Die Träume sind kaputt (eBook)
404 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4053-3 (ISBN)
skye ist nichtbinär und chronisch krank. Meistens geht es em nicht gut genug, um sinnvolle oder spaßige Dinge zu tun, aber an guten Tagen geht el gerne auf Entdeckungsreisen durch den Quellcode von freier Software, macht irgendwas Kreatives oder fährt mit Rollstuhl oder Ebike durch die Gegend. Manchmal schreibt el auch Bücher! skye mag Sprache und benutzt sie, um Kunst zu machen, seit el einen Stift halten kann. Geschichten sind für skye eine Möglichkeit, der Realität zu entkommen, aber auch reale Missstände aufzuzeigen und alternative, vielleicht sogar bessere Ideen und Sichtweisen zu kommunizieren.
Die Krankheit
Otogo
Wenn man von IZ133 kommt, merkt man auf 211 als erstes: Das ganze Habitat ist grün. Auf 211 wird der Großteil der Sauerstoffproduktion von dekorativer Begrünung geleistet. Für die Förderung der Pflanzenpopulation stehen den Bewohnern verschiedene Angebote zur Verfügung.
Das heißt, dass echt absolut alles mit Pflanzen überwachsen ist. Hauswände, Dächer, Zäune, Spielplätze, alles ist komplett grün und hat Blätter. Verschnitt und Laub wird von der Habitatsverwaltung gesammelt und verwertet. Die Leute kriegen sogar Geld dafür. Das war auf 133 alles nicht so.
Als ich von zuhause losgegangen bin, hatten meine Pflegeeltern mir gesagt, dass ich auf 211 bestimmt nicht klarkomme, weil die Leute dort ganz anders sind.
Es ist ja eigentlich alles dasselbe Land, aber trotzdem ist es auf jedem Habitat ein bisschen unterschiedlich. Die Gesetze sind überall die gleichen, aber manche Sachen können die Habitate selbst bestimmen, zum Beispiel Unterrichtspläne und Sozialangebote. Jedes Habitat hat eine eigene Regierung und die Regierungen zusammen wählen die IZ-Regierung.
Ich fand den Unterschied nicht so krass. Manche Wörter sind ein bisschen anders, zum Beispiel hat Robb gelacht, als ich zum ersten Mal „fatzen“ sagte, weil er das Wort garnicht kannte, dabei ist er ein Reporter. Er wusste nicht, dass das einfach nur was essen heißt. Dafür wusste ich nicht, dass eine „Kolter“ einfach nur ein komisches Wort für eine Flauschdecke ist und ich hatte mich im Wohnheim erstmal blamiert, weil ich so einen Musiker nicht kannte, der auf 211 ganz berühmt war, weil auf 133 war der allen egal. Aber sonst ist es nicht sehr anders.
Die Leute auf 211 sind ein bisschen entspannter als auf 133 und man kriegt nicht ganz so schnell Stress mit irgendwelchen Fremden auf der Straße. Außerdem sind die Häuser viel schöner als auf 133. Es gibt mehr kleine Häuser und weniger riesen Wohnkomplexe. Überall sind lauter Parks und Gärten. Alles ist sauber und keiner schläft zwischen den Gebäuden in der Gasse.
Die Form vom Habitat ist trotzdem gleich wie 133. Die meisten Habitate in der IZ-Flotte sind genauso aufgebaut: Die Trommel ist ungefähr hundert Kilometer lang und hat zehn Kilometer Durchmesser. Weil sie so lang ist, sieht sie von außen mehr so aus wie ein Stäbchen als wie ein Zylinder und die Enden sind rund. Wenn man die hochgeht, wird die Schwerkraft immer weniger.
Und da oben, ungefähr bei 50 Prozent, hatte Robb seine Wohnung. Das ist so zwei Kilometer oberhalb von der Seitenwand. Es dauert über zehn Minuten, bis man mit dem Aufzug da hochkommt.
Robb hatte sogar einen Balkon. Von dem aus könnte man theoretisch das gesamte Habitat sehen, aber die Luft ist nie so klar, dass das geht und die beiden Hauptlichter sind eh zu hell.
Nur nachts sieht man die ganzen Lichter hinter den Fenstern und die Straßenlaternen, die extra für Fußgänger und Radfahrer angehen. Das sieht dann so aus, als würden kleine leuchtende Raupen die Trommel langkriechen.
Ich find es immer cool, eine Trommel so zu sehen. Da wirkt es weniger wie eine Decke über dem Kopf und mehr wie eine lange Röhre. Was es ja eigentlich auch ist.
Da oben war alles irgendwie weniger: weniger Licht, weniger Schwerkraft, weniger Luft, weniger Pflanzen, weniger Geschäfte, weniger Verkehr und weniger Leute.
Für die ersten Tage durfte ich einfach nur schlafen. Robb brachte mir sogar was zu essen und neue Klamotten. Ich kriegte das Sofa. Wenn man die Rückenkissen runterwarf, war es groß genug. Am Anfang vertraute ich ihm noch nicht, deswegen wollte ich ihm nicht erzählen, was mir passiert war, aber er war mir nicht böse deswegen. Als ich mich ein bisschen besser fühlte, weil ich mich erholt hatte, wollte ich abhauen, damit mich niemand finden kann. Ich wusste nicht, dass er mir wirklich helfen wollte.
Aber er erwischte mich zum Glück, als ich dabei war, mein Zeug in eine Einkaufstasche zu packen.
„Du brauchst keine Angst zu haben, dass sie dich holen,“ sagte er, „solang du bei mir bist, zählst du als Informantin. Wir haben Schutzgesetze für Whistleblower und ich kann ganz gut begründen, wieso du bei mir am besten aufgehoben bist.“ Bestimmt war es offensichtlich, wovor ich Angst hatte, weil er sagte danach noch so: „Du darfst hier kommen und gehen, wie du willst. Du bist hier keine Gefangene, sondern mein Gast, aber diese Wohnung ist im Moment wahrscheinlich der sicherste Ort für dich.“
Wir redeten noch ein bisschen und am Ende legte ich mich wieder schlafen, weil ich war super müde. Am Tag danach schenkte er mir einen großen Rucksack mit verschiedenen Sachen drin. Sogar ein Pass für zwei IZ-Stationshopser war dabei, auch wenn er mir das erst erklären musste. Ich wusste nämlich nicht, dass es die auch auf Chips gibt, damit man anonym reisen kann. Das geht aber nur innerhalb von IZ. Aus der Flotte raus kommt man damit nicht.
„Falls du es hier doch nicht mehr aushältst, bist du so zumindest gut ausgestattet“, erklärte Robb. Mich hatte noch nie vorher jemand so gut verstanden.
Tuniriam
Es hatte gerade neun Uhr morgens geschlagen, als ich mich auf den Weg zu Robb machte. Das Haus meiner Familie war im Kreuzviertel gelegen, einer ruhigeren Zone in der Osthälfte der Trommel zwischen dem heckseitigen Ideallichtgürtel und der Endkappe.
Das heckseitige Hauptlicht befand sich um diese Uhrzeit beinahe senkrecht über mir. Abends, wenn die gigantische Lampe am Zentrum angekommen war und sich zur Dämmerung abdunkelte, konnte ich gelegentlich, sofern der Dunst und die Wolken es zuließen, direkt bis Rubstadt schauen – zwölf Kilometer weiter Richtung Heck und außerdem ungefähr sieben Kilometer über meinem Kopf.
Ich wusste schon seit Langem, dass Robb in Rubstadt wohnte, lediglich seine genaue Adresse hatte er mir nie gegeben. Er sagte, er würde generell niemandem diese Information verraten. Ich hielt ihn für übervorsichtig, aber ich sah auch keinen Grund, ihm seine Eigenarten übel zu nehmen.
Ich kannte Robb als Journalisten bei einer lokalen Nachrichtenagentur. Mit einer guten Million fester Einwohner_innen war IZ211 gerade noch klein genug, dass man hin und wieder mit den örtlichen Reporter_innen zu tun haben konnte, wenn man zufällig an irgend etwas Interessantem beteiligt war, und mit seinem Rollstuhl und der tätowierten Glatze war Robb so prägnant, dass ich ihn bereits kannte, bevor wir jemals miteinander sprachen. Durch sein Aussehen sowie durch seine kontroversen politischen Positionen, machte er sich zu einem Außenseiter, der den Presseausweis wie einen Schutzschild vor der Brust trug.
Näher kennengelernt hatten wir uns im Rahmen meiner eher kurzlebigen Beteiligung im Arbeitskreis Unheilbar, wo diejenigen Behinderten, denen mit den verfügbaren medizinischen Mitteln nicht zu helfen war, sich zusammentaten, um für Akzeptanz und Rechte zu kämpfen, obwohl wir uns nicht in die Gesellschaft unserer Nation einfügen konnten. Ich war für selbst diesen Aktivismus schnell zu krank geworden, aber Robb hatte mich, anders als alle anderen Menschen aus meinem früheren Leben, nicht irgendwann einfach vergessen, sondern hatte sich unregelmäßig, aber beharrlich immer wieder bei mir gemeldet, und so war eine lockere, aber verlässliche Freundschaft daraus geworden.
Darüber dachte ich nach, als ich über große, graue Steinplatten, zwischen den Häusern entlang, zur zwei Kilometer entfernten Haltestelle rollte. So früh morgens war viel los: Die Fahrradspur rauschte nur so vor Verkehr und auf dem breiten Fußweg musste ich immer wieder anhalten und warten, bis die Fußgänger_innen mit ihren langsamen Beinen mir den Weg frei gemacht hatten. Links und rechts der Straße waren die Wohnhäuser allesamt mit grünem Blättergeflecht bedeckt. Hecken oder mit Kletterpflanzen überwachsene Zäune säumten großzügige Gärten, in denen üppig gepflegte Vegetation die täglich kürzer werdende Beleuchtungszeit dankbar auskostete. Bald müsste es Zeit für den Winter sein, doch nach vier Jahren im Bett, hatten Jahreszeiten genauso wenig Bedeutung mehr für mich wie Kalendertage.
Mein Rollstuhl brachte mich leise surrend in die voll besetzte Straßenbahn, in welcher die anderen Fahrgäste mir widerwillig murrend Platz machten und mir beim Vorbeigehen ihre Taschen ins Gesicht stießen.
Dennoch war ich dankbar, dass ich zumindest diesen Teil der Strecke mit der Bahn fahren konnte, denn für die zweite Etappe war das nicht der Fall. Die einzige Verbindung nach Rubstadt involvierte die Längsbahn, in die ich nicht einsteigen konnte. Da die Längsbahn im Niederdruckbereich fuhr, wurde sie durch eine Luftschleuse mit dem Bahnsteig verbunden – und diese hatte auf beiden Seiten eine Stufe und auf keiner eine Rampe. Einmal hatte ich eine eigene Rampe mitgenommen und dafür eine Verwarnung und ein Bußgeld kassiert, da die unbefugte Manipulation öffentlicher Verkehrsmittel verboten war. Dass ein Stück Aluminium auf dem...
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2024 |
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Reihe/Serie | Die Träume |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Behinderung • Cripple Punk • Neopronomen • Queer • Umgangssprache |
ISBN-10 | 3-7597-4053-7 / 3759740537 |
ISBN-13 | 978-3-7597-4053-3 / 9783759740533 |
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