Wütendes Mädchen auf einer Steinbank (eBook)
320 Seiten
Frankfurter Verlagsanstalt
978-3-627-02333-1 (ISBN)
Véronique Ovaldé, geboren 1972, gilt als eine der bekanntesten Autorinnen Frankreichs. 2021 erschien in der FVA ihr Roman »Niemand hat Angst vor Leuten die lächeln«. Ihre Bu?cher wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen u?bersetzt. Ovaldé arbeitet als Lektorin und lebt mit ihren drei Kindern in Paris.
Véronique Ovaldé, geboren 1972, gilt als eine der bekanntesten Autorinnen Frankreichs. 2021 erschien in der FVA ihr Roman »Niemand hat Angst vor Leuten die lächeln«. Ihre Bücher wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ovaldé arbeitet als Lektorin und lebt mit ihren drei Kindern in Paris.
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Nach dem Anruf ihrer Schwester hat sich Aïda zum Mittagessen auf die Terrasse gesetzt. Es ist eine Gemeinschaftsterrasse, aber Aïda ist unter der Woche die Einzige, die sie mittags benutzt. Zum einen arbeitet sie tagsüber nicht, und zum anderen mag sie die Hitze. Die Mieter der Via Brunaccini 22 beschweren sich, weil sie keine Klimaanlage haben. Sie ziehen sich hinter geschlossene Fensterläden zurück, hängen nasse Handtücher in die Fenster, stellen an strategischen Punkten Ventilatoren auf (die Einfallsreicheren unter ihnen platzieren gefrorene Wasserflaschen vor den Ventilatoren, das ist ideal, die Luft, die auf ihren Nacken trifft, ist eisgekühlt, die Angina garantiert, oder die Verspannung, aber egal, solange es kühl ist). Während Aïda die Mattheit genießt, in die sie die Wärme versetzt, sie fühlt sich betäubt wie ein zu lange überschlagenes Bein.
Sie hat ihr Besteck bereitgelegt, die Nudeln auf einen hübschen Teller gegeben und den Parmesan in eine Schüssel (niemals die ganze Packung direkt auf den Tisch stellen, das ist kein Prinzip, nein nein nein, sondern eine Notwendigkeit, damit das Leben nicht den Bach runtergeht), sich vor ihren Teller gesetzt und die Füße auf einen Hocker gelegt. Der Ausblick, der sich ihr bietet, ist eine horizontale Anhäufung aus verschachtelten Dächern und Terrassen, zerfleddertem Mobiliar, Plastikstühlen, ausgebleichten Planen, Werbesonnenschirmen, Topfpflanzen, Fahrrädern, Parabolantennen, Spielzeugen, trocknender Wäsche, starr von Staub und Luftverschmutzung, Sichtschutzmatten und streunenden Katzen. Sie isst langsam. Weil sie diesen Augenblick schätzt und weil sie aufgehört hat, ihr Essen zu verschlingen, als wollte man es ihr wegnehmen oder als hätte sie etwas äußerst Dringendes zu erledigen. Der Weg zu diesem inneren Frieden war lang und mühsam. Sie ist sich nicht sicher, ob sie das alles mit ihrer Rückkehr nach Iazza über Bord werfen will. Außer. Außer sie könnte endlich verstehen, was vor mehr als zwanzig Jahren geschehen ist, nun, da sie einen klaren Kopf hat und die vorwurfsvolle Gegenwart des Vaters nicht mehr alles belasten würde. Das ist durchaus reizvoll. Aber höchst unsicher. Aber reizvoll. Und es bedeutet, die Büchse der Pandora zu öffnen, nicht? (Da ist sie wieder, diese Pandora, die wie ein grinsendes Teufelchen aus der Schachtel springt. Dieses Bild kommt ihr in den Sinn. Weil sie nicht mehr genau weiß, wer Pandora ist.) Die Möglichkeit eines Entschlusses beginnt in ihrem Hirn zu zirkulieren. Sie weiß, dass der Gedanke nicht angebracht ist. Manchmal kann man gegen unangebrachte Gedanken nichts ausrichten. Sie schleichen sich ein und setzen sich fest. Es heißt: Denk nicht an einen roten Büffel, und schon stellt man sich einen roten Büffel vor. Unangebrachte Gedanken sind wie rote Büffel. Wenn sie da sind, kann man sie nicht mehr ausquartieren. Bei jedem Versuch graben sie sich noch fester ein.
Aïda grübelt.
Warum nicht nach Iazza zurückkehren?
Es gibt keinen Grund, großer Gott, nein, sich zum Fernbleiben zu zwingen. Nichts, was ihr geschehen ist, ist (allein) ihr zuzuschreiben.
Sie weiß, dass das Leben, das sie führt, auf viele erbärmlich wirken mag, sie steht nachts an der Rezeption eines Hotels auf der Via Mariano Stabile, was ihr relative Ruhe verschafft und ihr erlaubt, den Großteil ihrer Zeit auf die Lektüre populärwissenschaftlicher Werke zu verwenden (im Moment liest sie Gekrümmter Raum und verbogene Zeit von Kip S. Thorne), eine Manie, durch die sie anfangs wirkte wie ein Mädchen, das sich ein bisschen zu sehr aufplustert, aber da sie nie jemandem Vorträge hielt, ließen es alle schulterzuckend als Marotte durchgehen, wie wenn jemand Strategiehandbücher zu Rate zieht, um jedes Mal beim Poker zu gewinnen, aber nie spielt. Ihr Vorgesetzter Gino empfängt sie abends regelmäßig mit der Frage, wie es dem Universum gehe, oder ob die Apokalypse immer noch für übermorgen anstehe. Ein paar Jahre lang hatte sie in einem Laden für Puppenhäuser gearbeitet. Sie fand es wunderbar, all die kleinen Töpfe und winzigen Schaukelstühle an alte gebeugte Damen zu verkaufen. Aber die alten Damen starben und niemand interessierte sich mehr für diese perfekte Miniaturwelt. Die Besitzerin war in Rente gegangen und wollte ihr das Geschäft übergeben. Was Aïda keine besonders gute Idee zu sein schien. Sie sah sich auch eine alte Dame werden, der es nicht mehr gelänge, sich in eine Welt in Normalgröße einzufügen – und es auch nicht wünschte. Danach war sie Wächterin auf der Mülldeponie von Capodicasa geworden. Sie wunderte sich immer, was die Leute so wegwerfen. Das war recht erholsam. Und sehr ruhig. Aber eines Tages hatten die Carabinieri die Leichen zweier Babys in einer Gefriertruhe gefunden. Aïda hatte sofort gekündigt.
Sie lebt in einer Pension im Vucciria-Viertel, das Gässchen unter ihrem Zimmer ist voller Müll, immer wieder kommt es dort zu blutigen Abrechnungen, die Elektrik spinnt, vom fließenden Wasser ganz zu schweigen, es ist laut und stinkt manchmal abscheulich. Aïda ist öfter in melancholischer Stimmung, aber weiß, wie sie sich aus diesem Zustand befreit, sie ist organisiert und methodisch, sie hat keinen Freund, sie hatte so einige und will nun keinen mehr, das wird sich wieder ändern, doch im Moment sieht sie darin keine Notwendigkeit, in ihrem Umfeld gibt es wenige Frauen wie sie, Frauen, deren Hauptbeschäftigung nicht die Männer sind. Aïda hingegen sagt zu den Männern am Ende: Du musst nicht nach Hause gehen, aber hier kannst du nicht bleiben. Als sie jung war, schickten die Barkeeper mit dieser Formulierung die letzten Gäste weg, wenn geschlossen wurde. (Sie denkt oft »als ich jung war«, obwohl sie nicht besonders alt ist, kaum älter als dreißig (immer ein bisschen merkwürdig, die Leute, die »als ich jung war« sagen, obwohl sie es offensichtlich noch sind – merkwürdig und recht ärgerlich, das finde ich auch.)).
Ihre Mutter würde zu ihr sagen »Du hast niemanden«, und ihre Mutter würde ihr raten, sich Strähnchen färben zu lassen, nicht mehr diese abgetretenen Sandalen zu tragen, sich unter den Achseln zu rasieren, ihre gräulichen Oberteile gegen Blümchenblusen zu tauschen und endlich EINMAL IM LEBEN freundlich zu sein.
Als hätte es ihrer Mutter genützt, freundlich zu sein.
Gut.
Das war von vorneherein klar. Der Klang der schwesterlichen Stimme würde für einen heftigen Erinnerungsschub sorgen. Und sie würde in Grübeleien versinken. Und Grübeln ist hässlich. Dabei hatte sie solide Dämme gebaut. Nicht, um zu vergessen. Man vergisst nie ganz, nicht wahr, das sagen einem alle ständig. Es ging immer darum, sich nicht überschwemmen zu lassen. Ihr Gleichgewicht hängt an der Instandhaltung dieser Dämme – ihr kleiner Kopf ist ein bisschen wie Holland, das versucht, die Nordsee davon abzuhalten, es zu überfluten.
Man muss wissen, dass ihre Mutter ihr jedes Jahr eine Karte schreibt und es sicher so anstellt, dass niemand, nicht der Alte, nicht die Schwestern, niemand in Iazza, außer vielleicht der Postbote, davon weiß, eine Karte mit ein paar Neuigkeiten – Wetter, Magengeschwüre, kurzer Überblick über die Todesfälle –, eine Karte mit einer hübschen, sorgfältig ausgesuchten Briefmarke, die meistens ein Unterwassertier zeigt, eine Seekuh oder einen Buckelwal, eine Karte, die keine Antwort verlangt. Die Aïda ohnehin nicht senden würde. Man könnte glauben, sie sei immer noch wütend. Sie wartet vielleicht einfach darauf, dass auf einer der mütterlichen Karten steht: Komm zurück, mein kleiner Schatz, während am Ende jeder Karte anstelle dieser Aufforderung ein Und bring sie uns zurück prangt, als ob so etwas möglich wäre, als ob so etwas in ihrer Macht stünde, und dieses »Bring sie uns zurück« verfehlt es nicht, dass sie jedes Mal wieder ein paar Minuten im Wahnsinn dieser Insel versinkt (bevor sie in Höchstgeschwindigkeit die erwähnten Deiche wieder aufbaut), ein Wahnsinn, der mit der primitiven Verdrängung ihrer Mutter verquickt ist, eine hartnäckige, faszinierende Verdrängung. Unnachgiebig.
Aïda räumt ihr Geschirr weg. Sie hört die Zwillingssöhne ihrer Nachbarin brüllen. Sie ist barfuß. Der Betonboden der Terrasse ist rau und heiß. Sie spürt, wie der Schweiß ein Rinnsal von ihrem Haar bis zu ihrem unteren Rücken bildet. Sie trägt es zum Knoten gebunden. Aïdas Haare sind so lang, schwarz, dicht und lebendig, dass man sie für ein schweres Wesen halten könnte, das an ihren Schädel gebunden wurde. Ihre kleine, hagere Gestalt voller Spitzen und Kanten steht im Gegensatz zu dieser Opulenz. Ihre buschigen Augenbrauen – oder beinahe: ihre Augenbraue – liegen über einem Paar dunkler Augen, die, wie ihre Mutter meinte, ihr »Gesicht verschlingen«. Ein ehemaliger Liebhaber, ein in vielfacher Hinsicht Süchtiger, sagte immer wieder, dass ihre Augenbrauen aussähen, als hätte man sie an ihr Gesicht genäht. Sie hat eine kurze Nase und schiefe Zähne. Als Jugendliche hatte sie deswegen Komplexe. Sie hat nach wie vor die Angewohnheit, mit geschlossenem Mund zu lachen, was stets ein wenig besorgniserregend oder scheinheilig wirkt. In so einem Fall lächelt man lieber selten. Die Leute, denen sie begegnet, stimmen nach einigem Nachdenken darin überein, dass sie schön ist. Ich weiß nicht, was ein solcher Konsens bedeutet, wenn er jemanden mit einem so besonderen Äußeren betrifft. Diese Sache mit der Schönheit ist ungerecht und mysteriös.
Sie geht sich einen Kaffee machen. Der Kontrast zum Licht draußen ist so stark, dass Aïda...
Erscheint lt. Verlag | 6.9.2024 |
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Übersetzer | Sina de Malafosse |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ausgestoßenwerden • Familiengeheimnis • Familienroman • Schicksalsschlag • Schwestern • Sizilien • ungeklärtes Verschwinden • Vater-Tochter-Konflikt • Verlust |
ISBN-10 | 3-627-02333-1 / 3627023331 |
ISBN-13 | 978-3-627-02333-1 / 9783627023331 |
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