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Wesentliche Bedürfnisse (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8102-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wesentliche Bedürfnisse -  Res Sigusch
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Kunstprofessor Benjamin Leiser hat alles - Geld, Status, Beziehungen - und ist dennoch nicht zufrieden. Als er auf den Studenten Konstantin trifft, erwählt er ihn zum Sohn, den er nie hatte, aber immer wollte, und erinnert sich an das Jahr '89, als seine Träume noch realisierbar schienen: Maler werden, Vater sein, das Glück finden. 30 Jahre später versucht er, sich diese »wesentlichen Bedürfnisse« auf kreative Weise zu erfüllen. Ein Künstlerroman und eine Wendegeschichte über verpasste Gelegenheiten und scheinbares Versagen, erzählt mit filmischer Lebendigkeit und multiperspektivischem Witz. »Das ist meisterlich und sehr raffiniert, wie Res Sigusch Perspektiven wechselt, wie unser Blick geführt wird und unsere Wahrnehmung. Sodass wir, je nachdem, durch welche Augen und zu welchem Zeitpunkt wir auf diesen Mann und den Mikrokosmos des Kunstbetriebs schauen, das Gefühl haben, er ist ohne Moral - oder aber voller Mitgefühl und Liebe. Am Ende steht da ein echter Mensch; und der bleibt.« Sandra Hoffmann

Res Sigusch studierte von 2013-2017 Philosophie und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. 2017-2021 widmete sich Res dem Studium des Literarischen Schreibens am Literaturinstitut Hildesheim und organisierte und moderierte vor Ort die Veranstaltungsreihe »Diesen Satz streichen: Sexismus im Literaturbetrieb« zu geschlechterspezifischer Diskriminierung, kollektiver Wehrhaftigkeit und feministischen Allianzen. Res veröffentlichte diverse Prosa und nahm 2020 an der Autor*innenkonferenz in Hannover teil sowie 2021 am 24. Klagenfurter Literaturkurs.

Res Sigusch studierte von 2013-2017 Philosophie und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. 2017-2021 widmete sich Res dem Studium des Literarischen Schreibens am Literaturinstitut Hildesheim und organisierte und moderierte vor Ort die Veranstaltungsreihe »Diesen Satz streichen: Sexismus im Literaturbetrieb« zu geschlechterspezifischer Diskriminierung, kollektiver Wehrhaftigkeit und feministischen Allianzen. Res veröffentlichte diverse Prosa und nahm 2020 an der Autor*innenkonferenz in Hannover teil sowie 2021 am 24. Klagenfurter Literaturkurs.

Benjamin ist auf dem Weg zur Galerie. Frisch gewaschenes Haar, Wintermantel, schwarze Jeans und dazu passende Lederschuhe. An der Ecke biegt er in die Straße ein: Gelächter, das Klirren von Sektgläsern, Zigarettenrauch weht ihm entgegen. Die Gäste stehen in ihren Mänteln, königsblau und creme, unter der Leuchtschrift der Galerie. Vorteilhaftes Licht, denkt er.

Er geht auf die Gruppe zu, in der er Stephan stehen sieht. Gratulation, sagt Benjamin zu ihm und meint es fast so.

Stephan klopft ihm auf die Schulter. Na endlich, sagt er, ich dachte schon, du kneifst.

Bevor er antworten kann, hat sich Stephans Frau Katharina dicht neben ihn gestellt. Ich bin so gespannt auf deine Laudatio, sagt sie und stößt ihm den Ellenbogen in die Seite. Wieder so ein Appell an den Betrieb?

Benjamin lächelt. Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Für solche rebellischen Sachen bin ich zu alt.

Stephan lacht laut auf. Du bist fünfzig, du bist nicht alt. Fünfzig ist das neue dreißig.

Er versteht, dass Stephan an diese Dinge glaubt.

Eine junge Frau tritt aus der Galerie, sie balanciert ein Tablett mit Sektgläsern, hält es dezent in seine Richtung, ohne ihn anzusehen. Pflichtpraktikum, wahrscheinlich Kulturwissenschaften, von ihnen sieht er viele. Dankend lehnt er ab.

Dann ist sechzig also auch das neue vierzig?, will Katharina wissen und zwinkert ihrem Mann zu, aber Stephan ist bereits von Frauke, der Galeristin, abgelenkt.

Jetzt, wo der Herr Professor da ist, kann es ja losgehen. Die Nachbar*innen hier …, Frauke verdreht die Augen. Nach zehn Uhr darfst du nicht mal mit dem Schlüssel klimpern. Sie wendet sich ab, ruft: Husch, husch, zur Kunst, und Benjamin möchte im Boden versinken. An der Tür lässt er Stephan und Katharina den Vortritt, sieht das Plakat für Stephans Ausstellung. Es leuchtet schweinchenrosa und blutfarben im Fenster wie die Auslage einer Fleischerei. Der Titel in weißen Buchstaben darüber: Berührung und andere wesentliche Bedürfnisse.

 

Malen soll man nur, was man berührt hat, ist sein erster Satz. Katharina bekommt eine Gänsehaut. Zum einen wegen der Kälte (Frauke ist geizig und heizt kaum). Zum anderen ist Benjamin ein überraschend guter Redner, obwohl er normalerweise entweder gar nichts sagt oder alles ironisch meint. Er fährt fort, über die verschiedenen Arten von Berührung zu sprechen, die physische und die metaphysische, die materielle und die immaterielle. Er sagt, man müsse sich von der Welt berühren lassen, nah herantreten. Katharina schaut auf Stephan, der vor dem Fenster steht und an seinem Sekt nippt. Seit Jahren schon hat er nur noch das berührt, was sich für ihn lohnt (siehe Frauke). Es macht ihr nichts mehr aus, zu wissen, dass er mit Galeristinnen und Praktikanten, mit Fotografen und Journalistinnen schläft, wahrscheinlich hat er auch mit Benjamin geschlafen für dessen Laudatio. Sie lächelt in sich hinein, stellt sich vor, wie Stephan nackt auf dem Bauch liegt, Benjamin küsst seinen Hintern. Sie würde es ihm beinahe gönnen, von Anfang an hat sie Benjamins unglückliches Liebesleben mitverfolgt. Wann immer es um das Thema geht, sagt Stephan, Benjamin habe unrealistische Ansprüche. Katharina ärgert sich hin und wieder, dass sie wegen der Sache damals nicht noch mehr mit Benjamin geflirtet hat. Selbst jetzt, wenn sie es versucht, begreift er es nicht (oder will es nicht begreifen). Schade, dass Beziehungen immer so festgelegt sein müssen. Einmal ein Freund, immer nur Freund. Einmal die Ehefrau des Künstlers, nie etwas anderes als die Ehefrau des Künstlers. Einmal die Mutter von Zwillingen, immer Mutter von Zwillingen. Manchmal würde sie gern wieder achtzehn sein und alles, worauf sie sich irgendwann einmal festgelegt hat, offenlassen. Sexualität, Beruf, Wohnort, Partner, Kinder. Wer wäre sie dann? Wäre sie überhaupt jemand? Sie kann nicht verstehen, dass Leute an ihrer Identität festhalten, ja sie sogar aufbauen und stärken wollen, wenn es doch das Beste wäre, sie an den Nagel zu hängen. Laut würde sie das niemals sagen, vor allem nicht vor Frauke, die in Wahrheit nicht mit Kunst, sondern mit Identitäten ihr Geld macht. Dass sie die Einzelausstellung eines alten weißen Malers in ihrer Galerie duldet, kann nur eins bedeuten. Katharina atmet schwer aus und denkt an ihren Qi-Gong-Lehrer, loslassen und entspannen, loslassen und entspannen.

Benjamin spricht jetzt davon, dass Stephans Arbeiten die Angstlosigkeit des Künstlers zeigen, selbst die schwersten Umstände der menschlichen Existenz nicht unberührt zu lassen (die Stephan selbst natürlich nie erlebt hat).

– Themen, die die aufmerksame Beobachterin erahnen kann.

Katharina freut sich über diesen schön gegenderten Seitenhieb. Benjamin weiß natürlich genau, dass es so etwas wie aufmerksame Beobachterinnen auf Vernissagen nicht gibt. Alle sind wegen des Sekts gekommen oder wegen der Kontakte. Sie verlagert ihr Gewicht von einem Bein aufs andere, räuspert sich leise, hört wieder hin.

– wie wir in Berührung zu uns selbst stehen, zum anderen, zur vermeintlichen Wirklichkeit. Wie können wir uns selbst berühren? Berührt werden?

Eine perfekte Pause. Katharina würde wetten, dass in diesen zwei Sekunden alle, ausnahmslose alle, an Sex denken.

– Was passiert, wenn Berührung ausbleibt? Stephan Pragers Bilder erinnern uns an die heute mehr denn je entscheidende Frage: Welche Spuren wollen wir hinterlassen, auf unseren Körpern, den Körpern der anderen, in der Welt?

Es herrscht Stille, dann nickt Benjamin abschließend, und alle klatschen. Stephan geht nach vorn, umarmt seinen Freund und klopft ihm dabei kräftig auf den Rücken. Blitzlicht hier und da, dann tritt Benjamin zur Seite, während Stephan strahlend den Fotografen und dann Frauke zunickt, das Sektglas hebt. Katharina geht auf Benjamin zu, beugt sich zu ihm und sagt leise: Du kannst es nicht lassen, wieder ein Appell. Aber ein schöner. Benjamin schaut sie abwesend an und entschuldigt sich. Er müsse zur Toilette.

 

Eine Weile schließt er sich im Badezimmer ein, schaut in den Spiegel, streicht das Haar hinter die Ohren, bald vollkommen grau. Heute sieht er besonders müde aus, die Falten liegen tief. Tränenflüssigkeit sammelt sich unerwartet in seinen Augen. Die Leute draußen erscheinen ihm weit entfernt, selbst das Gesicht im Spiegel kommt ihm beliebig vor. Er wischt sich über die Lider. Wie armselig. Da predigt er über Berührung und Nähe, die Bedeutung von Gemeinschaft und Beteiligung, dabei ist er derjenige, der einsam im Badezimmer steht und sentimentalen Gedanken nachhängt. Dreißig Jahre sind vergangen, seitdem Stephan zum ersten Mal zu ihm gesagt hat: Malen sollte man nur, was man berührt hat. Es war in Stephans Wohnung auf einer seiner ständigen Feiern während Benjamins erstem Semester. Stephan war die meiste Zeit betrunken, das ist er heute auch.

Benjamin atmet schwer aus und wirft die Papiertücher in den Mülleimer. Ein letzter Blick in den Spiegel, dann öffnet er mit einem leichten Kopfschütteln die Tür.

Stephan ist immer noch von Leuten umringt und beachtet ihn nicht. Draußen vor der Fensterfront unterhalten sich Katharina und Frauke, beide rauchen. Benjamin stellt sich dazu, und wieder hält ihm die Praktikantin das Tablett hin. Dieses Mal lächelt sie ihn an, fragt: Einen Sekt, Professor Leiser, und er nimmt ein Glas. Dabei bemerkt er, dass sie in der Januarkälte leicht zittert.

Frauke, fragt er, was versprichst du eigentlich deinen Mitarbeiterinnen für unbezahlte Arbeit an Samstagabenden?

Katharina kichert. Attacke, sagt sie.

Wer sagt, dass es unbezahlte Arbeit ist, antwortet Frauke. Einblicke in die Cultural Industries, Förderung von Management- und Social-Media-Skills. Ich würde das nicht unbezahlt nennen. Sie zieht an ihrer Zigarette und bläst den Rauch hinauf, er wabert um die Leuchtschrift der Galerie. Das rote Licht, das auf Fraukes Kurzhaarfrisur fällt, lässt sie teuflisch aussehen.

Nennen wir es Sektausschenken, sagt er, für den Werdegang.

Die Mundwinkel der Praktikantin zucken. Dann erschrickt sie. Jemand hat ihr eine Hand auf den Rücken gelegt und sagt: Da bist du, hab dich gesucht. Sie tritt ein Stück zur Seite und gibt die Sicht auf einen Mann frei, den sie als ihren Freund vorstellt. Konstantin Mai.

...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Bildende Kunst • Freundschaft • Geteiltes Deutschland • Herbst 1989 • Kulturkritik • Kunstkritik • Künstlerroman • Kunstmilieu • Liebe • Malerei • Selbstverwirklichung • Träume leben • Wendegeschichte
ISBN-10 3-8270-8102-5 / 3827081025
ISBN-13 978-3-8270-8102-5 / 9783827081025
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