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In den Wald (eBook)

Roman | Was macht man mit einer vermissten Frau, die nicht gefunden werden will?
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78050-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In den Wald -  Maddalena Vaglio Tanet
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»Gleich mit dem ersten Satz hat uns Maddalena Vaglio Tanet gefangen - und dann entführt sie uns mit ihrer olivgrünen Sprache und erzählt mitreißend von der Tiefe der Ängste und der Weite des Herzens. Als seien Elena Ferrantes Heldinnen in das karge Norditalien gekommen, um sich zwischen zarten Sehnsüchten und herben Enttäuschungen am Ende doch selbst zu finden.« Florian Illies

Eines Morgens verschwindet die Lehrerin im Wald. Während das Klassenzimmer leer bleibt und ihre Verwandten Straßen und Bäche absuchen, scheint sie immer mehr mit der sie umgebenden Natur zu verschmelzen. Um sie herum streifen Keiler durch das Unterholz, über den Wipfeln der Birken erklingt der Gesang wilder Vögel. Immer tiefer versinkt sie in einer Decke von Moos und Erinnerungen - sie muss um alles in der Welt den tragischen Tod ihrer Lieblingsschülerin vergessen, der sie in den Wald trieb.
Hinter den geschlossenen Fensterläden und in den Straßen des piemontesischen Ortes Biella ist man unterdessen ratlos: Was ist mit Silvia geschehen? Und wer ist sie wirklich? Die gutmütige Lehrerin, für die sie alle halten, oder doch eine Außenseiterin, die etwas zu verbergen hat? Als ein Junge aus der Schule bei einem Streifzug durch den Wald auf die Lehrerin stößt, scheint die Suche ein Ende zu nehmen. Aber was macht man mit einer vermissten Frau, die nicht gefunden werden will?

In den Wald ist ein schillernder Roman über unausgesprochene Wahrheiten. Mit perfekt kalibrierter Spannung erzählt Maddalena Vaglio Tanet von dem Kampf einer Frau gegen ihre Geister - und von einem Wald, der Phantasmen heraufbeschwört und Wunden heilt.



Maddalena Vaglio Tanet, 1985 im italienischen Biella geboren, ist Literaturscout und Autorin. Sie veröffentlichte Gedichte und Kinderbücher. <em>In den Wald</em> ist ihr gefeierter Debütroman und war für den Premio Strega nominiert. Tanet lebt mit ihrer Familie in Maastricht.

7


Giovanna, so hieß das Mädchen. Am Ende des vergangenen Jahres hatte sie angefangen, den Unterricht zu schwänzen. Sie war schon immer schlecht in der Schule, sie lernte langsam.

»Was soll das? Du kannst dir nicht erlauben, zuhause zu bleiben«, hatte Silvia gesagt. Sie behielt sie in der Klasse, machte die Hausaufgaben mit ihr. Setzte sich neben sie, ein bisschen unbeholfen, aber entschlossen, und erst einmal packte sie die Brötchen aus, die sie für sie beide zubereitet hatte. Brötchen waren das Einzige, was Silvia außer Kaffee in der Küche zubereitete, denn abends aß sie immer bei Anselmo und Luisa. Auf diese Brötchen legte sie meistens Käsescheiben, denn sie hatte bemerkt, dass Giovanna gern Käse aß, oder Butter und Marmelade.

»Durchs Üben werden alle besser. Nimm mich. Ich bin nicht besonders intelligent, aber ich habe mich angestrengt.« Das sagte sie ohne falsche Bescheidenheit. Es war die Wahrheit, und man musste sich ihr stellen, Komplimente wurden verbannt. Immerhin fand Silvia sich intelligent genug, um zu erkennen, dass sie keine Geistesgröße war. Ein ganz normaler Kopf, dazu Beharrlichkeit und Fleiß. Im Internat, wo sie während des Krieges zur Schule gegangen war, bekamen andere die guten Noten, die Mädchen, die mühelos lernten, eine intuitive Auffassungs- und Erfindungsgabe hatten. Sie nicht, sie tat, was sie konnte. Sie besaß Pflichtgefühl, Durchhaltevermögen, und ihr war bewusst, dass sie zu gehemmt und unsicher war, um zu ertragen, als Dummerchen zu gelten. Sie war eine Waise, bei den Großeltern aufgewachsen, und schließlich ins Internat gekommen. Da konnte sie sich nicht auch noch Vorwürfe und Demütigungen wegen schlechter Schulleistungen aufbürden.

»Komm, Giovanna, wir machen die Aufgaben zusammen. Dann bist du morgen gut vorbereitet.«

»Danke, Maestra«, sagte das Mädchen. Und dann blieb sie stumm, weil sie den Mund voll hatte.

Giovannas Eltern waren Almhirten und vor ein paar Jahren nach Biella gezogen. Die Mutter pendelte zwischen der Alm im Elvo-Tal und der Kleinstadt. Dort wohnten noch ihre Schwester und der Schwager, deren Kinder in Bagneri zur Schule gingen, wo es nur eine einzige Klasse gab und die Pulte und Bänke zu einem Block aus dunklem Holz verbunden waren, wie in der Kirche. Auch Giovanna hatte dort ihre Grundschulzeit begonnen, aber im Dezember hatte sie sich eine Lungenentzündung geholt, war im Krankenhaus gewesen und hatte fast drei Monate Schulzeit verloren. Als sie wieder in die Klasse gekommen war, noch erschöpft und abgemagert, hatte sie das bisschen Italienisch, das der Lehrer ihr einbläuen konnte, völlig vergessen.

Im selben Jahr hatte ihr Vater Arbeit in der Fabrik gefunden, in der Textilindustrie, die in der Nachkriegszeit Aufschwung genommen hatte und weiterhin wuchs. Die Arbeit gefiel ihm nicht, aber der Lohn war anständig, die Kinder konnten in der Stadt zur Schule gehen, und in der Wohnung gab es ein Badezimmer, sogar mit Badewanne und Waschmaschine. Eine Candy Superautomatic 5 aus zweiter Hand, nur ein bisschen verbeult vom Hagel, der gefallen war, als sie die Maschine transportiert hatten.

Überall verließen die Menschen ihre Dörfer und Täler, auch Giovannas Vater war weggegangen, nur war er darüber unglücklich, verbittert geworden. Er trank, wie alle, und vertrug das sehr gut, eine große Flasche am Tag machte ihm gar nichts aus. Manchmal aber übertrieb er, trank auch Grappa dazu und Weinbrand. Er vermisste den Heuschober, das nächtliche Rasseln des Hundes an der Kette, die Kühe mit ihren langen Wimpern, sogar den Mist, der auf der gefrorenen, zertrampelten Weide dampfte. Einen Teil seiner Unzufriedenheit zwang er den anderen auf. Im Bett behandelte er seine Frau grob und hörte auch dann nicht auf, wenn sie weinte und die Kinder im Nebenzimmer im Schlaf wimmerten. Giovanna war nicht versetzt worden und hatte die Grundschule wieder in der ersten Klasse begonnen, doch sie bekam weiter schlechte Noten. Der Vater schlug sie, um sie zu erziehen, nie planvoll und nie lange, doch die harten Schwielen seiner Hände hinterließen blaue Flecken, die erst nach Wochen verblassten.

Giovanna war die Schläge leid, sie wollte bei der neuen Lehrerin in der Stadt einen guten Eindruck machen. Beide kostete es große Anstrengung, Giovanna auf ein Befriedigend zu bringen, doch kaum überließ man sie sich selbst, sackte sie wieder ab. In der Dritten drohte sie sitzenzubleiben, dann hatte Silvia es nicht über sich gebracht, Giovanna einer anderen Lehrerin anzuvertrauen, und sie mit Hilfe nach oben korrigierter Noten im Zeichnen, Turnen und in Handarbeit bei sich behalten.

Am Ende der Vierten hatte sich etwas verändert. Das Mädchen war frech geworden, aber auch verletzbarer. Ihre Augen glühten vor Unruhe, ihr waren Haare am Körper und Brüste gewachsen. Den Flaum unter der Nase versuchte sie mit den Fingern zu verbergen, im Licht des Badezimmerspiegels erinnerte er sie an den Schimmelbelag, der die Ecken der Zimmerdecke grau färbte.

Silvia hatte ihr eine Reihe schlechter Noten nicht ersparen können, obwohl sie die Reaktion des Vaters fürchtete. »Zwei Ohrfeigen mehr, Maestra«, hatte Giovanna lakonisch bemerkt.

Die Familie wohnte in einem großen Wohnblock direkt über dem Wildbach Cervo, zwischen den Fabriken, die seit anderthalb Jahrhunderten Wasserkraft für die Wollverarbeitung nutzten. Betonpfeiler und steile Zementwände erhoben sich neben Bögen aus rotem Ziegelstein und den Fabrikschornsteinen der Werkstätten aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Das Gebäude wimmelte von kinderreichen Familien, einige Jungen hatten begonnen, Giovanna anzustarren, dann fühlte sie sich zugleich schmutzig und geschätzt. Sie wusste nicht, ob sie sich vor ihnen aufplustern oder fliehen sollte. Zwei Jungen, Michele und Domenico, begnügten sich nicht damit, sie pfeifend zu mustern, sie sprachen auch mit ihr. Sie sprachen im Dialekt, waren flegelhaft und spielten sich als erwachsene Männer auf. Wie Giovanna hatten sie den disparaten Körper der Pubertät: sie zwei spitze kleine Hügel auf der Brust, die das Unterhemd zu durchbohren schienen, und Stoppeln in den Achselhöhlen, aber ihr Po war noch flach und die Hüften unter dem kugeligen Kleinmädchenbauch kaum gerundet; die beiden Jungen riesige Hände an den rastlosen Armen, Adamsäpfel wie zwei Nüsse, die ihnen im Hals stecken geblieben waren, spärliche Bartstoppeln am Kinn, aber Hals und Wangen noch völlig unbehaart.

Anfangs hatte Giovanna nicht reagiert. Die Verlegenheit machte sie stumpfsinnig, ihr Gesichtsfeld schrumpfte auf ein schwankendes Quadrat zu ihren Füßen, während sie versuchte, sich davonzumachen, um die nächstgelegene Ecke zu biegen, auf der Treppe zwei Stufen auf einmal hinabzuspringen, um zu verschwinden. Kaum war sie außer Reichweite, wurde ihr bewusst, dass das Herzklopfen und die Aufregung sie betäubten, ihre Nachmittage aber auch spannender machten, und am nächsten Tag bot sie sich an, die Nachbarin um das Waschmittel zu bitten, oder sie verweilte ohne Grund auf dem Treppenabsatz oder wagte sich bis in den Hof und lief dort mit gesenktem Kopf auf und ab, als hätte sie etwas verloren, weil sie herausfinden wollte, ob die beiden mit ihr sprechen würden.

Silvia ahnte die Tragweite der Veränderung, aber sie konnte dem Mädchen nicht folgen. Als alternde Jungfer wurde sie von allen behandelt wie eine Nonne. Sich selbst sah sie eher als einen pflanzlichen Organismus, einen Körper, den man nicht unbedingt keusch, eher nichtssagend hätte nennen können. Sie hatte versucht, das Mädchen zu tadeln: »Du bist unkonzentriert, ich kann nicht immer alles für dich tun.« »Komm, dann sind wir bald fertig.« »Pass auf, sonst muss ich dir ein Ungenügend geben.« »Giovanna, du hörst mir nicht zu.«

Nicht dass Giovanna aufgehört hätte, die Schläge zu fürchten, und obendrein stellte nun auch ihre Mutter sich gegen sie. Wenn es nach der Mutter ging, schien die Tochter andauernd in Gefahr zu sein. Jetzt, wo sie erwachsen wurde, stand viel auf dem Spiel. Nach Ansicht der Mutter war diese frühreife Entwicklung ein Schicksalsschlag. Mit elf Jahren echte Brüste zu haben, brachte Unglück, es setzte das Mädchen Gefahren aus, mit denen sie sich nicht befassen wollte, weil sie zermürbt war vom gewalttätigen Mann, dem Hinauf und Hinunter von der Alm und von den kleineren Kindern, die mit Schirmstöcken Fechten spielten und die Möbel durchlöcherten. Sie...

Erscheint lt. Verlag 9.9.2024
Übersetzer Annette Kopetzki
Sprache deutsch
Original-Titel TORNARE DAL BOSCO
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Angst • Bäume • Bücher Neuererscheinung • Charlotte McConaghy • Dämmerung • Die Wand • Donatella Di Pietrantonio • Dorf • Ein Tag wird kommen • Eskapismus • Familie • Finsternis • Flucht • Freundschaft • Fürsorge • Gastland Buchmesse Frankfurt • Gemeinschaft • Gewalt • Giulia Caminito • Häusliche Gewalt • Hütte • Kommune • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Lehrerin • Licht • Liebe • Märchen • Marlen Haushofer • Michela Murgia • Missbrauch • Mythologie • Nachkriegszeit • Natur • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Nord-Italien • Paul-Celan-Preis 2019 • Piemont • Resistenza • Rückzug • Scham • Schuld • Schülerin • Selbstmord • Solidarität • Spannung • Suche • Suizid • Tod • Tornare dal bosco deutsch • Trauer • Ungewissheit • Verantwortung • Weltkriege • Zivilisation • Zugvögel
ISBN-10 3-518-78050-6 / 3518780506
ISBN-13 978-3-518-78050-3 / 9783518780503
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