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Laufen. Leiden. Glücklich sein -  Walter Widmer

Laufen. Leiden. Glücklich sein (eBook)

Mein Jakobsweg
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
138 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-3522-8 (ISBN)
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Wandern ist in! Drei Monate lang wanderte der Autor mit seiner Ehefrau auf dem Jakobsweg von der Schweiz quer durch Frankreich und quer durch Spanien bis nach Santiago de Compostela. Anschliessend engagierte er sich während zehn Jahren jeweils für einige Wochen als Hospitalero einer Pilgerherberge in Spanien. Geschichten von Pilgernden aus aller Welt, die zum Teil aussergewöhnliche Gründe und Erwartungen für den Weg hatten oder die durch ihre Lebensgeschichten aufgefallen sind, ergänzen die persönlichen Erfahrungen. Tragisch, speziell, komisch, unterhaltsam. Diese Trilogie aus persönlichen Erfahrungen, Begegnungen mit speziellen Menschen in der Herberge, und eingebettet in das Tagebuch, hebt sich ab von anderen Reiseberichten über den Jakobsweg. Stimmige Fotos ergänzen den Text und lockern auf.

Walter Widmer (*1947) wohnt in Luzern. Beruflich war er in verschiedenen Bereichen des touristischen Marketings tätig und reiste beruflich und privat in viele Länder der Welt. Nach seiner Pensionierung wanderte er mit seiner Frau auf dem Jakobsweg von Luzern bis Santiago de Compostela. Fasziniert von dieser Erfahrung betreute er zehn Jahre lang je einige Wochen eine Pilgerherberge in Spanien. Er wanderte auch von Luzern nach Rom auf der Via Francigena sowie von Luzern nach Wien auf dem Jerusalem Way.

Gedanken, Erwartungen, Erfahrungen


Schon seit einigen Jahren hatte ich mich mit dem Gedanken befasst, nach der Pensionierung auf den Jakobsweg zu gehen. Meine Frau Ruth war da weniger euphorisch, war aber stets auch damit einverstanden, wenn ich den Weg allein ginge. Etwas später meinte sie, sie würde auf einigen besonders schönen Etappen mitwandern. Und noch etwas später konnte sie sich vorstellen, mich auf dem ganzen Weg zu begleiten, aber hin und wieder mit Bus oder Bahn in eine grössere Stadt voraus zu fahren und dort auf mich zu warten. Zu guter Letzt: sie hat mit mir zusammen jeden Meter quer durch Frankreich und quer durch Spanien zu Fuss erwandert.

Es war wunderschön, diesen Weg zusammen mit Ruth zu gehen. Im Vorfeld habe ich mich schon mal gefragt, ob das wohl gut geht: drei Monate lang Tag und Nacht zusammen sein und alles gemeinsam tun. Wer hat diese Gelegenheit schon in seiner Ehe?

Es ging gut! Ruth und ich hatten nie ernsthafte Probleme oder grössere Meinungsverschiedenheiten auf dem Weg! Und dabei waren wir nie weiter auseinander als 100 Meter Luftlinie! Aber wir hatten viele unglaublich intensive und glückliche Momente, die wir gemeinsam erleben und teilen durften, und die wir unser ganzes weiteres Leben lang nicht vergessen werden.

Drei Wochen nach meinem letzten Arbeitstag sind wir aufgebrochen. So war es geplant: ich wollte schnell und effizient von meinem Berufsleben Abschied nehmen können. Physisch und mental jeden Tag 25 Kilometer weiter weg «von meinem bisherigen Leben» zu sein, das war das Ziel, mein grosser Wunsch und meine Hoffnung.

Und es hat total funktioniert! Schon nach etwa zwei Wochen hatte ich eine unglaublich intensive Erkenntnis: ich hatte keine Pendenzen mehr, meine To-Do-Liste war leer!

Ich hatte mich innerlich geweigert, irgendwelches Tagebuch zu schreiben oder auch nur Notizen zu machen. Ich wollte nicht den ganzen Tag über mit der Frage belastet sein, was ich denn am Abend über den heutigen Tag aufschreiben sollte. Ich wollte nichts müssen.

Ruth aber hat in einem Mini-Milchbüchlein täglich einige Zeilen geschrieben. Daraus habe ich dann, Wochen nach unserer Rückkehr und in vielen Schritten, diesen Bericht verfasst. Danke, Ruth, für die Notizen!

Ich war mir bewusst, dass der Jakobsweg ein Pilgerweg ist, zusammen mit Rom und Jerusalem einer der drei grossen der Christenheit. Und doch hatte ich Hemmungen, den Weg als «Pilger» zu gehen. Zu gross wären die Anforderungen an mich selber gewesen. Hätte ich dann öfter beten müssen? Frömmer sein? Immer wieder «Ultreïa!» singen wie andere Pilger? Alle Kirchen am Weg und jeden Tag eine Pilgermesse besuchen? Statt in einfachen Hotels in nüchternen, einfachen Herbergen übernachten?

Wir haben Mitpilger getroffen, die sich auch ein Hotel hätten leisten können, die aber so pilgern wollten, wie man es früher gemacht hat: einfach und mühsam. Nur, es gab auch früher schon Pilger, die sich etwas mehr leisten konnten und es auch getan haben. Sie sind mit Pferd und Wagen zum Grab Jakobus’ des Älteren gepilgert. Oder sie haben gar einen Stellvertreter für ihre Pilgerfahrt engagiert!

Zudem: viele Pilger haben damals zu Hause nicht besser gewohnt als dann auf dem Weg. Man stelle sich nur die Wohnverhältnisse anno 1291 in der Schweiz vor! Während sich die Drei Eidgenossen auf dem Rütli die gegenseitige Unterstützung geschworen haben, waren Pilger auf dem Jakobsweg! Die Zeiten haben sich geändert; warum also nicht auch das Pilgern?

Ich habe mit grossem Respekt an jene Millionen gedacht, die in den Hunderten von Jahren vor uns nach Santiago de Compostela gepilgert sind. Viele taten das nicht freiwillig wie ich, sondern waren dazu von Richtern verurteilt worden.

Und viele davon sind nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, weil die Strapazen schlicht zu gross waren oder weil sie verunglückt sind. Zahlreiche Kreuze und Gedenksteine am Weg erinnern an sie.

Wir sind ja weiss Gott keine grossen Sportler und wir hatten vor der Abreise schlicht nicht die Zeit zum Trainieren! Deshalb hatten wir uns vorgenommen, die ersten zwei Wochen bewusst easy anzugehen. Einige Male hatten wir schon kurz nach dem Mittag ein schönes Dorf mit einer schönen Unterkunft erreicht und entschieden, nicht weiterzuwandern, sondern zu bleiben, unsere Füsse zu schonen und uns auszuruhen. Das hat sich gelohnt!

Im Allgemeinen waren Tagesetappen von unter 30 km für uns gut machbar. Aber wenn wir mal mehr als 30 km gewandert sind, dann haben uns die Füsse während der ganzen Nacht, selbst im Traum und am Morgen noch geschmerzt.

Die Herausforderung des Jakobsweges war für mich nicht, 25 km an einem Tag zu wandern. Es war vielmehr die Tatsache, dass ich schon gestern 25 km gewandert war und dies morgen wieder zu tun gedachte, und vorgestern auch schon, und übermorgen wieder. Pilgern ist ein Ausdauersport!

Der Weg hat mich mehrmals an meine Grenzen gebracht! Nur: wo wären diese Grenzen eigentlich? Hätte ich eine halbe Stunde länger wirklich nicht auch noch geschafft? Zu oft setzt der Kopf die Grenzen und nicht der Körper.

Man hat mich gefragt, ob ich auf dem Weg viel gebetet hätte. Was heisst «beten»? Reden mit Gott? Ja, mit ihm habe ich mich oft unterhalten: ich war dankbar, endlich auf diesem Weg zu sein, auf den ich mich so lange gefreut hatte; und ich fühlte mich privilegiert und war glücklich, diesen Weg gehen zu dürfen.

Oft habe ich an jene gedacht, die auch gerne auf dem Jakobsweg wären aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht sein können; und an jene, die Schwereres zu tragen haben als ich.

Hin und wieder haben wir in Kirchen am Weg Kerzen angezündet für die, die uns lieb sind: für unsere drei Supertöchter und ihre Familien, für Verwandte, Bekannte und Freunde.

Der Weg ist wunderschön und brutal. Er erfordert volle Konzentration. Man läuft nicht immer nur auf gut präparierten Wegen, sondern oft über Stock und Stein. Und auch wenn der Weg durchgehend vorbildlich ausgeschildert ist: man muss auf die Wegzeichen achten. Die typischen gelben Pfeile sind oft an Baumstämmen, Weidezäunen, Gartenmauern usw. von Hand hingemalt, oder auch einfach auf dem Trottoir in der Stadt. Doch es gibt auch vorzügliche Reiseführer, die den Weg sehr genau beschreiben. Ich habe den «Outdoor» vom Conrad Stein Verlag benützt.

In den ersten elf Wochen hatten wir nur wenige wirkliche Regentage und vielleicht ein paar mit Gewittern. Sonst war meist super Wetter: Ende August noch heisser Sommer, später richtig goldene Herbsttage. Erst in der letzten Woche in Galicien hat es nur noch geregnet. Aber das ist bekannt: in Galicien regnet es quasi täglich einmal.

Das musste wohl so sein: die Aussicht auf unsere trockene Wohnung und die warmen Betten zu Hause haben uns stark über die Melancholie hinweggeholfen, dass das einzigartige Projekt Jakobsweg auch einmal zu Ende geht.

«Sie laufen wieder!» oder «Es läuft uns!» oder «Widmer›s Pilgerzügli ist wieder unterwegs!» haben wir manches Mal gescherzt, und wir waren glücklich!Wandern macht süchtig! Oft waren wir am Abend wirklich todmüde und alle unsere Knochen, Muskeln und Sehnen schmerzten uns. Trotzdem: am nächsten Morgen konnten wir kaum warten, wieder unterwegs zu sein. Wir haben ja auch wunderschöne Morgen gehabt: frische, klare Luft, strahlender Sonnenschein, tiefblauer Himmel, duftende Wälder, eine faszinierende Landschaft. Und von wegen süchtig: in den letzten paar Jahren bin ich auch von Luzern nach Rom und von Luzern nach Wien gewandert …

Als Pilger auf dem Jakobsweg ist man Jemand: «Bonjour les pèlerins!» haben wir in Frankreich oft gehört; Autofahrer haben uns zugewinkt; Lastwagenfahrer haben uns von weitem schon gehupt, freundlich gehupt! Man hat uns den richtigen Weg gezeigt oder auf Abzweigungen aufmerksam gemacht. Bauern am Weg haben uns eingeladen, uns von ihrem Apfelbaum reichlich zu bedienen, «aber nicht von diesem hier, sondern von jenem weiter unten, da reifen die besseren Äpfel!» (Ein befreundeter Landwirt hier in der Schweiz hat gemeint, vielleicht gehöre «jener weiter unten» schon dem Nachbarn …)

Als Pilger erhält man nicht nur in privaten und öffentlichen Herbergen, sondern auch in vielen Hotels und Restaurants günstigere Preise. Man muss nicht wohlhabend sein, um ein Pilger zu sein.

Je länger wir unterwegs waren, desto mehr hat man uns bewundert. Wie oft sind nicht Mitpilger beim gemeinsamen Abendessen aufgestanden, um den Tisch herum zu uns gekommen und haben uns für die vielen Tage ab Genf gratuliert. Bei aller Bescheidenheit: das tat echt gut!

Der Jakobsweg ist eine Schule fürs Leben. Wenn der Weg wieder mal steil bergauf ging und nicht aufzuhören schien, dann haben wir uns gesagt, dass wir ihn ja freiwillig gehen und uns niemand dazu zwingt; dass unser Ziel Santiago de Compostela ist und dass es zu dieser Route hier wohl keine bessere Alternative gibt. Und dass jedem Aufstieg auch wieder ein Abstieg folgt. Und dass man dann auch diesen gehen muss. Und wenn ich jeweils dachte, der Weg gehe sicher dort vorne rechts weiter über den Hügel,...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7583-3522-1 / 3758335221
ISBN-13 978-3-7583-3522-8 / 9783758335228
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