Das Fest (eBook)
144 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3255-0 (ISBN)
Lucy Fricke wurde in Hamburg geboren und lebt in Berlin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Ihr Roman Töchter erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis, wurde in acht Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt.
Lucy Fricke wurde in Hamburg geboren und lebt in Berlin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Ihr Roman Töchter erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis, wurde in acht Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt.
ELLEN
Es wird nicht gefeiert.
Das hatte er vor Monaten gesagt, und jetzt stand er in Boxershorts und gebügeltem Hemd in der offenen Wohnungstür und hatte offenbar geglaubt, ich würde mich daran halten. Doch ich war diejenige, die andere zu ihrem Glück zwang, und so eine ließ man nicht draußen stehen. Zumindest verzichtete ich darauf, ihm ein Ständchen zu singen. Ich nahm ihn bloß in den Arm und schob mich an ihm vorbei in den Flur.
Unter den üblichen Zigarettengeruch hatte sich ein penetranter Duft von Räucherstäbchen gemischt, die überall in der Wohnung vor sich hin glommen. Über das Bett im Schlafzimmer war eine Tagesdecke in strahlendem Weiß geworfen, nicht ein einziges Kleidungsstück lag herum, es schien, als würde er gar keines mehr besitzen. Die gesamte Wohnung sah aus, als würde er hier nicht mehr wohnen, als wäre er bei sich zu Hause nur Gast.
Seit Wochen hatten wir uns nicht gesehen, grundlegend müde sei er, hatte er am Telefon gesagt, müsse mal nachdenken. Bloß dass einem nichts einfiel, wenn man immer nur zu Hause blieb, das war meine Meinung. Jakob und ich hatten gemeinsam die halbe Welt gesehen, und jedes Mal hatten die Freunde gedacht, bei der nächsten Reise werde aus uns beiden endlich ein Paar. Manchmal hatten wir es sogar selbst geglaubt. Wir waren ineinander verliebt gewesen, immer mal wieder, immer abwechselnd, nie gleichzeitig. Wir hatten, könnte man sagen, über drei Jahrzehnte Zeit gehabt, uns zu verpassen. Und jetzt standen wir hier, als beste Freunde an seinem fünfzigsten Geburtstag, den er nicht feiern wollte.
Er wisse gar nicht, wie das gehen solle in diesen Zeiten, wie man die Laune dafür aufbringen könne. Kriege, Anschläge, Epidemien, Naturkatastrophen und Wahlerfolge, die einem die letzte Hoffnung austrieben. Da gebe es nichts zu feiern, wirklich ein absurder Vorschlag, das hatte ich mir anhören müssen.
Bitte, Ellen, alles, nur keine Party. Keine Überraschungen, erst recht keine Gäste.
Ich stellte die große Einkaufstasche in seiner Küche ab und lächelte, gnädig, so gerade noch gnädig. Wie ich Menschen anlächelte, die ich eigentlich schütteln wollte. An den Schultern packen und kräftig durchschütteln, stattdessen musste ich nun lächeln und die Torte auspacken.
Auf dem Tisch lagen ein paar Karten, die Jakob als seine Geburtstagspost präsentierte. Rabattcoupons von Karstadt, Otto und einem Teegeschäft, bei dem er regelmäßig japanischen Grüntee orderte.
Sonst nichts?, fragte ich.
Doch. Eine Einladung zur Krebsvorsorge.
Er ließ sich auf den Stuhl fallen mit einem Stöhnen, das klang, als hätte er mit allem abgeschlossen.
Was ist mit deiner Wohnung passiert?
Ausgemistet, sagte er. Das sei doch alles nur Ballast. Der ganze Krempel, die ganzen Erinnerungen, alles entsorgt.
Das heißt, du machst Platz für was Neues, schlug ich vor.
Halte ich für unwahrscheinlich.
Aber es ist nicht ausgeschlossen.
Ausschließen würde ich nicht einmal die Existenz Gottes.
Ich nahm den Champagner aus der Tasche, dazu eine Rolle Luftschlangen und einen Beutel mit goldenen Zahlen, als könnte man gute Laune im Vorbeigehen in der Bastelecke kaufen. Genauso gut hätte ich ein Tischfeuerwerk voller Plastikmüll zünden können. Früher hätten Jakob und ich darüber gelacht, wie wir über alles gelacht hatten, am lautesten über uns. Ich wusste nicht, wohin das verschwunden war, und konnte nur hoffen, wir hatten es der nachfolgenden Generation vermacht. Auch wenn es selten Anlass gab, das zu glauben.
Als ich zwei Packungen bunter Geburtstagskerzen aus der Tasche holte, gab Jakob abermals sein erschöpftes Seufzen von sich.
Immer mehr Kerzen, immer weniger Puste, meinte er.
Ich hatte alt werden wollen mit diesem Freund, aber doch nicht jetzt schon. Ich steckte nur eine einzelne Kerze in die Schokoladenglasur der Torte und sagte, dass wir auf diese Weise mit den restlichen Kerzen bis zu seinem Hundertsten auskommen würden. Was für ihn, wie er sofort erklärte, alles andere als eine reizvolle Vorstellung sei.
Es ist nur eine Zahl, Jakob, sagte ich und dachte: Nicht einmal die schlimmste, die schlimmsten Zahlen standen uns noch bevor, wenn alles gut ging.
Nichts sei jemals nur eine Zahl, entgegnete er und zündete sich eine Zigarette an.
Als wir vor Monaten erstmals über diesen Tag gesprochen hatten, war offensichtlich geworden, dass die Fünfzig für Jakob ein Abgrund war. Der Gedanke, ein ganz und gar mittelmäßiges Leben geführt zu haben, nichts erreicht, nichts vollbracht, nichts hinterlassen, ein Leben ohne Spuren. Kein Haus, kein Kind, kein Baum. Er glaubte, mit fünfzig seien die Weichen endgültig gestellt, nichts könne sich mehr ändern, alles sei dem Untergang geweiht. Das Schlimmste an jenem Aprilabend, den wir auf seinem kargen Balkon verbrachten, war mein Eindruck, dass er sich mit alldem abgefunden hatte. Es war ein Abgrund, in den ich mit zu fallen drohte, und das nicht nur aus alter Solidarität. Ich war nur wenige Monate jünger und für Krisen aller Art schon immer anfällig gewesen. Vielleicht auch deshalb hatte ich begonnen, seinen Geburtstag vorzubereiten. Ich hatte Nachrichten geschrieben, Telefonate geführt, mich mit Bedenken und Zweifeln herumgeschlagen, die allesamt begründet waren, doch ich hatte mich nicht davon abbringen lassen, und jetzt konnte ich nichts mehr tun, als meinem Plan zu folgen.
Allerdings musste ich Jakob noch aus dem Haus bekommen. Notfalls würde ich die Wohnung in Brand stecken, Kerzen hatte ich schließlich genug.
Eine Zahl habe immer eine Bedeutung, behauptete Jakob jetzt. Jede Zahl ziehe Konsequenzen nach sich. Kontostände, Aktienkurse, Temperaturen, Tarife, Umfragen, Quoten, überall Zahlen, an denen wir uns festklammerten, die unser Leben bestimmten, uns zermürbten. Zu sagen, es sei nur eine Zahl, sei absoluter Unfug, blinde Aufmunterung, was nun wirklich nicht meine Art sei.
Unbeirrt öffnete ich mit einem dumpfen Knall den Champagner und füllte die Gläser.
Er wisse natürlich, wie ich das meine, sagte Jakob, aber dafür sei er gerade nicht sonderlich empfänglich. Für dieses: Andere werden mit Ende siebzig Präsident der Vereinigten Staaten, andere machen mit zweiundneunzig Jahren noch einen Fallschirmsprung oder ein Vermögen. Für dieses: Es ist immer noch alles möglich. Denn genau das sei ja das Anstrengende. Dass es nie aufhöre, stattdessen regelrecht erwartet werde, dass man noch immer Ziele habe, große Träume, er hingegen wolle jetzt einfach seine Ruhe.
Ich zündete die Kerze für ihn an, reichte ihm sein Glas, und wir stießen an in vollendeter Trostlosigkeit.
Herzlichen Glückwunsch, sagte ich, und Jakob nickte, bevor er mit geschlossenen Augen die Flamme auspustete.
Ich wusste, er pustete nur für mich. Jakob wünschte sich nichts. Er hatte vor genau zweiundzwanzig Jahren mit dem Wünschen aufgehört. Wenn Wünsche wahr wurden, das wusste er seitdem, konnte es den Anfang einer Tragödie bedeuten. Andererseits, dachte ich, konnte im Rückblick alles den Anfang einer Tragödie bedeuten. Nur allzu oft im Leben wünschten wir uns, was uns später ruinierte. Häuser, Ehen, Erfolge, wir hatten die nahezu unglaubliche Fähigkeit, an allem zu zerbrechen.
Ich schob ein quadratisches Päckchen zu ihm hin, notdürftig verpackt in verknittertem Papier, mit einer schlaffen Schleife drum herum. An einer Stelle hatte sich das Klebeband gelöst. Mit Liebe verpackt, nannte ich das, und Jakob fühlte sich nun in der Annahme bestärkt, dass meine Liebe über wenig Talent verfüge und gänzlich ungeschickt sei, worin ich ihm leider beipflichten musste. Meine Liebe kam auch heute um die Ecke wie ein betrunkener, humpelnder Zwerg.
Schon als er die Schleife abriss, fiel das Geschenk heraus.
Fragend hielt Jakob das kleine schwarze Stoffteil in der Hand.
Damit du keine Ausrede mehr hast, sagte ich.
Ob ich ihm ernsthaft eine Unterhose schenke, damit er sich, woraus auch immer, nicht herauswinden könne? Ob ich ihm Angst machen wolle?
Es ist eine Badehose, sagte ich.
Jakob füllte unsere Gläser randvoll nach und schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall werde er da rausgehen, in diesen Jahrhundertsommer, achtundzwanzig Grad an einem 19. September, das Ende sei nah, noch nie sei es so heiß gewesen an seinem Geburtstag. Wenn ich wolle, könne ich jetzt auch die goldenen Ziffern aufhängen, das störe ihn nicht.
Wir haben nicht mehr so viel Zeit, sagte ich.
Jakob fragte, ob das eine generelle Ansage sei.
Doch ich meinte uns, nicht die Menschheit im Allgemeinen, ich meinte unser kleines Leben, das nun, wie ich schätzte, im letzten Drittel angekommen war. Manche nannten es die zweite Jugend, bloß mit Aktienpaket, Bauchfett, beginnender Arthrose und, wie sie nicht müde wurden zu behaupten, Gelassenheit.
Was glaubst du, wie viele gute Jahre haben wir noch?
Zwanzig, sagte Jakob, ohne zu zögern, danach gehe es definitiv bergab, da müsse man sich von seinem Körper dann verabschieden.
Das sind noch zwanzig Sommer, sagte ich. Ich rief es sogar laut aus, wie einen Schlachtruf.
Noch zwanzig Sommer, Jakob!
Was ich meinte: Wir sollten keinen Sommer...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 50. Geburtstag • Alter • Berlin • Bestseller • Beziehung • Freundschaft • für Frauen • Für Männer • Geburtstag • Geschenk • Geschenkbuch • Jugend • Karriere • Kino • Krise • Melancholisch • Regisseur • Roman • Rückblick • Überraschung |
ISBN-10 | 3-8437-3255-8 / 3843732558 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3255-0 / 9783843732550 |
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