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Und ich - (eBook)

20 Geschichten über Wendepunkte des Lebens | Mit Gabriele von Arnim, Zsuzsa Bánk, Marica Bodro?i?, Isabel Bogdan, Ann Cotten, Mareike Fallwickl, Julia Friese, Olga Grjasnowa, Claudia Hamm, Stefanie Jaksch, Rasha Khayat, Christine Koschmieder, ...
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2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3256-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und ich - -  Marica Bodrozic,  Mareike Fallwickl,  Judith Poznan,  Christine Koschmieder,  Stefanie Jaksch,  Ann Cotte
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Mit literarischen Beiträgen von Gabriele von Arnim, Zsuzsa Bánk, Marica Bodro?i?, Isabel Bogdan, Ann Cotten, Mareike Fallwickl, Julia Friese, Olga Grjasnowa, Claudia Hamm, Stefanie Jaksch, Rasha Khayat, Christine Koschmieder, Jarka Kubsova, Daria Kinga Majewski, Maria-Christina Piwowarski, Judith Poznan, Slata Roschal, Caca Savi?, Clara Schaksmeier und Simone Scharbert Unsere Leben verlaufen längst nicht so linear, wie Bücher sie oft erzählen. Spätestens in der Lebensmitte verlieren sich viele Menschen im Dickicht vergangener und zukünftiger Möglichkeiten, finden sich plötzlich in Sackgassen wieder, wo eigentlich Weggabelungen sein sollten. Insbesondere Frauen sehen sich mit gesellschaftlichen Hindernissen konfrontiert, wenn sie von vorgezeichneten Pfaden abweichen und einen Neuanfang wagen.   Die Anthologie Und ich - erzählt von Momenten des Innehaltens, in denen alles auf den Kopf gestellt wird, um am Ende wieder geradegerückt zu werden. 20 Autorinnen schildern darin ganz unterschiedliche Lebenswege, die früher oder später jedoch alle in einem Wendepunkt mündeten, in einer alles verändernden Entscheidung. 20 Texte, die inspirieren und ermutigen, aber auch verstören und aufrütteln. Und die zeigen, dass es nie zu spät ist, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben.  »Von geraden Straßen muss man irgendwann abbiegen, um glücklich dort anzukommen, wo man nicht hinwollte. Die Geschichten dieser wunderbaren Anthologie erzählen davon.« Gabriele von Arnim

Jarka Kubsova machte 1996 das Examen zur Krankenschwester, stieg vom System desillusioniert aber schon bald darauf aus dem Beruf wieder aus. Sie studierte in Hamburg Soziologie und Sozialökonomie. Nach einem Volontariat bei der Financial Times Deutschland war sie dort als Reporterin tätig, sowie später beim Stern und bei der ZEIT. Sie ist Ghostwriterin mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

Jarka Kubsova machte 1996 das Examen zur Krankenschwester, stieg vom System desillusioniert aber schon bald darauf aus dem Beruf wieder aus. Sie studierte in Hamburg Soziologie und Sozialökonomie. Nach einem Volontariat bei der Financial Times Deutschland war sie dort als Reporterin tätig, sowie später beim Stern und bei der ZEIT. Sie ist Ghostwriterin mehrerer erfolgreicher Sachbücher. Slata Roschal, geboren 1992 in Sankt Petersburg, promovierte an der LMU München in der Slawistik. Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern und das Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern. Bereits erschienen sind ihre Lyrikbände Wir verzichten auf das gelobte Land (Reinecke & Voß, 2019) und Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus (Hochroth Verlag, 2021). 153 Formen des Nichtseins, ihr Romandebüt, wurde 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

Marica Bodrožić
 – 
Die Grenze


Es ist Frühling. Für die anderen Menschen ist es Frühling. Ich bin auch da, aber ich bin in einer anderen Jahreszeit, nicht in diesem äußeren Frühling, ich bin in einem nur für mich stillgelegten Frühling, der mich zwar kennt und zu mir spricht, aber von der äußeren Jahreszeit trennt und zugleich mit ihr verbindet. – Wie noch nie. Der Winter war lang. Ich habe lange auf den Frühling gewartet. Er wohl auch auf mich. Jetzt ist er da. Und ich kann weder stehen noch gehen. Ich kann meinen Körper nicht bewegen. Ich kann nur liegen. Gerade kann ich nur liegen und denken, der Frühling ist da, und ich kann nicht mit meinen Füßen zu ihm hingehen und die Mitteilungen seiner Knospen lesen. Aber ich liege, immerhin kann ich liegen und zu den Knospen hinfühlen. Das ist das, was ich gerade kann. Ich kann liegen. Und ich kann fühlen. Ich bin zufrieden, dass ich liegen und fühlen kann. Ich bin ein liegender Empfindungsraum. Und ich bewege mich dabei nicht einen Millimeter, ich versuche, ganz still und leise zu sein, alles zu bemerken, was auch die winzigste Rührung meines Körpers nach sich zieht. Noch nie zuvor habe ich wie in diesem Moment verstanden, dass es wunderschön ist, Füße zu haben. Ich hatte immer meine Füße. Ich habe mir meine Füße oft angesehen und auch die Füße anderer Menschen. Irgendwie habe ich immer eine Beziehung zu Füßen und zu Zehen gehabt. Eine Liebesbeziehung, hundert Prozent. Deswegen fiel es mir auf, dass die indischen Weisen immer von den Füßen her verehrt werden, man legt ihnen aus Liebe für ihre Weisheit sogar Blumen auf die Füße. Aber ich wusste nicht, was ich jetzt weiß. Ich weiß jetzt etwas, was ich auch vorher hätte wissen können, aber ich habe es mir nie gesagt. Ich konnte immer mit meinen Füßen gehen. Jetzt kann ich nicht mit ihnen gehen, obwohl sie doch bestimmt noch da sind. Mein rechtes Bein spüre ich komischerweise gar nicht. An der Stelle, an der es eigentlich sein müsste, scheint mir ein Klotz untergelegt worden zu sein, vielleicht als Stütze. Sie haben mich aufgeklärt. Sie haben mir in die Augen gesehen und gesagt, es könne vorkommen, dass man irgendetwas am eigenen Körper nach dem Eingriff nicht mehr oder nie wieder spüre. Sie nannten es Eingriff, und ich sehe es auch so, sie haben mit ihren Händen in mich hineingegriffen, sie haben einen Eingriff gemacht, der mir geholfen hat, noch hier zu sein, in diesem Frühling, in diesem Jahr, das die Grenze meines Lebens ist. Ich bin deshalb noch da, und ich bin dennoch aus meiner Gattung herausgefallen. Ich spüre mein rechtes Bein nicht, ich sehe meine Füße nicht einmal, geschweige denn, dass ich mit ihnen gehen kann. Aber ich hoffe, dass meine Füße mich nicht vergessen haben, während ich hier liege und sie nicht sehen kann und mich daran erinnern muss, dass ich doch schon immer Füße hatte. Seit meiner Geburt, genau genommen. Vorher war ich ja kein Mensch. Aber jetzt bin ich ein Mensch. Meine Füße gehören zu meinem Menschsein. Oder etwa nicht? Ich kann nicht gehen und bin trotzdem noch ein Mensch, ich habe ein Wesen, ich fühle das, ich bin dieses Wesen. Ich liege hier in meinem Wesen-Sein und bin ein unermesslich großes Auge, das seine Verbündeten in allem Lebendigen sucht. Im Baum. Vor dem Fenster. Im Wind. Den ich nicht höre, aber ich sehe ihn im Wipfel der Rotbuche. In den Wolken. In all diesen Verschwisterungen meiner Iris. Zeitgleich bin ich ein kleiner Vogel, der auf einem großen Seziertisch lag. Der Vogel lag viele Stunden auf einem Seziertisch, einer Liege besser gesagt, aber es fühlt sich an, als hätte ich als Vogel einen ganzen Erdentag lang auf einem Seziertisch gelegen. Ich bin jetzt aufgewacht, von der anderen Seite des Lebens bin ich zurückgekommen, von der Grenze, die nicht das Ende ist, die sich aber zwischen Tag und Nacht befindet und ein Dazwischen ist für neue Ausleuchtungen. Ich bin wieder in meinem Körper gestrandet und habe viel über Türen nachgedacht, Türen, die zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt aufgestellt sind, und zwar nicht nur in Gedichten. Dunkle Stunden liegen hinter mir, abgeschirmtes Leben, die Rufe der rotorangen Innenzeit, Erdkern-Leuchten, denn von innen ist die Erde eine Orange. Ich bin jetzt wieder in meinem Körper, die Orange ist weit weg und zugleich in mir drin, tief versteckt in mir als mein Erdkern und der Mittelpunkt der farbigen Welt. Ich habe die Türen nicht vergessen. Ich bin ein Ich-Bin und ein Hier-Bin-Ich. Zeitgleich. Und dazu noch bin ich mein Körper, und ich bin nicht mein Körper.

Was genau bin ich? Vielleicht muss ich erst wieder ein Mensch werden, neu, Anfängerin meiner selbst, jemand, der ich schon die ganze Zeit unverwechselbar und in aller Eindeutigkeit bin, aber der genau das lernen muss. Ich weiß, was es heißt, »hier bin ich« zu sagen. Was aber ist das, was die ganze Zeit da ist und mich genau das wissen lässt, obwohl mein Körper im Schmerz gebannt und wie von mir abgewendet ist? Ich bin nicht der Schmerz, aber der Schmerz ist ein Tor. Ich fühle mich winzig, so klein wie ein allerkleinster Vogel, und zugleich habe ich ein erfrischend genaues Gefühl für meinen Körper, ein Bewusstsein für seine Anwesenheit, das neu für mich ist. Ohne meinen Körper in Gänze sehen zu können, fühle ich ihn, ich fühle, dass er groß und würdevoll ist und Platz in dieser Welt braucht und dass er selbst ein Raum im Raum ist, und obwohl er, scheinbar entmachtet, nichts über sich selbst sagen kann, kann etwas in mir etwas zu ihm sagen. Weil er aber da ist und zeitgleich nicht ganz da ist, spüre ich, dass er sich einbringt, dass er sich vollständig bemerkbar machen will und der Atem ihn ins Leben drängt. Ich atme ein, der Atem hält mich. Ich halte kurz den Atem an, er durchdringt mich. Ich atme aus, der Atem öffnet sich, und alles fängt wieder von vorne an. Der Atem ist die Verlängerung meines inneren Ichs. Er handelt in mir. Mein Körper, obwohl ich ihn gar nicht richtig sehen kann, weil ich mich nicht einmal aufstützen oder auch nur den Kopf bewegen kann, ist an diesen Atem angebunden, aus dem mein Ich jetzt zu mir innerlich spricht. Wohnt mein Ich in meinem Körper, oder ist es außerräumlich? Mein Genick tut weh, als hätte jemand einen brennenden gusseisernen Stern in ihn hineingelegt und mit ihm etwas an dieser Stelle meines Körpers geöffnet, das nun tief verletzt, tief verwundet ist. Und bis vor Kurzem wusste ich gar nicht, dass mein Genick mir überhaupt wehtun kann. Das Wort Genick war immer bloß das Wort Genick für mich, nie eine richtige Stelle an meinem echten Körper. Jetzt sind Wort und Körper eins. Und das Wort fasst mich als eine Lebensstelle an, die mit dem Tod verbunden ist, und ich erinnere mich gleich, ja, dass es Genickschüsse gibt, auch vom Genickfänger habe ich schon einmal gehört, das ist ein Jagd- und Wildmesser, das man im 18. Jahrhundert benutzt hat, um ein Tier durch einen Stich im Genick zu töten. Ich bin ein Tier in einer eigenen Brandung. Jemand hat mein Genick gefangen, ohne mich zu töten. Ich bin nicht tot, ich lebe. Dass ich lebe, weiß ich, denn das Genick sagt es mir, diese Stelle ist eine brennende Stelle an meinem Körper, sie ist die Stelle, die ich am deutlichsten spüre, und es denkt die Sehnsucht in mir an meine nahen Menschen. An ihre Hände. An ihre Augen. An ihre Füße. An ihre Wangen, an das Leuchten ihrer Wangen. So ohne die Menschen meines Lebens bin ich sehr allein. Und doch in einem alleinheitlichen Sinne mit allem verbunden. Jede Bewegung mit meinem Kopf, sei es auch nur ein Millimeter, ist eine Vermessung des Schmerzes, der mir erzählt, dass ich bisher überhaupt nicht gewusst habe, was Schmerz eigentlich ist und wie er sich anfühlt. Mein Körper berichtet mir alles ganz genau, er ist ein Briefträger in fein dosierten Blitzen, der sich an den starken Schmerzmitteln vorbei in mein Bewusstsein bugsiert und mir etwas zum Lesen übergibt.

Ich sehe, dass mein in sich selbst zurückgezogener Körper auf diese Weise redet. Der Schmerz ist gerade seine Sprache, die auch er neu lernt. Und sein Schmerz reicht mir seine neu erlernte Sprache, er zeigt mir seinen Sprachweg und macht diesen Umweg zu meiner Vollständigkeit, in der ich fühle, dass ich mehr als mein Körper und zeitgleich alles bin, was er nicht ist. Mein Kopf, der all die vielen Stunden, die dieser Tag für mich auf dem Seziertisch hatte, auf einem merkwürdigen Keil lag, ist eine Goldgrube der Bilder. Sie sprechen zu mir und nehmen mir alte Gewissheiten weg. In der Nacht bin ich umgeben von einem Lichtschiff, oben am Plafond entsteht es, wenn draußen auf dem Gelände ein Auto vorbeifährt und die Lampen vor dem Gebäude angemacht werden. Der Keil ist aus dem gleichen Material und ähnlich fest wie die Turnmatten, die ich aus meiner Grundschulzeit kenne. Ich habe ihn noch vor dem Einsetzen der Narkose gesehen, er war blau, ein nordseeblauer Keil, der unter meinen Kopf gelegt wurde, damit man mich sezieren konnte. Ich wurde auf diese Weise meine eigene Anatomiestunde, ein stilles Gemälde in einem Paralleluniversum, mit einem nordseeblauen Keil, aber nordseeblau wie die Nordsee im Winter ist, unter dem Kopf, gut gelagert auf einer schmalen...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anthologie • asal dardan • Belletristik für Frauen • Brüche • Caca Savic • Christine Koschmieder • Gabriele von Arnim • Gazelle Hase • Isabel Bogdan • Jarka Kubsova • Judith Poznan • Karen Köhler • Mareike Fallwickl • Marica Bodrozic • Nino Haratischwili • Olivia Wenzel • Ronya Othmann • Sasha Marianna Salzmann • Simone Scharbert • Stefanie Jaksch • Wegänderung • Zsuzsa Bank
ISBN-10 3-8437-3256-6 / 3843732566
ISBN-13 978-3-8437-3256-7 / 9783843732567
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