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Ich habe Freunde mitgebracht (eBook)

Roman | »Ein anrührendes Generationenporträt.« DIE ZEIT

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3246-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich habe Freunde mitgebracht -  Lucy Fricke
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In einer Krise gibt es nichts Besseres als Freunde, denen es richtig mies geht. Ein Leichendarsteller träumt vom großen Durchbruch, ein Comiczeichner vom ersten eigenen Band, eine Radiomoderatorin vom Nachwuchs, und ein Scriptgirl will nur noch seine Ruhe. Doch zum Glück ist Flucht immer eine Option. Keinesfalls absichtlich finden sich die vier Freunde im selben Kleinwagen wieder, und eine kurze Strecke wird zur großen Fahrt.

Lucy Fricke wurde in Hamburg geboren und lebt in Berlin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Ihr Roman Töchter erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis, wurde in acht Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt.

Lucy Fricke wurde in Hamburg geboren und lebt in Berlin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Ihr Roman Töchter erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis, wurde in acht Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt.

WEGE ZUM RUM


Essen hätte sie sollen, das wäre eine kluge Entscheidung gewesen, doch Betty füllte nur den Becher voll und ließ den Rum die Kehle runterrauschen. Sie trank eigentlich nie Rum, wusste nicht, wie diese Flasche in ihre Küche gelangt war, machte sich darüber nicht allzu viele Gedanken. Noch einen Schluck. Die Musik lauter drehen. Machen Sie sich eine Markierung bei der 8, hatte ihr Nachbar gesagt, als er sich das letzte Mal beschwerte, dann wissen Sie auch in besoffenem Zustand, wie laut Ihre Musik ist. Eine halbe Stunde war er damals zwischen seiner und ihrer Wohnung hin- und hergelaufen, hatte schließlich die 8 als seine Toleranzgrenze festgelegt, bei stark basslastiger Musik auf 7 runterkorrigiert. Widerlicher, kleiner Drecksack, dachte sie, wie er mit seinem fleischigen Buckel die Treppen hochhüpft, immer scheißfröhlich, pfeift sogar beim Brötchenholen, fährt Fahrrad mit Sportlenker und Helm, keine 25 und hängt schon am Leben, und diesen Buckel, den gönnte sie ihm so richtig. Die langbeinige 19-Jährige, die er sich hielt, war dumm wie Stroh und extrem laut, die solle sich mal eine Markierung einbauen, hatte sie ihm damals noch hinterhergebrüllt.

Betty zog einen dicken Pullover über, kochte Kakao, gab einen Schuss Rum in den Becher, einen ordentlichen Schuss, fegte die Splitter von der Fensterbank, bevor sie sich setzte und auf den Platz hinausblickte. Ein Taxi ohne Licht rollte vorbei, Schrittgeschwindigkeit, der Spielplatz war nass und dunkel, die Markise der Eisdiele seit Monaten eingerollt, vor der Pizzeria verrottende Plastiktische, hinter dreckigen Scheiben die Hoffnung auf Frühling und Umsatz, nur der Spätkauf florierte und die Videothek nebenan. Die Kirche lud zum Orgelkonzert, doch außer den Freunden des Organisten schien niemand zu kommen, und Freunde hatte ein Organist hier nur wenige.

Er hatte gekocht, Henning hatte genau genommen fünf Gänge vorbereitet, man hätte sagen können, die Pflaumen in Speck zählten nicht als Gang, allenfalls ein Gruß aus der Küche, aber der Steinbutt, das Rinderfilet, das Walnussparfait, die Käseauswahl, das waren Gänge, auf jeden Fall. Er hatte alles vorbereitet, Champagner mit den Pflaumen, einen Grauburgunder zum Fisch, einen Bordeaux zum Fleisch, der Dessertwein, alles war da, nur die Frau kam nicht, sie rief nicht einmal an. Er hatte alles überprüft, ihr Zug war um 18:45 angekommen, Ostbahnhof, das waren fünf Minuten mit dem Taxi, zehn mit dem Bus, fünfundzwanzig zu Fuß, aber jetzt war es fast 20 Uhr und der Fisch ausgetrocknet.

Von Anfang an hatte er nicht verstanden, was das sollte. Warschau, hatte Martha letzte Woche plötzlich gesagt, ich fahre nach Warschau, wieso, hatte er gefragt, was zum Teufel, und mal raus, hatte sie geantwortet, und Polen, noch nie war ich in Polen, da muss man doch mal hin, Polen fängt ja gleich hinter der Grenze an, und: viel schöner als sein Ruf, und überhaupt, ich muss einfach mal raus, du weißt schon.

Ja, er wusste schon, seit Jahren wusste er schon, Martha musste raus, und an diesem Satz blieb er hängen, jetzt, da sie offensichtlich den Zug zurück nicht genommen hatte, verpasst war ausgeschlossen, sie verpasste nie irgendetwas, erreichte alles immer in letzter Sekunde. Das führte dazu, dass sie ständig am Herumrennen war, selbst wenn sie saß. Martha kam nirgends an, auf jeden Fall nicht bei ihm, er war allenfalls die Station, an der sie sich ausruhte.

»Du bist die beste Ehefrau der Welt«, hatte sie neulich zu ihm gesagt und dabei gelächelt, als habe sie ihm gerade einen Antrag gemacht. Hatte sie nur leider nicht, und die Zeit der Fehlinterpretationen und Missverständnisse lag hinter ihnen, die hatten sie alle überstanden. Fast zehn Jahre jetzt, das machte neun missglückte Versuche, ihn zu verlassen, jedes Jahr im Sommer, Frühsommer genauer gesagt, um exakt zu sein: in der zweiten Juniwoche, meistens an einem Freitag. Das war bequem, da konnten sie beide zu Freunden aufs Land fahren, zu verschiedenen, versteht sich. Es gab nur noch wenige Freundschaften, die sie nicht gemeinsam pflegten, doch besonders an diesen hielten sie fest. Ein wenig hatte das mit der Gegend zu tun, mehr noch aber lag es daran, dass diese Landfreundschaften in äußerst garstigen Beziehungen lebten, da draußen in der Provinz, mit zwei ebenso garstigen Kindern unter den Apfelbäumen im Garten. Es gab in einer Krise absolut nichts Besseres, als Freunde zu besuchen, denen es richtig mies ging.

Schon jetzt stellte sich bei Henning eine Vorfreude auf das zweite Juniwochenende ein. Dann sah er wieder auf den Fisch, das Filet, das Parfait, öffnete den Champagner, schenkte sich ein, trank das Glas leer und sagte leise: »Verdammt, Martha. Es ist März.«

Es war bereits dunkel, als sie in Krakau aus dem Zug stieg. Sie war über Warschau gekommen, war dort geblieben eine Nacht, Zimmer mit Häkeldecke und harten Frotteetüchern, in einer Pension auf der falschen Seite des Bahnhofs, hatte sich in den Straßen herumgetrieben, in jeder vierten Bar ein Glas Wasser getrunken, in den anderen Wodka auf Eis. Der folgende Schlaf war der beste seit Monaten, Einzelbett und Wolldecke, das Kissen steif wie der Nacken am Morgen. Kaffee schwarz, Brot trocken, für die Fahrt einen Apfelkuchen, den berühmten, und das Rauschen der Landschaft, langsam, ganz langsam. Sie konnte die sauber aufgehängten Unterhosen in den anliegenden Gärten zählen, saß allein in einem Abteil, alle anderen leer, dieser Zug fuhr nur für sie. Vor dem Fenster Felder, verfallene Höfe, Frauen in Kitteln, Bahnhöfe in Grau, Tauben, Taubendreck, Tauben tot, Zigarettenstummel halb geraucht auf Bahnsteigen liegend, jeder Kiosk geschlossen, jedes Licht gebrochen, Glasdächer gelb bis braun, von irgendwoher Romantik, vielleicht aus Richtung der Erwartungen. Tak, tak, tak hieß Ja und klopfte durch alle Orte hier, nur die Türen gingen nicht auf. Die Sprache ein zischender Teppich, rau, mit ungekämmten Fransen an den Enden. Martha schüttelte ihren Kopf und hörte nichts, da bewegte sich nichts, leer gefegt und aussortiert. Nur dafür reiste sie, an Orte, die ihr zunehmend gleichgültig wurden und sie sich gleich mit. Yoga wäre billiger, hatte Henning einmal zu ihr gesagt, der von ihren Reisen wenig verstand und von dieser rein gar nichts.

Am frühen Abend hatte er angerufen und Betty es nicht mehr hören können: Wenn die Kinder nicht wären, die Eigentumswohnung nicht gerade erst angezahlt, die Schwiegermutter nicht im Sterben liege, der Urlaub nicht längst gebucht und nächste Woche auch noch der Vierzigste seiner Frau, wenn sie nicht gerade den Kuchen gebacken hätten, den Fischfond angesetzt, den Braten eingelegt, wenn das Zeit-Abo nicht verlängert worden wäre und die Flatrate gebucht, dann könnte alles ganz anders und auch so richtig schön, dann könnten sie die ganze Welt, könnten so richtig glücklich sein, mit allem Drum und Dran, könnten es krachen lassen, da bliebe kein Auge trocken, ganz sicher nicht. Herr M. hatte geredet und geredet und Betty das Telefon durch das Fenster geworfen, hauchdünnes Glas, im Winter fuhr der Wind durch die Rahmen, alles porös, alles defekt, Altbau mit Charme hatte damals in der Anzeige gestanden.

Sie würde einen Glaser anrufen müssen, gleich morgen früh, diese ganze Affäre kam sie teuer zu stehen. Vor zwei Wochen erst hatte sie nach einem Telefonat mit ihm, in einem ungekannten Wutrausch, ihre Matratze zerschnitten, seitdem schlief sie auf der alten Isomatte, was in ihrem Alter sofort die Bandscheibe aufmerken ließ. Er hatte ihr nichts versprochen, da musste sie sich verhört haben, sie hörte ständig Sätze, die niemand sagte, von denen sie nur wollte, dass sie endlich einmal jemand meinte, und wäre es nach ihr gegangen, hätte das jetzt ruhig Herr M. sein können.

Tut alles gar nicht weh, dachte sie, ist den ganzen Kummer nicht wert, jenseits der dreißig hat es sich dann auch mal, hab eh nicht dran geglaubt, Projektion alles, alles nur in meinem Kopf, der einzig reale Schmerz saß in den Knien, mit vierzig gehen Sie am Stock, hatte der Ergotherapeut gesagt, und: Mir doch egal, hatte sie geantwortet, mit vierzig will ich sowieso nur noch sitzen. Gibt ja auch schicke Gehwagen heutzutage, kann man die Alditüten so hübsch dran baumeln lassen.

Es begann sie anzuöden, diese ewige Wiederholung, selbst die Namen wiederholten sich schon, Thomas, Christoph, Stefan, Tom, Christian, Thomas. Sie könnte den Kulturkreis wechseln, mal woanders scheitern, wäre vielleicht hübscher dort. Trotzdem wünschte sie sich nur selten, es wäre alles anders gekommen, quasi erste Liebe geheiratet, Kinder, Haus, Garten, Vollprofi in Sachen Schokoladenkuchen, Pflanzenzucht, Grillpartys, perfekt kontrolliertes Glück. Sie hatte sich nie festlegen wollen, hatte immer gedacht, alles würde besser, immer nur noch besser, höher, schneller, weiter eben, hatte ja auch alles gut angefangen, steile Karriere, wenn man so sagen will, die Jobs konnte sie sich aussuchen, die Gagen stiegen. Sie hatte nicht wissen können, dass der vielbeschworene Zenit erreicht war, dass es von nun an bergab gehen würde, das hatte keiner geglaubt. Und was sollte sie schon machen, außer immer weiter.

Martha knöpfte ihren Mantel zu, zog die Strümpfe hoch und ging los, über den Ring, durch das Stadttor...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Ausbruch • Bestseller • Beziehung • Familie • Flucht • Freunde • Freundschaft • Karriere • Kind • Krise • Roadnovel • Road Trip
ISBN-10 3-8437-3246-9 / 3843732469
ISBN-13 978-3-8437-3246-8 / 9783843732468
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