer weiteren Kreisen die Frankfurter Innenstadt umringten und in das Umland wucherten.
Die Bewerbung bei einer Frankfurter Wohnungsbaugenossenschaft war für den jungen Diplom-Kaufmann Heinz Moll keine rein pragmatische Entscheidung gewesen. Er hätte auch, in Frankfurt naheliegend, in das Finanzgeschäft einsteigen können, doch er wollte am Wiederaufbau der Stadt teilhaben. Er wollte die Zukunft mitgestalten.
Dabei war er, als nach 45 überzeugter Sozialdemokrat, von jenem »realistischen städtebaulichen Idealismus« getragen, den der Leiter des Stadtplanungsamtes Herbert Boehm im Jahr 1953 für Frankfurt beanspruchte. Boehm, 1949 in sein Amt eingesetzt, war nach dem Krieg aus Polen nach Frankfurt zurückgekehrt, wo er bereits Ende der 1920er Jahre als Dienststellenleiter unter dem berühmten Stadtbaurat Ernst May einen Generalbebauungsplan für die Stadt mitverantwortet hatte.
Er war die Blaupause für das »Neue Frankfurt«, dieser Generalbebauungsplan, jene Utopie der durch und durch modernen Stadt, deren Verwirklichung zuerst die Weltwirtschaftskrise und dann die Nazis verhinderten. Immerhin hatte May, der nie nach Frankfurt zurückkehrte, bis dahin deutliche Spuren in der Stadt hinterlassen.
Sie sind heute Pilgerstätten für Architektur-Connaisseurs, die original May-Siedlungen rund um Frankfurt, an der Nidda entlang in Praunheim, Westhausen, in der Römerstadt und am Riederwald. Die den vorfabrizierten, gänzlich rationalen Häusern zugehörige Frankfurter Küche von Margarethe Schütte-Lihotzky ist ein Prunkstück der Designsammlung des Museum of Modern Art in New York. Für May-Häuser, die einst dem Kleinbürgertum erschwingliche Lebensqualität bringen sollten, werden von Gutverdienenden, nicht zuletzt um Kennerschaft und Geschmack zu demonstrieren, Rekordpreise bezahlt.
Gemäß der Charta von Athen, dem Abschlussdokument der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, das May im Jahr 1933 mitverfasst hatte, sollte die neue Stadt die chaotische, mittelalterliche europäische Stadt entzerren und entrümpeln. Der Stadtkern, aus dem, wie in Frankfurt, das Bürgertum schon im 19.Jahrhundert geflohen war und der zunehmend verelendete, sollte in ein rein kommerzielles Verwaltungszentrum umgewandelt werden. Für die Arbeiter- und die Mittelschicht sollten rund um den Kern herum bezahlbare Quartiere mit hohem Lebensstandard entstehen. Licht, Luft und Grün waren die Gestaltungsprinzipien der Anlagen, Fertigbauweise und moderne Praktikabilität in den Häusern. »Hier sollen unsere Kinder zu gesunden und lebensfrohen Staatsbürgern heranwachsen«, hatte Ernst May gesagt.
Natürlich war der Rückgriff auf die Ideale des Neuen Frankfurt nach dem Krieg ideologisch nicht unproblematisch. Frankfurt machte, wie vielleicht keine andere deutsche Stadt, ernst mit der »Stunde Null«. Man tat so, als könne man einfach am Jahr 1933, dem Jahr der Athener Charta, wieder anknüpfen und so tun, als sei dazwischen nichts gewesen. Das neue Neue Frankfurt sollte eine durch und durch geschichts- und erinnerungslose Bauwelt darstellen.
Alexander Mitscherlich, der damals an der philosophischen Fakultät in Frankfurt lehrte und im Selbstversuch in einem Sozialbauturm in Frankfurt-Sossenheim wohnte, beschäftigte sich schon 1965, zwei Jahre vor dem gemeinsam mit seiner Frau Margarete verfassten Traktat über die Unfähigkeit der Deutschen zu trauern, mit dieser Frankfurter Anstrengung, die jüngere Geschichte auszuradieren. In seinem Pamphlet Die Unwirtlichkeit unserer Städte spricht er von Stadtlandschaften, die mit aller Macht die quälenden Traumata und Schuldgefühle, die der Zusammenbruch des Dritten Reichs ausgelöst hatte, zu vermeiden suchen.
»Eine Gesellschaft, die ihre ›Wiedergutmachung‹ – was gleich mit seelischer Genesung ist – dadurch betreibt, dass sie so tut, als hätte es keine Katastrophe gegeben«, heißt es da, »erwacht in ihren Gliedern sicher unterschiedlich schnell aus ihren Wunschträumen und Verleugnungen, aber sie erwacht. Dabei wird sich herausstellen, dass der Wiederaufbau, den wir erlebt und zugelassen haben, noch eine peinliche Nachphase der kollektiven Psychose des Nationalsozialismus ist, die zur Zerstörung unserer edelsten Stadtsubstanz geführt hat.«
Das Verdrängte hatte...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | aktuelles Buch • Architektur • Architekturgeschichte • Bauen • BRD • Bücher Neuererscheinung • Erbe • Familiengeschichte • Frank Biess • Frankfurt am Main • Frankfurt-am-Main • Generationen-Konflikte • Generationenporträt • Harald Jähner • Hausbau • Heimat • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Nazi-Ideologie • Neuanfang • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Neues Wohnen • Reihenhaus • Sabine Bode • Sittengemälde • transgenerationale Trauma-Transmission • Transgenerationalität • Vater-Sohn-Beziehung • Verdrängung • Vergangenheitsbewältigung • Vorstadt • Wohnungsbau-Gesellschaft |
ISBN-10 | 3-458-78135-8 / 3458781358 |
ISBN-13 | 978-3-458-78135-6 / 9783458781356 |
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