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Vilhelms Zimmer (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3653-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vilhelms Zimmer -  Tove Ditlevsen
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Tove Ditlevsens letzter Roman gilt neben der »Kopenhagen-Trilogie« als ihr literarisches Meisterwerk.

»Vilhelms Zimmer« ist Tove Ditlevsens literarisches Vermächtnis, der letzte Roman, den sie 1975 veröffentlichte. Er gilt neben der »Kopenhagen-Trilogie« als ihr Meisterwerk, wird als ihr kunstvollster und modernster Roman bezeichnet. Darin tauchen alle Themen auf, für die Ditlevsen steht: Sie erzählt die Geschichte einer Beziehung, die an Wildheit und Intensität kaum zu übertreffen ist, und vom hinreißenden Lebenswerk einer Frau und Künstlerin. 

»Die vielleicht spektakulärste Wiederentdeckung der letzten Jahre.« DER SPIEGEL.



Tove Ditlevsen, 1917-1976, gilt als eine der großen literarischen Stimmen Dänemarks und Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Die »Kopenhagen-Trilogie« ist ihr zentrales Werk, in dem sie das Porträt einer Frau schafft, die darauf besteht, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben. »Vilhelms Zimmer« ist Ditlevsens letzter Roman, den sie 1975 veröffentlichte, ein Jahr, bevor sie sich das Leben nahm. Im Aufbau Verlag sind von ihr ebenfalls »Gesichter« und »Böses Glück« lieferbar. Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u. a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsberg und Johan Harstad. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.

2


Frau Thomsen lebte davon, Zimmer an anständige junge Herren aus gutem Hause zu vermieten. Nach ihnen suchte sie jedenfalls in ihren Anzeigen. Ich möchte auch nicht ausschließen, dass in grauer Vorzeit einmal solche frischen, flaumigen Jünglinge irgendwo in ihrer riesigen und schmutzigen Wohnung existiert hatten, doch weil mir schon bei Frau Thomsens Anblick das Blut in den Adern gefriert, nehme ich an, sie waren schnell wieder verschwunden. Frau Thomsen verdächtigte ihre Untermieter sämtlicher unaufgeklärter Verbrechen und gönnte sich kaum Schlaf, weil sie fürchtete, den entscheidenden Beweis zu verpassen, sobald sie deren Kommen und Gehen nicht mehr unermüdlich ausspionierte. Wenn sie nicht freiwillig das Weite suchten, setzte sie ihre Mieter irgendwann vor die Tür. Und sofort waren wieder neue da, noch bevor sie die Bettwäsche wechseln konnte. Das erzählte sie ihnen jedenfalls mit ihrer heiseren, atemlosen Stimme, die ihren Gedanken hinterherhinkte wie bei einem Stotterer und sich zu einem monotonen Meckern beruhigte, wenn sie zu den munteren Beschreibungen des Lotterlebens ihrer ehemaligen Untermieter überging, die sich von einer armen, kranken alten Witwe, die ihre besten Tage hinter sich hatte, nur schwer zum Studium anhalten ließen. Nach und nach wurden die Zimmerherren immer weniger adrett und weniger jung, und das einzige Studium, dem sie sich widmeten, war das Zählen der Bettwanzenbisse, die sie sich im Laufe der Nacht zugezogen hatten.

Der alten Frau war es gleichgültig. Wenn sie sich beschwerten, kam sie ihnen zuvor und setzte sie vor die Tür. Oft vollzog sich der Rauswurf mithilfe der Polizei; sie machte die Beamten liebend gern auf all die unaufgeklärten Morde der letzten Zeit aufmerksam, die immer genau dann stattgefunden hatten, wenn es den verdächtigen Untermietern gelungen war, sich ihrer Aufsicht zu entziehen. Sie pflegte zu ergänzen, eines Tages werde man auch sie, Frau Thomsen, mit aufgeschlitzter Kehle in ihrem Bett finden. Ich bin nicht ganz abgeneigt, ihr recht zu geben, denn falls es solche Existenzen wie sie überhaupt gibt, hat Gott einen gewaltsamen und plötzlichen Tod für sie vorgesehen. Aber es interessiert mich nicht, ob es Frau Thomsen jemals gegeben hat. Sie ist ein Zipfel meines aufgelösten Bewusstseins, der nun auf der Welle von Wörtern davontreibt, sich an sie klammert und um Hilfe bittet, so wie auch ich meine Leser um Hilfe bitte, ja sogar darum, mich zu lieben, ganz unabhängig davon, in welchen Gestalten mein Gesicht, fließend und unbegreiflich wie eine Spiegelung im bewegten Wasser, hinter anderen Gesichtern auftauchen wird, die man viel lieber festhielte.

Wir wohnten unter Frau Thomsen. Da sie nur selten vor die Tür ging, war ich ihr im Laufe von zehn Jahren bloß drei oder vier Mal begegnet. Dann hatte sie immer schweigend dagestanden und mich nachdenklich angestarrt, als wollte sie mir an den Kragen und ärgerte sich, dass die Gelegenheit noch nicht gekommen war. Ihre Augen waren rotgeädert wie die eines Menschen, der niemals schläft, und ihre Hässlichkeit war derart vollkommen, dass sie mir eine Art schaudernden Respekt abverlangte; und gleichzeitig war ich nach unseren Begegnungen noch tagelang von ihrem kalten und gierigen Blick verstört. Sie hatte ihre Schlafkammer direkt über Vilhelms Zimmer, und ich spürte, wie ihre niederträchtigen, schmierigen Gedanken durch die Decke sickerten und sich unauflöslich mit meinen vermischten. Ich bin mir fast sicher, dass sie auch an jenem Tag im Treppenhaus lauerte und ihr knorpeliges, behaartes Ohr an unsere Wohnungstür presste, als Mille plötzlich im Wohnzimmer stand und sagte: »Das ist furchtbar! Er wird nie wieder zurückkommen – nach einundzwanzig Jahren!« Und die Arme ausbreitete und ihr Gesicht feucht wurde, als hätte jemand den Knopf einer versteckten Sprinkleranlage gedrückt, und ich fiel auf sie zu, um die Worte wieder in sie hineinzustopfen, zusammen mit all diesen dichtgedrängten Zähnen, die herausstürzen wollten, gefolgt von der restlichen Mille samt Skelett, bis nur noch ein kleiner feuchter Fleck übrig bliebe. Milles Sanftmut, ihr grässliches Unverständnis, ihre Durchtriebenheit! Und der Junge, der für einen Moment in die Höhe wuchs, so dass er durch die Augen seines Vaters blicken und dessen Stimme benutzen konnte: »Verschwinde augenblicklich! Du hast hier schon genug Leid verursacht.«

Die Alte war bestimmt zufrieden wieder zu sich hinaufgehumpelt. Sie hasste ausnahmslos alle Frauen, die jünger und schöner waren als sie selbst, also ungefähr den gesamten weiblichen Teil der Menschheit. Sie hasste den Mythos von der großen Liebe und sah ihre Zweifel an deren Existenz an diesem Schicksalstag bestätigt. – Und dennoch gab es den zarten Schatten einer solchen Liebe zwischen der hässlichen Vermieterin und dem vom Leben und sich selbst ruinierten jungen Mann, auf den sie eine morbide Anziehungskraft ausübte, selbst ihren schlechten Atem eingeschlossen.

Kurt, der nicht richtig lebte, hatte dennoch ein Leben. Wenn Frau Thomsen morgens sein Zimmer betrat, stellte er sich stets schlafend, doch sein Herz pochte heftig beim Gedanken daran, was bald passieren würde. Die Luft um ihn herum verdunkelte sich, und während die Alte sich hinkend näherte, ununterbrochen plappernd und mit ihren ewigen Zeitungen raschelnd, begann sein Körper zu glühen. Er berührte sich zärtlich unter der verklumpten Bettdecke des verstorbenen Herrn Thomsen, die so beißend nach Naphtalin stank, dass selbst eine halb verhungerte Bettwanze lieber tot umgefallen wäre, als sich ihr zu nähern. Die Vermieterin unterhielt ihn mit unglaublichen Geschichten über abscheuliche Lustmorde und grässliche Todeskämpfe, denen sie offenbar stets mit einer so kühlen, analytischen Klarheit beiwohnte, als wollte sie ihre Beobachtungen in einem wissenschaftlichen Werk festhalten. Hinter seinen zitternden Lidern sah Kurt, wie entzündete Gedärme auf Operationstische quollen, an denen betrunkene Ärzte standen und vergeblich versuchten, alles wieder hineinzustopfen. Und mit schreckensstarrer Ungeduld wartete er auf den Moment, in dem die Patientin mitten in der Betäubung aufwachte und einen letzten Schwall aus Blut und Schmerzensschreien von sich gab. Es gab zahlreiche Variationen dieser seltsamen oratorischen Entfaltung, die Frau Thomsen so lange wie möglich ausdehnte, bis sie zu sentimentalen Boulevardgeschichten von schönen jungen Frauen überging, die tapfer ihrem Krebstod ins Auge sahen, oder von einer unglücklichen Familie, deren brutal geschändetes und ermordetes Kind in einer nahe gelegenen Mülltonne gefunden wurde – in derselben Nacht, in der einer von Frau Thomsens Untermietern verschwunden war. Doch sie verpasste nie den richtigen Zeitpunkt. Wenn ihr Opfer zu keuchen begann und die Hände unter der Bettdecke auf einen brennenden Punkt konzentriert waren, ließ sie ihren schäbigen blauen Bademantel fallen und warf sich mit einer Leidenschaft auf Kurt, die von ihrer Verachtung für ihn nur umso mehr befeuert wurde. Und schließlich öffnete er seine verblüfften Puppenaugen, die fast überliefen vor Bewunderung darüber, welche Kraft in einem so ausgemergeltem Körper steckte. Anschließend schlief er sofort ein, und da er anderen Menschen gegenüber aufrichtig desinteressiert war, dachte er nie über das Leben nach, das seine sonderbare Liebhaberin führte, wenn sie sich außerhalb seines Blickfeldes befand. Es war ihm gleichgültig, und er wunderte sich auch nicht darüber, warum dieses vermeintliche Opfer so vieler misslungener Operationen noch keiner von ihnen erlegen war. Die einzige Erklärung, die ihm mitunter vorschwebte, galt auch für die übrige Welt: dass sie vielleicht nur in seiner eigenen Phantasie existierte. Das machte er sich allerdings nicht unbedingt bewusst, denn er verspürte keinerlei Drang zur Selbstanalyse. Irgendjemand hatte einmal Großes von Kurt erwartet, und tatsächlich hatte er auch eine ganze Reihe von undurchdringbaren Studiengängen begonnen, ehe man schließlich ganz damit aufhörte, etwas von ihm zu erwarten. Doch Frau Thomsen, die nie eine wertvolle Gelegenheit verstreichen ließ und überdies allen anderen Menschen ihre eigenen niederen Eigenschaften unterstellte, ärgerte sich schon lange darüber, dass dieser gesunde und brauchbare Körper auf ihre Kosten herumlungerte. Allerdings lässt sich auch die Möglichkeit nicht ganz ausschließen, dass sein Glück ihr am Herzen lag, vor allem, wenn es zu anderer Menschen Unglück führen konnte. Abgesehen von Reportagen über Morde und andere makabre Nachrichten studierte...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2024
Nachwort Ursel Allenstein
Übersetzer Ursel Allenstein
Sprache deutsch
Original-Titel Vilhelms værelse
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abhängigkeit • Annie Ernaux • Autofiktion • Buchschnitt • Care • farbiger Buchschnitt • Farbschnitt • Feminismus • Jugend • Kämpfe • Kindheit • Klassismus • Kopenhagen • Kopenhagen-Trilogie • Leben • Lebenswerk • Paar • Rachel Cusk • Roman • Schreiben • Selbstbestimmung • tove • Tove Ditlevsen • Unabhängigkeit • Vermächtnis • Wiederentdeckung
ISBN-10 3-8412-3653-7 / 3841236537
ISBN-13 978-3-8412-3653-1 / 9783841236531
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